Der Unterschied hätte nicht größer sein können, dachte Thorstein am Abend, als er das kleine Grubenhaus betrat, in dem Rúna und er wohnten, wann immer sie sich in Straumfjorður aufhielten. Dank eines gut ziehenden Kamins wirbelte hier kaum Rauch durch den Raum. Es war still und vom Feuer her duftete es nach Minze und frischem Essen. Seine Gefährtin saß neben dem Herd und sah lächelnd auf, als er eintrat. Sie legte ihre Spindel beiseite und erhob sich, um ihn liebevoll zu begrüßen. Die zärtliche Ruhe, mit dem sie ihn in die Arme nahm, war für Thorstein nach dem Tag voller Lärm und Ärgernis ein Genuss.
»Komm, setz dich!«, lud ihn Rúna sofort ein, als sie sah, wie erschöpft der Steuermann war. »Der Tag war lang und sicher hast du wenig gegessen.«
Er nickte. Gegessen hatte er kaum etwas. Als alle anderen in Ragnars Schildhalle tafelten, war er mit Rollo losgegangen, um die Boten zu bestimmen, die das Thing einberufen sollten. Sie hatten genau überlegt, wem sie zutrauten, schnell und zuverlässig die königliche Botschaft zu überbringen, hatten schnelle Pferde und Proviant zusammengestellt und den Reitern erklärt, wie wichtig ihr Auftrag sei.
Schon, als die Boten aus der Siedlung geritten waren, hatten sie sich ihrer zweiten Aufgabe gewidmet – der sicheren Unterbringung von Jarl Arngrim. Noch war kein Urteil über den Mann und seine Gefolgsleute gefällt worden, sodass sie ihn zwar zuverlässig festsetzen mussten, er aber auch eine gewisse Bequemlichkeit bekommen sollte. Das Ganze war nicht einfach gewesen und schließlich hatte Rollo beschlossen, die Männer in seinem eigenen Heim unter Aufsicht zu stellen. Seine Leute würden Arngrim bewachen und ihn auch angemessen versorgen, während der Krieger etwas verschämt bei Glókolla um Unterkunft gebeten hatte.
Die Schildmaid mit der roten Mähne hatte dem vergnügt zugestimmt und er, Thorstein, hatte mit einem heimlichen Lächeln beobachtet, wie der harte Jarlsbruder bei deren Kuss rot um die Ohren geworden war. Die beiden waren ein beeindruckendes Paar!
Thorstein musterte seine Gefährtin, deren schöner brauner Zopf über ihre linke Schulter nach vorn gefallen war. Auch sie war eine Augenweide, keine Frage! Es war ein Glück, dass sie in Glókolla und Lathgertha so gute Freundinnen gefunden hatte. Sicher würde es ihr nichts ausmachen, dass er die Gefährtin des Jarls für heute Nacht zu ihnen eingeladen hatte. Doch konnte man Gertha überhaupt noch als Ragnars Frau sehen, nach dem, was vorhin in der Schildhalle vorgefallen war?
Thorstein seufzte. Er musste es Rúna erklären, bevor deren Freundin hier eintrat. Gertha sollte diese Demütigung nicht selbst für sie schildern müssen.
»Wir werden heute noch einen Gast bekommen«, kündigte er an. »Lathgertha hat mich gebeten, eine Weile bei uns wohnen zu dürfen und ich habe dem zugestimmt.«
Überrascht sah Rúna von dem Brot auf, das sie gerade zerteilt hatte. »Gertha?« versicherte sie sich, richtig gehört zu haben. »Heute?« Das Unverständnis über den Besuch stand ihr ins Gesicht geschrieben. Doch wie immer überschüttete sie Thorstein nicht mit einer Redeflut, wie es andere Frauen vielleicht gemacht hätten, sondern wartete ab, was er zu berichten hatte. Dennoch standen ihr die Neugier und ein wenig Sorge ins Gesicht geschrieben.
Trotz des Ernsts der Situation musste der Steuermann lächeln. Rúnas Gesichtsausdruck verbarg wenig von dem, was sie dachte. Dennoch! Die natürliche Ruhe seiner Gefährtin konnte man nicht so schnell brechen. Sie würde auch dieses neue Problem bestimmt meistern.
