»Es werden Fremde nach Straumfjorður kommen und sie bringen die Gefahr mit sich«, beschrieb Jorunn wenig später den Inhalt ihrer Vision vor Thorstein und Runa. »Ragnar kehrt zurück und er bringt den König mit sich.« Sie seufzte. »Doch es war auch eine Frau bei ihm, die Horik nahezustehen schien. Welche Bedeutung sie hat, vermag ich nicht sicher zu sagen. Aber ich bin mir sicher, dass es Macht war, die ich in ihren Augen und ihren Bewegungen gesehen habe. Und sie stand an der Seite unseres Jarls …«
Thorstein strich sich über den Bart und zupfte nachdenklich an einem der Kriegerringe, die er dort eingeflochten hatte. »Kämpfe bringen immer Veränderung. Daran lässt sich kaum etwas ändern. Ich habe lange darüber nachgedacht, was nach Ragnars Rückkehr geschehen wird. Wenn Horik persönlich in unsere Siedlung kommt, wird er auch Recht über Arngrim sprechen wollen. Als König kann er seinen Untertanen eine solche Machtanmaßung nicht durchgehen lassen.« Grüblerisch fuhr der Steuermann die Maserung der Tischplatte nach. Dann sah er Jorunn ins Gesicht. »Er muss Arngrim entmachten und wahrscheinlich wird er ihn, die Franken und einige wichtige Männer aus Moseby töten lassen. Wenn er das tut, wird die Siedlung einen neuen Jarl brauchen und ich bin überzeugt, dass er keinen weiteren Mann in diese Ehre berufen wird. Er wird ihnen Ragnar aufzwingen, schon um ein für alle Mal diese gewalttätige Art der Machtergreifung zu unterbinden.«
Jorunn nickte. »Das wäre durchaus möglich. Allerdings glaube ich nicht, dass noch mehr Macht etwas Gutes für Ragnar einbringt. Wir wissen, dass er kein Mann ist, der mit Macht demütig umgeht. Wenn er nun noch stärker wird, kann es sein, dass auch seine Gier wächst.« Grüblerisch schwieg sie einen Moment lang. »Und es wird seinen Drang nach einem Erben, einen weiteren Sohn befeuern.«
Runa seufzte. »Lathgertha tut mir leid«, gestand sie. »Sicher würde sie Ragnar viele Kinder schenken, wenn sie nur könnte.«
»Björns Geburt war sehr schwer«, erklärte Jorunn leise. »Ich habe schon öfter Frauen gesehen, die nach einer solchen Tortur nicht mehr empfangen konnten. Möglich, dass Gertha zu ihnen gehört. Doch wenn sie es nicht schafft, Ragnars Wunsch zu erfüllen, wird er sich über kurz oder lang nach einer anderen Frau umsehen. Und wir alle kennen Lathgertha. Egal, wen der Jarl wählen wird, es wird sie kränken. Und sollte er ihr den Platz als Erstfrau verweigern, wird sie ihn verlassen, ganz egal, ob sie ihn noch liebt oder nicht.«
»Ich glaube nicht, dass er so etwas tun würde«, murmelte Thorstein. »Ragnar mag vieles sein, aber für so gefühllos halte selbst ich ihn nicht. Bisher hat er sich immer an Sklavinnen wie Sædís oder Læva gehalten.«
Jorunn seufzte. »Das mag sein. Doch wenn meine Vision mich nicht getäuscht hat, dann wird eine Frau in sein Leben treten, die Macht hat, vielleicht sogar eine der Töchter Horiks. So eine kann er nicht zu einer Zweitfrau machen. Und es ist nicht nur die Fremde, um die ich mir Gedanken mache. Noch etwas anderes wird mit Ragnar nach Straumfjorður kommen. Und hinter diesem Mann habe ich wieder den Drachen gesehen. Noch ist die Bedrohung nicht aus dem Weg geschafft und wir müssen vorsichtig sein.«
Letztlich konnte keiner von ihnen voraussagen, was im Laufe der kommenden Monde geschehen würde. Doch sie beschlossen, aufmerksam zu sein und die Zeichen der Zeit zu beobachten.
»Vindöld, vargöld, áðr veröld steypisk.[1]« Die Völva hatte das letzte Wort. Und sie schloss ihr Gespräch mit einer Warnung der Götter.
