Gerade habe ich die heutige Kapitelüberschrift noch mal gelesen. Klingt sie nicht ganz nach einem alten Grimm´schen Märchen - "Rotkäppchen und der Wolf"? Ob aber nun das harmlose Rotkäppchen am Ende gewinnt oder doch vom bösen Wolf gefressen wird...? Wer weiß das schon?!
Euch, meine lieben Leserinnen, droht im nächsten Kapitel gar nichts. Ich hoffe allerdings, dass ihr weiterhin viel Lesespaß habt!
Eure Sophie
Gertha hatte die Nacht mit Ragnar genossen und sie war froh, wieder zuhause und bei ihren Freunden zu sein. Dennoch war die Schildmaid nicht so gutgläubig anzunehmen, dass sich während ihrer Abwesenheit nicht die eine oder andere Nachlässigkeit bei der Führung ihres Anwesens eingeschlichen hatte. Und auch wenn sie den Grund dafür zunächst nicht genau hätte benennen können, fielen ihr in den kommenden Tagen ein paar seltsame Verhaltensweisen bei ihren Sklavinnen auf.
Sædís, ein junges Mädchen mit langen, nussbraunen Haaren, das Ragnar geschenkt bekommen hatte, als die Kleine noch ein Kind gewesen war, hielt sich schutzsuchend fast immer unauffällig in ihrer Nähe auf. Ihr Gesicht erschien Lathgertha ernster, als sie es kannte, und sie war sehr schmal geworden - eine Tatsache, die nicht nur den kargen Mahlzeiten des Winters geschuldet sein konnte. Die Schildmaid gab den vermeindlichen Wünschen der jungen Frau nach und beauftragte sie mit Tätigkeiten, die sie in ihrer Nähe beschäftigten. Bald schon würde sie sich an den Webstuhl setzen und Tuch für die neuen Mäntel für Ragnar und Björn weben. Dabei konnte sie Sædís, die dann spinnen würde, bestimmt ein wenig ausfragen. Und sie würde der jungen Frau dabei ein wenig zusätzliches Brot zukommen lassen, etwas, das sich eine gute Spinnerin durchaus verdienen konnte. Um Sædís machte sich Gertha allerdings nur geringe Sorgen.
Viel mehr beschäftigte sie das Verhalten einer anderen jungen Sklavin - Læva nämlich strich auffällig um ihren Gefährten herum. Wenn sie sich unbeobachtet fühlte, kam sie nahe an den Jarl heran, wackelte dabei mehr als anzüglich mit den Hüften und hielt ihm ihre vollen Brüste unter die Nase. Dass Ragnar für derartige Spielchen nicht unempfindlich war, wusste Lathgertha. Doch derzeit, so sah sie es zumindest, stand es dem Jarl nicht zu, sie erneut zu betrügen - und sei es auch nur mit einem so niederen Weib wie Læva.
Also hatte sie ein Auge auf das Geschehen, bereit einzuschreiten, falls die kleine liebestolle Sklavin mit ihren Lockungen zu weit ging. Und sie versuchte, diesem nichtsnutzigen brünstigen Weib auf ihre Weise zu zeigen, wer die Herrin im Haus war. Hatte sich Læva bisher eher um die Arbeiten rund um das Essen der Familie gekümmert und die Schildhalle sauber gehalten, so schickte sie Lathgertha nun in die Schweineställe, um dort den Mist wegzuputzen und ließ sie die Pferde striegeln - gewiss Arbeiten, um die sich die auf ihre Schönheit versessene Sklavin bestimmt nicht riss.
Doch Ragnars Gefährtin wollte ihr auf diese Weise und ohne sie anderweitig bestrafen zu müssen, ihre Grenzen aufzeigen. Wenn Læva sie verstand und lernte, ihre Herrin wieder respektvoll zu behandeln und ihr vor allem nicht länger den Mann abspenstig machen wollte, stand einer Rückkehr der guten Köchin ins Haus nichts im Wege.
Doch Læva sah den geheimen Wink der Schildmaid nicht. Im Gegenteil fühlte sie sich ungerecht behandelt und herabgesetzt. Sie, die doch das Privileg hatte, bei dem Jarl persönlich liegen zu dürfen, hatte nichts im Schweinestall zu suchen! Und als sich die Gelegenheit bot, beschwerte sie sich bei ihrem Liebhaber über Lathgerthas Verhalten.
Die Rückkehr der Schildmaid lag erst fünf Tage zurück, als Gertha sich am frühen Morgen zum Brunnen aufmachte. Am Vortag war ihr ein leicht öliger Geschmack im Wasser aufgefallen und sie wollte sichergehen, dass sie sich geirrt und mit dem Brunnen hinter ihrem Haus alles in Ordnung war. Schnell konnte sich ein Vogel oder ein anderes kleines Tier in den tiefen Schacht verirren, wenn die Holzdeckel über der Brunnenöffnung einmal nicht sorgfältig geschlossen wurden. Verendete das Tier dann , konnte es große Mengen Wasser verderben, wenn es langsam verweste.
Gertha wollte das frisch hochgeholte Wasser kosten und sich versichern, dass es sauber und klar war. Doch so weit kam es an diesem Morgen erst einmal nicht.
