Das Gedränge am Hafen war groß, als zum Schluss Eriks Schiff einlief und seine Männer an Land entließ. Arngrim bekam keine Gelegenheit zu einem Gewaltakt irgendeiner Art. Man ließ ihm nicht einmal die Möglichkeit, unauffällig einen seiner Männer aus dem Ort zu schicken, um seine Leute in Moseby zu verständigen. Lärmend und schwatzend geleitete man die Ankömmlinge und Gäste in die Schildhalle.
Ragnar geleitete den König zu dem leicht erhöhten Platz, an dem er sonst zu sitzen und seine Leute zu überblicken pflegte. Heute würde Horik dieses Privileg genießen. Man brachte weitere schwere Sessel für Erik und Ragnar. Als sich Arngrim fragend umsah, fand er sich plötzlich Rollo gegenüber.
»Du hast keinen Platz an der Seite des Königs«, knurrte der Jarlsbruder.
»Willst du mich beleidigen, Rollo?«, fauchte der Jarl der Nachbarortes und gab vor, den Grund für Rollos Handeln nicht zu kennen.
»Verräter haben keinen Platz unter uns«, gab Rollo zornig zurück. »Verräter gehören in den Dreck!«
Unverhofft trat Rollo zu und es gelang ihm, Arngrim mit einem Haken in die linke Kniekehle zum Straucheln zu bringen.
»Mein König …!«, versuchte es der Niedergeworfene noch einmal halbherzig.
Horik hatte sich erhoben und trat ein paar Schritte näher.
»Mir wurde bereits zugetragen, dass deine Männer diese Siedlung angegriffen haben sollen. Noch habe ich keine Beweise gesehen, doch die Anschuldigung ist schwerwiegend. Einen Zwist zwischen den Landbesitzern meines Königreichs werde ich nicht dulden!«
Die Worte des Königs waren mit Macht gesprochen und ließen keinen Widerspruch zu. Er wies mit einer Geste an, dass sich Arngrim erheben sollte. Als er dies tat, traten zwei kräftige Krieger des Königs neben ihn, um ihn an einer Flucht oder einem Angriff zu hindern.
Arngrim aber griff nicht mit Waffen an, sondern mit Worten. »Wer auch immer mich vor Euch verleumdet hat, mein König, wird sich dafür verantworten müssen. Niemand …« – Arngrim sah sich herausfordernd um – »Ich sagte: Niemand wird mir niederträchtig eine Tat unterstellen, die nicht begangen wurde. Ich fordere denjenigen heraus, der mich beschuldigt!«
Rollo lachte auf und auch Thorstein trat zu der Gruppe um den König.
»Wir können sehr wohl beweisen, was wir vorgetragen haben«, stellte Rollo richtig. »Einen halben Mond, nachdem Ragnar zur Leidang aufgebrochen war, kamen Arngrims Männer über Land und Meer und versuchten, Straumfjorður zu erobern. Wären wir nicht gewarnt worden – wer weiß, wie dieser Angriff ausgegangen wäre. So aber konnten wir diese feige Inbesitznahme verhindern und einen Teil der Männer gefangen nehmen.« Rollo verbeugte sich vor Horik. »Sie erwarten euer Urteil, mein König«
Horik nickte. »Das entspricht der Schilderung Ragnars, auf dessen Wort ich mich verlasse. Wir werden diese Gefangenen anhören. Doch das soll uns nicht abhalten, heute unseren Sieg über Harald angemessen zu feiern!«
Mit einer angewiderten Handbewegung wies er auf Arngrim und dessen Männer, die ihn unentschlossen umstanden. »Dies ist keine Missetat, die wir sofort verhandeln könnten. Wenn Arngrim Ragnar verraten hat, während dieser seinen Dienst bei mir leistete, geht das alle Männer der Umgebung etwas an. Gebt den Aufgebotsstab herum. Ich berufe für den kommenden Vollmond ein Manndrápsthing ein.«
Horik trat zurück und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Bis dahin betrachte ich Arngrim und alle, die zu ihm gehören, als meine persönlichen Gefangenen. Niemand rührt sie an, bedroht sie oder verhilft ihnen zur Flucht. Bringt sie weg! Odin sei mein Zeuge, dass mich der Versuch, meinem Volk zu schaden, anwidert!«
Ragnar zollte der Entscheidung des Königs im Stillen Respekt. Ein Thing einzuberufen, zog zwar die Entscheidung über Arngrim hinaus, doch gab die Ratsversammlung jedem Urteil eine feste Basis, die keiner anfechten konnte. Die Männer durften zu Wort kommen, sodass auch an der Gerechtigkeit der Entscheidung kein Zweifel blieb. Horik mochte kein gütiger König sein, doch er war klug und vermittelte den Eindruck von Gerechtigkeit gegenüber seinen Mannen.