»Wir müssen vorsichtig sein«, mahnte auch Rollo am nächsten Morgen, als er vor die Männer der Siedlung trat. Doch der Bruder des Jarls bezog seine Warnung nicht auf Jorunns Vision. Ihn trieben andere, offensichtlichere Ereignisse an. Ein Teil der Männer, die mit Ragnar in Haithabu gekämpft hatten, waren zurückgekehrt. Es war gut, dass diese jetzt die Krieger von Straumfjorður verstärkten. Doch auch in Moseby mochten erste Rückkehrer eingetroffen sein. Wie viele das waren und ob sie sich vielleicht für einen erneuten Angriff rüsteten, wusste keiner der Männer um den Bruder des Jarls. Also beschlossen sie, Wachen auszuschicken, die erneut die Wege zu ihren Nachbarn beobachten sollten. Auch der Platz des Spähers auf der Klippe zwischen den beiden Siedlungen wurde erneut besetzt. Die Gefangenen wurden erneut in einer gesicherten Scheune festgesetzt und die Bewohner des Ortes rückten näher zusammen. Gunnar kam von seinem Gehöft und auch Teitr blieb nicht auf dem Moorseehof.
Sie alle wussten, dass sich ihr Schicksal mit dem Leben oder Tod Ragnars entscheiden würde. Wenn ihr Jarl an den Folgen seiner Verletzungen sterben sollte, war es sehr ungewiss, wen Horik zu dessen Nachfolger bestimmen würde. In diesen Tagen schien ganz Straumfjorður den Atem anzuhalten.
Dann aber, nachdem fast ein ganzer Mond vergangen war, ohne dass sich irgendetwas ereignet hätte, kam an einem Vormittag der Späher von den Klippen eilig auf den Dorfplatz geritten.
Noch beim Absteigen von seinem schäumenden Pferd rief er die Neuigkeit aus: »Sie kommen zurück!«
Rollo kam eilig aus der Schildhalle gelaufen und jeder, der den Ankömmling bemerkt hatte, trat näher, um nichts zu verpassen.
»Fünf Schiffe laufen in den Fjord ein«, berichtete der Späher atemlos. »Eines davon ist Horiks Flaggschiff, da bin ich mir ganz sicher. Doch ich habe auch das Segel der Ragnarsúð erkannt, daran gab es keinerlei Zweifel.«
Jubel brach aus unter den Bewohnern der Siedlung und die Neuigkeit vom Eintreffen der Krieger machte die Runde durch den Ort. Man sah eilige Menschen hin und her eilen, um alles für den Empfang der Seefahrer bereit zu machen.
Bald erschienen am Horizont dunkle Segel und nach und nach konnte man die fünf Kriegsschiffe unterscheiden, die sich im milden Wind dem Hafen näherten. Längst waren die Drachenköpfe von den Stafn genommen worden, um die einheimischen Geister nicht erschrecken und die Schilde zierten die oberen Planken. Horiks Flaggschiff führte die Formation an. Ihm folgte die Ragnarsúð. Zwei weitere Schiffe schlossen die Súð Arngrims zu beiden Seiten ein, die an einem großen Bärenkopf auf ihrem Segel gut zu erkennen war.
»Horik scheint Bescheid zu wissen«, murmelte Jorunn halblaut, zu Thorstein und Lathgertha gewandt. »Seht euch an, wie er Arngrim davon abhält, es sich im letzten Moment noch anders zu überlegen und abzudrehen. Ihr solltet gehörig aufpassen, wenn er an Land geht. Einem in die Enge getriebenen Krieger fallen die törichtesten Dinge ein, wenn es um Leben und Tod geht. Nicht, dass er noch einen Kampf provoziert! Ragnar will ihn auf jeden Fall lieber lebend haben.«
Der Steuermann nickte und drängte sich dann ein wenig weiter nach vorn, um Rollo, der in der ersten Reihe stand und dem Einlaufen der Schiffe ebenfalls aufmerksam folgte, etwas ins Ohr zu flüstern. Der Jarlsbruder nickte und trat dann vor seine Leute.
»Behaltet trotz aller Freunde unbedingt Arngrims Männer und ihn selbst im Auge«, mahnte er nachdrücklich. »Wir wollen keinen weiteren Kampf, keine schweren Verletzungen oder gar Tote. Nehmt sie in eure Mitte, sobald sie an Land gehen und seht zu, dass sie ihre Waffen gar nicht erst einsetzen können. Zur Not überwältigt sie, sobald sie den Anleger betreten haben.«
[1] Vindöld, vargöld, áðr veröld steypisk. - Windzeit, Wolfzeit bis die Welt vergeht. Völuspa Vers 45