Dick in ein wollenes Umschlagtuch gewickelt, das nur Kopf und Hände freiließ, trat die Schildmaid aus dem Haus, ihre Pläne für den Tag noch einmal in Gedanken festlegend. Dabei entging ihr zunächst, dass sie nicht allein auf dem Hinterhof war. Dann aber, als sie Ragnar und Læva dicht beieinander am Brunnen stehend erkannte, hielt sie inne. Dass eine Sklavin hoch aufgerichtet und fordernd vor den Jarl trat und offenbar entschlossen auf diesen einredete , war für Gertha vollkommen überraschend. Dass es sich ausgerechnet um Læva handelte, machte das Ganze nicht besser.
"Wie kannst du zusehen, dass sie mich zu den stinkenden Schweinen schickt?", warf Læva dem Jarl gerade vor. "Jetzt, wo ich vielleicht in Kind von dir in mir trage, habe ich da nicht etwas Besseres verdient?"
Gertha schluckte. Das war es also! Eigentlich hatte sie ja schon geahnt, dass sich die Sklavin nicht ohne Grund beinahe wie eine Freie verhielt. Dass der Jarl ihr beigelegen hatte, konnte sie dem über Wochen einsamen Mann auch kaum verübeln, selbst, wenn sie davon enttäuscht und gekränkt war. Wenn Ragnar zu seinen Raubzügen auszog, tat er nichts anderes. Dennoch tat es Gertha weh, nun auch hier in der Siedlung eine Konkurrentin um ihren geliebten Mann vor sich zu wissen.
Als Ragnar zu einer Antwort ansetzte, befürchtete sie das Schlimmste.
"Noch weiß niemand außer den Göttern, ob du überhaupt empfangen hast", ließ der Jarl seine Sklavin spöttisch wissen. "Und selbst wenn es so ist, vergiss besser nicht, wer du bist und wer ich bin!"
Gertha sah, wie Læva ungläubig Luft holte. Doch Ragnar ließ sich nicht erpressen. Das erfuhr die junge Frau nun in bitterer Deutlichkeit.
"Du wirst tun, was auch immer dir Gertha aufträgt", wies er an. "Und wenn du dein restliches Leben lang Schweine ausmistest - mir ist das egal! Dass du einen schönen Körper hast und ein weiches, enges Loch, das für einen Mann verlockend ist, schützt dich nicht davor, nach Haithabu zu kommen, wenn du zu weit gehst. Gib dir Mühe, Gertha nicht zu enttäuschen! Nur dann hast du ein gutes Auskommen bei mir. Wenn ich noch einmal Klagen von dir über meine Gefährtin höre, und seien sie auch noch so gering, wirst du dir wünschen, sie nie ausgesprochen zu haben. Dann wartet die Peitsche auf dich, glaub mir!"
Gertha sah, wie der jungen Frau die Tränen in die Augen traten. Gleichzeitig war sie ein wenig stolz, dass sich Ragnar so deutlich für sie aussprach und ihren Stand unterstrich. Sie war seine Gefährtin, und keine dahergelaufene Sklavin würde das ändern!
Læva holte tief Lust und setzte zu einer Erwiderung an. Doch weiter als bis zu einem "Aber …" kam die Sklavin nicht. Dann hallte der Schlag einer festen Ohrfeige über den Hof.
"Kein Wort mehr!", fuhr sie der Jarl zornig an. "Du musst lernen, wo dein Platz ist. Nur, wenn du tatsächlich ein gesundes Kind von mir gebierst, hast du ein Recht, deine Stellung hier infrage zu stellen. Und nun mach endlich, dass du zu deinen Schweinen kommst. Der Platz auf meinem Lager gehört jetzt Lathgertha. Deine Zeit dort ist vorbei."
Als die Sklavin weinend davonlief, rief sich auch Lathgertha wieder zur Ordnung. Leise trat sie in den Schatten des Hauses zurück, damit sie der Jarl nicht doch noch entdeckte. Stirnrunzelnd dachte sie über das Gehörte nach. Wenn Læva tatsächlich von Ragnar empfangen hatte …
Die Sklavin schien sich darin ziemlich sicher zu sein und Gertha wusste aus eigener Erfahrung, dass Frauen manchmal schon sehr frühzeitig die Auswirkungen zu spüren bekamen, wenn sie ein Kind in sich trugen. Wenn also Læva …
Ein Kind, noch dazu, wenn es ein Junge würde, konnte Ragnar auf ganz abwegige Gedanken bringen. Gertha sah sie bereits vor sich - Læva, die an Ragnars Seite zu dessen Nebenfrau ausstieg und ihm viele Kinder gebar. Kinder, die sie, Lathgertha, dem Jarl bisher nicht schenken konnte. Doch würde sie ihren Gefährten mit dieser berechnenden Metze teilen können? Gertha wusste genau, dass dem nicht so war. Schon der Gedanke daran, dass eine andere Frau Ragnar zärtlich oder leidenschaftlich berührte, jagte der Schildmaid eine Gänsehaut über den Rücken. Nein! Ragnar gehörte nur ihr!
Mit einem Mal sah sie deutlich vor sich, was sie zu tun hatte. Læva würde nicht auf dem Lager des Jarls enden, nicht sie!
Brunnen und Wasser waren vergessen, als sich Lathgertha auf den Weg zur Völva machte. Jorunn würde wissen, was zu tun war, um die Geburt dieses Sklavenkindes zu verhindern.