Ragnar erwachte von einem unbekannten Duft, der seine Nase überraschte und von einem brennenden, nörgelnden Schmerz seiner Brust. Die Haut dort brannte und schien im Rhythmus seines Herzens zu pulsieren. Nur mit Mühe gelang es dem verwirrten Jarl, ins Hier und Jetzt zu finden.
Er war über die Nordlande geflogen – wenn auch nur in seiner Vision - hatte einen Drachen gesehen und dann, ja dann hatte Thorstein das Opfer an ihm vollendet. Der Blick des zornigen Steuermannes kam ihm wieder in den Sinn, der Hass in den Augen seines ehemaligen Freundes. Ragnar hatte zu sehen geglaubt, was der Krieger mit ihm tun würde. Und auf eine seltsame, geheimnisvolle Art war er einverstanden gewesen, dass es Thorstein war, ihn in die Anderwelt schickte.
Doch der letzte, erlösende Schlag hatte ihn offensichtlich nicht umgebracht. Warum sonst brannte sein Brustkorb auf so bekannte, unverwechselbare Weise? Der Jarl schlug nun doch die Augen auf und fand sich im Halbdämmer einer ihm gut bekannten Hütte wieder - Jorunns Grubenhaus! Direkt über seinem Lager hing eine Vielzahl von Kräuterbündeln, die jenen Duft verströmten, der ihn geweckt hatte. Feiner Rauch zog an inneren Dachfirst entlang, bis er den Weg durch die dafür vorgesehene Öffnung im Giebel nahm. Der harzige Geruch verriet das Kiefernfeuer.
Ragnar aber nahm seine Umgebung nur flüchtig wahr. Viel mehr drängte sich ihm die Frage auf, was geschehen war. Hatte sich Thorstein doch anders entschlossen, sich besonnen? War der Steuermann wirklich so viel stärker als er, dass er seinen unbändigen Hass bezwungen hatte? Der Jarl wusste, wäre er anstelle des Freundes gewesen, er hätte seine Rache bekommen, hätte dem Schänder seiner Gefährtin den Kopf von den Schultern getrennt, wenn nicht gar Schlimmeres …
Mit einem unkontrollierten Schauer erinnerte er sich an ein Opfer, das der alte Göttrik vor seinem Tod im Hain von Uppsala gebracht hatte: In Bornhöved war ihm eine kleine Gruppe unerschrockener Franken entgegengetreten, die einigen von Göttriks Männern das Leben abverlangt hatten. Der Anführer dieser Gruppe entkam allerdings den Mannen des Königs nicht und sie schleppten ihn lebend vor ihren Gebieter. Göttrik aber, und Ragnar kannte ihn schon vorher als unnachgiebigen Feind, ließ den Gefangenen nach Gamla-Uppsala schaffen, wo er ihn eigenhändig auf den Odinsstein band und ihm den Blutadler in den Rücken schnitt. Als der so Gepeinigte bewusstlos zu werden drohte, hatten die Mannen des Königs mit reichlich Salzwasser dieser Erlösung vorgebeugt. Noch viele quälende Atemzüge lang hatte der so Gefolterte gelebt und seine Qual herausgeschrien[1].
Er aber, Ragnar, lag nun hier auf einem bequemen Lager und außer einem, zugegeben, heftigen Brennen seiner Brust fühlte er keine Schmerzen. Vorsichtig begann der Krieger, sich zu bewegen und sah schließlich an seinem Oberkörper herab. Ein sauberes Leinentuch war über seiner Brust ausgebreitet und darunter ließen sich Jorunns Kräuterauflagen erahnen. Kein Tröpfchen Blut hatte das weiße Stück Stoff durchdrungen.
Der Jarl schaffte es, seinen Arm zu heben und ließ seine Hand zu einem Zipfel der lose aufgelegten Kompresse gleiten. Zögernd hob er sie ein wenig an. Die Wunde war von einer dicken Kräutermischung bedeckt, die verhinderte, dass er sich einen Eindruck vom Ausmaß der Verletzung machen konnte. Dennoch! Seine Arme konnte er problemlos bewegen. War ihm wirklich nicht mehr passiert?
