Jorunn band ein Sträußchen Baldrsbrā zusammen. Sie saß vor ihrem Grubenhaus und grübelte über Vergangenes und Kommendes. Rúnas junger Pflegling war den Wölfen zum Opfer gefallen. Ragnar – so hatten sie von den Rückkehrern erfahren, die vor drei Tagen in Straumfjorður eingetroffen waren – lag schwer verletzt in Heiðabýr und niemand wusste, ob er leben oder sterben würde. Lathgertha hatte sich mit zwei ihr vertrauten Schildmaiden zum Beten und Nachdenken in die Hügel zurückgezogen und die Einwohner des Dorfes lebten still und wie erstarrt in Erwartung des Kommenden.
Würde Ragnar zurückkehren oder trug das nächste Schiff schon die Todesnachricht mit sich in den Fjord?
Zögernd legte die alte Seherin das Bündel Heilkräuter neben sich auf die Holzbank und erhob sich mühsam. Ihre innere Unruhe ließ es nicht zu, dass sie konzentriert an der Vermehrung ihrer Vorräte arbeitete. Sie stellte das Körbchen mit den gesammelten Stängeln beiseite und beschloss, ans Meer zu gehen. Das immerwährende Spiel der Wellen konnte ihr vielleicht helfen, sich zu sammeln und zur Ruhe zu kommen. Sie musste über die möglichen Wege der Zukunft nachdenken.
Jorunn war sich sicher, dass der Tod Hademunds die Zukunft verändert hatte. Doch um ihren Blick zu schärfen, musste sie zu einem bewährten Hilfsmittel greifen. Bevor sie sich ihrer Meditation zuwandte, versah sie ihre Rocktasche mit einer halben Handvoll getrockneter Spitzköpfe . Dann machte sie sich auf den Weg. Der schmale Pfad war von vielen Füßen ausgetreten und führte die Seherin zuverlässig an den Strand. Hier fand sie einen Platz in den Dünen und begann auf ihren getrockneten Pilzen zu kauen und die Wellen zu beobachten. Bald zeigte der Spitzkopf seine Wirkung. Die Farben um Jorunn herum erschienen ihr bunter, das Meer lebhafter. Konzentriert zog sie eine Hand vor die Lippen und schickte ein stilles Gebet zu Forseti, dem Gott des Rechts und der Gesetze. Er schien ihr der richtige Ansprechpartner, wenn sie versuchte, sich in die Zukunft hineinzuversetzen. Die Seherin richtete ihren Blick auf die endlosen Bewegungen des Meeres. Das Heranstreben der Wellen, das Brechen, das Anlanden an den Strand. Eine Kraft, die alles verändern konnte, die vollkommen unberechenbar blieb, egal wie lang der Mensch sie auch beobachtete und erforschte. Das Wasser in seiner Vielfalt war eine Gewalt, die sich selbst einer Wissenden nie ganz erschloss.
So verhielt es sich auch mit der Zukunft. Doch Jorunn wollte auch nicht die Ganzheit der kommenden Zeit erforschen. Sie wollte mögliche Wege überdenken und deren Wahrscheinlichkeit. Wenn Forseti ihr einen Blick in die Zukunft gewährte, konnte sie vielleicht ausmachen, was auf die Bewohner Straumfjorðurs zukam. Wenn die Götter schwiegen, blieben auch ihr nur Vermutungen.
Eine große Welle nahte dem Strand. Jorunn sah dank des Pfeilpilzes deutlich, wie sich das Wasser aus dem Meer erhob. Weiß glänzte die Gischt, als das Wasser auf einen Felsen vor dem Strand aufschlug. Die Welle brach und ergoss sich in unzähligen funkelnden Tropfen auf den Strand. Ein beeindruckendes Schauspiel. Die Seherin aber, deren Wahrnehmung verändert war, sah, wie sich aus der spritzenden Woge ein gigantischer Drache erhob und drohend auf den Strand sprang. Das um ihn aufleuchtende Licht unterstrich die Gefahr, in die die Landbewohner durch sein Eintreffen gerieten.
Jorunn spürte, wie sie ein Schauer der Angst ergriff. Der Drache kam. Schon einmal war sie dem Dämon aus dem Süden in einer Vision begegnet, doch sie hatte angenommen, dass er sich auf die fränkischen Krieger Arngrims bezog. Diese Männer saßen gut bewacht in der Siedlung gefangen. Wenn die Bedrohung dennoch weiter bestand, so musste der Drache eine andere Bedeutung haben.
Sie schloss die Augen und versuchte, den Sinn ihrer Vision zu erkennen. Die Wirkung des Pilzgiftes machte sie schläfrig und Jorunn ließ sich nach hinten fallen und nahm das Dahindämmern in einem unruhigen Traum an.
