Die Zeit war schnell vergangen, dachte Jorunn, während sie die letzten Vorbereitungen für das diesjährige Julfest beaufsichtigte. Mit einem knappen Hinweis wies sie eine der Mägde an, noch mehr Holz für das Feueropfer aufzuschichten. Dabei ließ sie die letzten Wochen an ihrem inneren Auge vorbeiziehen.
Dass der Drache, der sie in ihren düsteren Visionen heimsuchte, direkt vor ihrer aller Haustür lebte, hatte selbst sie überrascht. Arngrim also! Die Völva lachte bitter. Wer solche Nachbarn hatte, brauchte keine Feinde mehr.
Sie selbst war erst mit Lathgertha zusammengetroffen und hatte den Knecht aus Moseby gesprochen, bevor sie ein vertrauenswürdiges Ehepaar in ihrem Namen zu Arngrims Siedlung geschickt hatte, offiziell, um ein wenig des seltenen Mooses von der Eislandinsel einzutauschen. Die beiden waren klug zu Werke gegangen und konnten nach ihrer Rückkehr die Ehrlichkeit des Knechts bestätigen. Man rüstete für den Kampf gegen Harald, doch gleichzeitig sicherte man auch die Siedlung und bereitete die Pferde auf den Kampf vor. Da Arngrim die Tiere nicht gegen Haithabu einsetzen konnte, waren sie ein erster Hinweis für seine anderen Pläne. Ausschlaggebend jedoch waren die prahlerischen Worte eines führenden Kriegers, der, nachdem er dem Met gut zugesprochen hatte, mehr ausplauderte, als gut für ihn war. Nun wussten sie also, dass ihr bedrohlichster Feind nicht Harald war, sondern der nächste Nachbar im eigenen Land.
Nachdenklich strich Jorunn über ein Tongefäß mit getrockneten Fliegenpilzen, das sie mit zu dem Altar im Hain gebracht hatte. Sie würde Ragnar nur eine kleine Dosis der visionsfördernden Pilze erlauben. Das Fest stand unter einem blutverheißenden Stern. Da durfte sie kein Risiko mehr eingehen. Und ein Krieger in Trance war immer eine Gefahr für seine nächste Umgebung.
Jorunn sah sich um und versicherte sich, dass der Ritualplatz zu ihrer Zufriedenheit hergerichtet war. Lächelnd betrachtete sie das Werk vieler fleißiger Hände, die in den letzten Tagen aus dem stillen, heiligen Hain einen würdigen Opferplatz geschaffen hatten - so wie in jedem Jahr. Nur, dass dieses Mal neben ihrer eigenen Hütte aus Zweigen und trockenem Gras zwei weitere kleine Unterkünfte entstanden waren. In der Grassodenhütte zu ihrer Linken würde Ragnar sich mit einem zweitägigen Fasten auf die Hauptzeremonie vorbereiten. Heute war der Tag, an dem er seine Behausung vor den Augen der Siedlungsbewohner beziehen würde. Dasselbe erwartete Thorstein, dem die Hütte rechts neben Jorunns zugedacht war. Rúna würde mit der Völva gemeinsam die Fastentage verbringen und von ihr in den Ablauf der Rituale eingewiesen werden.
Jorunn war sich lange nicht sicher gewesen, wie viel sie der jungen Frau über die Leitung der Rituale und deren tiefere Bedeutung weitergeben durfte. Doch nach und nach wurde das Gefühl immer stärker und drängender, Rúna zu unterweisen. Und obwohl Jorunn nicht wusste, woher diese Empfindung kam, verließ sie sich auf ihre Intuition. Ihre seherischen Fähigkeiten hatten sie noch nie betrogen. Und diese rieten ihr, das Wissen ihrer langen Jahre nun weiterzureichen. Also hatte sie sich mit Thorstein und Rúna besprochen und der Krieger war sofort einverstanden gewesen, als sie ihn darum bat, seine Gefährtin ein wenig von ihren Pflichten zu entlasten. Er hatte eine ältere, freundliche Magd in seine Dienste genommen, die sich nun ebenso liebevoll um Solvig kümmerte wie das Paar und dabei auch ein paar alltägliche Aufgaben der Hausfrau übernahm.
Die Völva lächelte. Am heutigen Morgen waren in Straumfjorður alle Feuer gelöscht worden und die Kälte musste inzwischen in alle Häuser und Hütten Einzug gehalten haben, ebenso wie das alles durchdringende Halbdunkel der Winterzeit. Es waren die Tage, an denen die Menschen die Macht des Winters am deutlichsten zu spüren bekamen, da sie auf die Wärme ihrer Herdstätten und das Licht ihrer Öllampen einen Tag lang verzichteten. Nach einem letzten Umtrunk am Opferplatz käme zu Kälte und Dunkelheit bald auch noch der Hunger des zweitägigen Fastens. Da war es gut, dass das einzige Feuer im Ort, das Julfeuer, Wärme und Hoffnung versprach.
Jetzt gerade würde Rúna auf dem Marktplatz der Siedlung dieses heilige Julfeuer entzünden und damit ein für die Völva klares Zeichen setzen, an welchem Platz sie inzwischen stand. Noch am Morgen hatten sie sich gegenseitig auf das Ritual vorbereitet und Jorunn hatte ihr persönlich die Rabenfedern ins Haar geflochten und ihr die magische Kette aus Hirschhufen und Wildschweinhauern umgelegt - Schmuckstücke, die auf ihre enge Verbindung zu Odin hinwiesen. Die mit Kohle dunkel geschminkten Augen der jungen Frau hatten sich groß und ernst von ihrem blassen Gesicht abgehoben, als Jorunn ihr am Ende der Vorbereitung das dickwandige Tongefäß mit den Räucherkräutern für die Zeremonie übergeben hatte.