Ein belustigtes Räuspern riss ihn aus seinen Überlegungen.
"Es ist nicht mehr als eine Fleischwunde", bestätigte die Völva seinen Verdacht. "Thorstein hat wirklich mehr Herz als es für einen Krieger gut ist", ließ sie ihn wissen. "Und er verfügt über eine enorme Selbstkontrolle auch in einer für ihn so belastenden Situation."
Die Heilerin kam näher und breitete das von Ragnar verschobene Tuch wieder ordentlich über dessen Brust. Still trat sie dann einen Schritt zurück und wollte sich erneut an ihre Arbeit zurückkehren.
Doch der Jarl war mit den wenigen Worten nicht zufrieden. "Er wollte mich töten!", widersprach er. "Ich habe es in seinen Augen gesehen." Die Erinnerung daran trieb ihm erneut einen Schauer über den Rücken.
Die Völva blieb mit dem Rücken zu ihm gewandt stehen. Eine Zeitlang schwieg sie und der Jarl unterbrach sie nicht in ihren Gedanken oder Erinnerungen.
"So war es wohl", stimmte Jorunn ihm schließlich zu. "Und doch war sein Verstand letztlich stärker als sein Hass auf dich." Sie seufzte und wandte sich ihm dann doch wieder zu. "Auch ich war mir sicher, dass alle unsere Verabredungen nichts bewirkt hatten, als ich Thorstein das Schwert heben sah. All seine Hilflosigkeit, all sein Zorn lagen in dieser Bewegung. Und ich wusste, ich konnte es ihm nicht einmal verübeln …" Wieder legte die Heilerin eine Pause ein und Ragnar richtete sich leicht auf, indem er sich auf seine Unterarme stützte.
"Was aber war es dann, das ihn aufgehalten hat?", forschte er ungläubig nach. Er sah, wie Jorunn trocken schluckte und machte sich auf das Schlimmste gefasst. War er in Thorsteins Augen eine so nichtige, wertlose Made, dass es sich für den Krieger nicht gelohnt hatte, diese zu zerquetschen?
Ragnar sah, wie Jorunn tief Luft holte. Die Antwort musste ihr schwer fallen. Und letztlich war es auch nur ein Wort, dass sie ihm zunächst hinwarf: "Björn!"
Als dann der Jarl die Stirn runzelte, ließ sie sich dazu herab, ein wenig ausführlicher zu berichten. "Ich weiß auch nicht, wie dieser Mann so viele Gedanken im Bruchteil eines Augenblicks haben konnte", gab sie zu. "Thorstein aber sah plötzlich das Gesicht deines Sohnes vor sich. Und er wusste, dass er es nicht über sich bringen würde, diesem Kind zu sagen, dass sein Vater tot ist." Die Völva lachte leise. "Nicht, nachdem Rúna und er den Göttern ihren Wunsch nach einem eigenen Sohn oder einer Tochter geschickt hatten. Und er wusste auch, dass er Rúna nicht in die Augen sehen könnte, wenn er sich erneut derartig von seinem Zorn leiten ließ."
Die Alte fuhr sich gerührt über die Augen. Offenbar bedeutete ihr das Paar inzwischen wirklich viel. "Es kann kaum ein Augenzwinkern gewesen sein", ließ sie Ragnar dann noch wissen. "Aber im letzten Moment zog Thorstein seine Klinge um eine Handbreit zurück. Sie durchschnitt dir zwar einen Teil deines Brustmuskels aber hat keinen, aber auch gar keinen Schaden hinterlassen, der mehr als eine Narbe bedeutete."
Noch einmal seufzte die Heilerin, dann schloss sie ihre Rede ab. "Du wirst hier drei oder vier Tage streng liegenbleiben, damit die Blutung auch wirklich nicht erneut beginnt. Danach kannst du tun und lassen, wonach auch immer dir ist."
[1] Mehr zum Blutadlerritual s. Hintergrundbuch oder FB. Meine hier gewählte Methode ist nicht das Herausreißend er Lungen - den Grund dafür habe ich beschrieben - sondern das Hochklappen der Schulterblätter.