Schiffe trafen in Straumfjorður ein, vier große, mit Kriegern bestückte Boote liefen den Hafen an. Allen voran entstieg ein Krieger, den sie bisher nur einmal gesehen hatte – Horik, der König. An seiner Seite schritt eine junge Frau, vor der sich die Bewohner der Siedlung tief verneigten. Dann entstieg Ragnar seiner Súð und reichte einem Fremden die Hand. Jorunn blinzelte. Das Gesicht des Mannes blieb ihren seherischen Fähigkeiten verborgen. Doch sie spürte die Gefahr, die von dem Fremden ausging. Wie ein Nebel oder eine dunkle Wolke stand hinter ihm der Drache am Himmel. So ungern es Jorunn auch glaubte – mit Horik und Ragnar würde die Gefahr nach Straumfjorður kommen. Sie musste auf der Hut sein. Doch die Visionen der Seherinnen blieben unscharf. Die Macht des Drachen war unbestritten, doch woher die Kraft stammte, ließ sich aus ihren Visionen nicht sagen. Sie sah Ragnar auf die Frau an Horiks Seite zutreten und deren Hand ergreifen. Hochrufe ertönten, Raben krächzten und eine Schar Krähen flog, lautstark kreischend, direkt vor ihren Augen auf. Nebel verbarg plötzlich das Geschehen und Jorunn verspürte eine namenlose Furcht. Dann senkte sich Stille auf ihre Vision und den Strand. Die Seherin glitt nach und nach zurück in die Gegenwart. Eine letzte mahnenden Stimme schien direkt in ihrem Kopf zu rufen.
»Wenn eines Tages der Moment kommen sollte, wo du wählen musst zwischen denen, die deine Liebe besitzen und deiner Macht, so darfst du nicht fehlgehen. Macht ist ein zweischneidiges Schwert. Du wirst sie nie ganz besitzen. Liebe jedoch ist aller Mühen wert. Sie ist das einzige ehrliche verbindende Element zwischen den Menschen. Genau wie die Rune Kenaz steht sie für die schöpferische Kraft, für Leidenschaft und die elementare Lebensenergie. Wenn du Kenaz verleugnest, verleugnest du das Wachstum Yggdrasils und die Kraft der Nornen. Wenn du die Macht der Liebe vorziehst, wirst du allein sein. Du wirst, behängt mit Schmuck und Tand, an erster Stelle hinter den Herrschern stehen, doch dein Leben wird von nutzloser Zeit bestimmt sein. Entscheidest du dich aber für die Liebe und für die Menschen, die dir nahestehen, wird dein Schicksal unbestimmbar sein. Und das ist es, was der Wille der Götter ist. Mag die Zeit auch kurz sein, in der wir lieben dürfen, so ist dieser Moment doch unser wertvollstes Gut.«
Jorunn richtete sich mühsam auf. Noch wirkte der Pilz in ihrem Körper nach und ihr war übel. Im Sitzen wandte sie Kopf und Oberkörper zur Seite und übergab sich in den Sand. Was für eine widerliche Nebenwirkung der Vision dieses Erbrechen doch war!
Die Stimme in ihrem Kopf aber war eine wertvolle Erinnerung an die Worte einer alten Freundin und Lehrerin. Auch Jorunn war einst Schülerin gewesen, so wie Rúna jetzt. Und ihre Meisterin war mit der Gabe einer offenen Sprache gesegnet gewesen. Dort, wo es Jorunn schien, dass sie nur stammle, hatte die Alte kräftige Worte gefunden zu sagen, was gesagt werden und nicht vergessen werden sollte. Liebe und Macht – die beiden uralten Gegenspieler – forderten nun auch sie heraus.
» Þar kemr inn dimmi dreki fljúgandi, naðr fránn, neðan frá Niðafjöllum; berr sér í fjöðrum, flýgr völl yfir, Niðhöggr nái. Nú mun hon sökkvask« murmelte die Seherin. Und wer wusste schon, ob der Drache ihrer Vision nicht auch nur ein Träger der Toten war, der in Helheimr versinken würde?
Was Jorunn aber nach ihrer Vision sicher wusste, war, dass sie die ihr Nahestehenden schützen musste. Und so ließ sie ihren Blick ein letztes Mal prüfend über jene Bilder schweifen, die die Vision ihr gebracht hatten. Dann erhob sie sich unter Schmerzen. Sie hatte keine Zeit, das Ende des Rausches abzuwarten. Sie musste mit Thorstein und Rúna sprechen. Und so ihr die Götter wohlgesonnen waren, würde sie danach Lathgertha in den Hügeln finden, bevor andere ihr zuvorkamen.
Baldrsbrā: nordisch Kamille
Spitzköpfiger Kahlkopf - ist der verbreitetste und am häufigsten vorkommende psilocybinhaltige Blätterpilz in gemäßigten Zonen der Erde (wikipedia). Aus mittelalterlichen Chroniken schließt man, dass der Pilz gern vor Kämpfen eingenommen wurde. Sicher wirkt er auch visionsfördernd.
Þar kemr inn dimmi dreki fljúgandi, naðr fránn, neðan frá Niðafjöllum; berr sér í fjöðrum, flýgr völl yfir, Niðhöggr nái. Nú mun hon sökkvask. Völuspa Vers 66: Der düstre Drache, tief drunten fliegt, die schillernde Schlange, aus Schluchtendunkel. Er fliegt übers Feld; im Fittich trägt Nidhögg die Toten: nun versinkt er.