Jorunn ließ ihren Blick in Richtung Küste wandern und tatsächlich - ein feiner Streifen hellen Rauches bewies, dass Rúna das Fest eröffnet hatte. Die Völva stellte sich die gespannten, lachenden Gesichter der Menschen vor, die erwartungsvoll auf die mehrtägige Feier hingearbeitet hatten. Sie spürte den festen Glauben ihrer Leute, für die die Zeit der Wintersonnenwende der Moment war, den Göttern für das hinter ihnen liegende Jahr zu danken und sie mit Opfern milde und gütig für die nächsten Jahreszeiten zu stimmen. Odin selbst würden sie anrufen und ihm den besten Eber aus Ragnars Bestand opfern. Thors Segen würden sie erbitten, ebenso wie jenen des Baldr und allen Göttern, die mit ihm waren.
Doch auch die Göttinnen unter den Ewigen würden nicht vergessen werden. Ein Korb mit den letzten Eiern stand für Frigg bereit und schöne Garben waren zusammen mit glänzenden Äpfeln, Nüssen und Honig für Hel vor dem Altar aufgebaut, um dem Feuer übergeben zu werden. Alles war in bester Ordnung - so, wie es sich die Asen von jeher wünschten.
Jorunn seufzte. Das größte Opfer, das Blut Ragnars, würde erst in zwei Tagen fließen. Sie wusste, dass Thorstein nichts tun würde, was den Jarl in Gefahr brachte. Und sie zweifelte nicht an dem Krieger. Dennoch war da ein Gefühl des Unwohlseins, wenn sie an Ragnar dachte. Würde er aus dem Opfer tatsächlich gestärkt und mit mehr Weisheit hervorgehen oder würde er den Sinn des Ganzen schnell vergessen, sobald seine Wunden sich geschlossen hatten? Jorunn wusste es nicht. Doch immer, wenn sie den Jarl in ihren Visionen zu beobachten suchte, erhob sich hinter dem Mann ein dunkler Schatten - ein Schatten, den sie mit ihrem inneren Auge nicht durchdringen konnte. Und sie wusste nicht, lag das Übel im Wesen von Ragnar selber oder war es eine Bedrohung, die sich ihr auf diese Weise offenbaren wollte?
Leise drangen die ersten Rufe der wandernden Menschen an ihr Ohr. Noch hatte sie Zeit, sich auf die Ankunft der Siedlungsbewohner vorzubereiten. Noch konnte sie eine Weile warten, bevor sie das Zeichen zum Entzünden der Feuer und der Talgfackeln gab, die das Halbdunkel des nordischen Winters erwärmen und erhellen würden. Ein letztes Mal ging Jorunn in Gedanken jene Geschichte durch, die sie Jahr für Jahr zu Beginn des Julfestes vor der immer wieder ehrfürchtig lauschenden Gruppe von fröstelnden Menschen vortrug, bevor man den ersten warmen Met ausschenkte und auf das Wohl der Ewigen trank.
Zwei Elstern begannen aufgeregt zu schnattern, als die Gruppe dick vermummter Menschen näher kam. Ein Knacken im Unterholz verriet, dass sich ein letztes Wildtier eilig vor dem drohenden Lärm davonmachte. Mit einem Nicken gab Jorunn ihren Helferinnen das Zeichen zum Entzünden der Feuer. Dann ging sie mit gemessenen Schritten der Gruppe entgegen, für deren Wohlergehen die Julfeuer nun brannten. Auf dem verschneiten Weg kamen die knirschenden Schritte schnell näher und bald hatte die Gruppe den letzten Hügel überwunden. Im dämmrigen Licht des Winternachmittags kam ihr eine strahlende Rúna mit roten Wangen an der Spitze der Gruppe entgegen. Viele winzige Schneekristalle auf dem Überwurf aus dichtem Hasenfell schimmerten mit ihren Augen um die Wette, in denen sich das Licht des Räucherfeuers in ihren Händen widerspiegelte.
Zufrieden blieb Jorunn stehen und sah zu, wie die Gruppe näherkam. Dicht hinter der strahlenden Rúna, ein wenig rechts von ihr ging Thorstein, der ein kleines Lächeln nicht verbergen konnte, während er seiner glücklichen Gefährtin folgte. Neben ihm schritt Ragnar, auch er würdig und entschlossen, doch mit einem sehr ernsten Blick.
Die Völva war zufrieden. Das waren genau die Empfindungen, die sie auf den Gesichtern der für sie so wichtigen Menschen heute sehen wollte.
Als Rúna sie schließlich erreichte und ihr kniend das dampfende, duftende Räuchergefäß übergab, schenkte sie der jungen Frau ein gütiges Lächeln und reichte ihr die Hand, damit sie sich bequem erheben konnte. Gemeinsam gingen die beiden weisen Frauen die letzten Schritte bis zum Versammlungsplatz und vereinten dann die Glut der Räucherkräuter mit den Flammen des Julfeuers. Als der Duft nach Beifuß, Kiefernholz und Wachholder in die Luft stieg, überkam Jorunn eine tiefe Ruhe. Die Zeit war gekommen, das Julfest zu begehen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass, was auch immer das neue Jahr bringen sollte, sich am Ende alles zum Guten wenden würde.