Der Jarls nickte Rollo und Thorstein zu. »Sorgt dafür, dass zuverlässige Männer die Botschaft an unsere Leute überbringen. Keiner soll vergessen oder zu spät zu dieser Rechtssprechung berufen werden.«
Die beiden Männer nickten und verließen die Halle.
Aber auch Horik hatte Anweisungen zu geben. Er rief Ívaldi zu sich und besprach sich leise mit seinem Seher. Dann nickte er seinem Schiffsführer zu. »Wir werden die Männer von Moseby verständigen. Damit keinerlei Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieses Thing entstehen, werde ich Ívaldi schicken, der die Botschaft überbringt. Ich möchte dich bitten, dir ein paar gute Männer zu suchen und ihn auf seiner Mission zu begleiten. Mach den Mosebyern klar, dass sie es nicht wagen sollen, dem Thing fernzubleiben oder irgendeine Niedertracht zu planen. Und bring mir meinen Seher unversehrt zurück!«
Auch dieser Mann nickte und dann folgte eine weitere Gruppe Rollo und Thorstein aus der Halle.
Horik aber ließ sich ein Methorn füllen und brachte einen ersten Trinkspruch auf dem Sieg über Harald aus. Die Männer ließen sich gegenseitig hochleben und bald wurden Geschichten des Kampfes gegen den machthungrigen Halfdansson zum Besten gegeben. Lieder von Schlachten und Waffengängen wurden gesungen. Schon bald wirkte der Met und die Zungen wurden lockerer.
»Wenn es etwas gibt, was ihr Nordmänner noch besser könnt als segeln, dann ist es feiern!« Übermütig kommentierte Santór, der an der Seite Ragnars saß, das Geschehen.
Auch der Jarl war von der Entwicklung des Tages angetan. Genießerisch nahm er einen Schluck aus dem Trinkhorn. »So ist es, mein Freund! Warte nur, wenn du erst unsere Frauen gesehen hast. Dann wirst du für immer in Straumfjorður bleiben wollen.«
Und doch, dachte Santór, war es für Ragnar mit den Frauen so eine Sache. Die Blicke, mit denen der Jarl seine Schildmaid verschlang, waren dem Franken nicht entgangen. Lathgertha war eine sehr schöne Frau. Es mochte jüngere geben als sie. Doch die Gefährtin des Jarls besaß eine natürliche Schönheit, die ihresgleichen suchte. Anmut, dachte Santór, Selbstsicherheit, eine Frau mit den Eigenschaften einer Herrscherin. Dass sie sich auf den Platz einer Zweitfrau zurücksetzen lassen würde, glaube er keinen Moment lang.
Ähnliche Gedanken hatte der Jarl, wenn er seine Gefährtin beobachtete. Der heimische Sieg über Arngrim ließ Gertha erstrahlen. Sie war stolz auf das Erreichte.
Ragnar hatte noch keine Vorstellung davon, wie er ihr beibringen sollte, dass er sie bald zu ersetzen wünschte. Doch nun war es zu spät. Einen Rückzieher von seinen Hochzeitsplänen würde der König ihm nie verzeihen. Diesen Kampf würde er bestehen müssen, auch wenn es ihn selbst verletzte. Am Ende zählten weitere Söhne mehr als die Schildmaid. Zeit genug, ihm weitere Kinder zu gebären, hatte Lathgertha, bei Odin, wirklich gehabt. Es war so, wie es Santór gesagt hatte: Die erste und wichtigste Aufgabe einer Frau war es, ihrem Mann Kinder zu schenken. Und hier hatte Gertha, mochte sie auch noch so kämpferisch daherkommen, kläglich versagt.
Aufgebotsstab: In der nordischen Gerichtsbarkeit spielte das Thing eine zentrale Rolle. Neben den überregionalen Versammlungen, die zu festgelegten Zeiten stattfanden, konnten regionale Treffen bei außergewöhnlichen Ereignissen oder bei Bedarf einberufen werden. Der Zusammenruf der Teilnehmenden (erlaubt waren ausschließlich freie Männer) erfolgte durch einen Boten, der zum Nachweis der Dringlichkeit den Aufgebotsstab vorwies.
Manndrápsthing: Thing, das sich mit der Verhandlung eines Totschlags befasste