»Ragnar hat etwas Unglaubliches gemacht«, begann er, von den Ereignissen des Nachmittags zu berichten. »Er hat sich eine neue Hauptfrau gewählt, angeblich, weil Gertha ihm keine weiteren Söhne schenken konnte.«
Thorstein sah, wie Rúna trocken schluckte und ihn entsetzt anstarrte. Auch er war von der Ankündigung Horiks vollkommen überrascht worden.
»Der König selbst hat es bekannt gegeben«, schilderte er, was er gehört hatte. »Er ließ auf das Wohl Ragnars und dessen baldiger Vermählung mit seiner Tochter Birthe trinken.«
Thorstein schüttelte den Kopf über so viel Rücksichtslosigkeit gegenüber Lathgertha. Die Schildmaid war bei den Hochrufen leichenblass geworden und hatte sich an einem der Tragepfeiler in der Halle festhalten müssen. Zum Glück waren Glókolla und auch er nicht weit weg gewesen, sodass sie den neugierigsten Gaffern ein wenig den Blick verstellen konnten. Ragnar hatte zu den Trinkspruch Horiks stolz genickt und dann ein paar Erklärungen abgegeben.
Offenbar war der Wunsch nach einer Gefährtenschaft zwischen dem Jarl und der Königstochter vom König selbst ausgegangen. Ragnar hatte das Angebot angenommen, obwohl er schon eine Gefährtin an seiner Seite hatte, um die ihn die Männer Straumfjorðurs beneideten. Gertha war eine schöne und auch stolze Frau, eine bisher unbesiegte Schildmaid.
»Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass Ragnar kaum eine andere Wahl blieb, als dieser Hochzeit zuzustimmen«, schloss Thorstein seine Schilderung. »Man kann die Wünsche des Königs nicht ablehnen, ohne sich selbst Schaden zuzufügen. Und als Jarl wird er auch die Vorteile gesehen haben, die eine derartig enge Verbindung zu Horik mit sich bringt. Das Recht ist dabei auf seiner Seite.«
Thorstein räusperte sich. »Doch was diese Demütigung für Gertha bedeuten muss, kann ich mir kaum vorstellen. Schon, nachdem sich Ragnar an dir vergangen hatte, war sie kaum dazu zu bewegen, sich wieder mit ihm zu vertragen. Dass er sie nach allem, was war, nur herabsetzt auf den Rang einer Zweitfrau, wird für sie schwer zu ertragen sein.«
»Sie ist eine sehr starke Frau, in ihrem Willen fast wie ein Mann«, stimmte Rúna ihm zu. »Und sie hat so sehr auf die Rückkehr von Ragnar gewartet und gebangt, dass ihm etwas zustoßen würde. Es muss schrecklich für sie sein, so von ihm zurückgesetzt und enttäuscht zu werden.«
Während Thorstein für Rúna die Geschehnisse in der Schildhalle schilderte und das Paar sich Gedanken darüber machte, wie Lathgertha nun handeln würde, trug diese im Haus des Jarls ein paar Dinge zusammen, die sie in den kommenden Tagen benötigen würde. Nebenbei gab sie Anweisungen an ihre Mägde und die zwei Haussklavinnen, wie sie sich vorstellte, dass der Haushalt in der Zeit ihrer Abwesenheit geführt werden solle.
Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, war sie zu Ragnar getreten und hatte ihn freiheraus gefragt, wie er sich ihre weitere Zukunft vorstelle.
»Du kannst natürlich bleiben«, hatte der Jarl gönnerhaft versichert, »solange du akzeptierst, dass Birthe ab jetzt an erster Stelle bei mir kommen wird.«
Es war keinerlei Mitleid in seiner Stimme gewesen, stellte Lathgertha fest, sobald sie über diese wenigen Worte nachdachte. Lag Ragnar so viel daran, weitere Kinder zu zeugen, dass es ihm egal war, wie sie sich fühlte?
Die Schildmaid zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Dieser Bastard! Er hatte es nicht verdient, dass sie ihm hinterherweinte, nicht er. Nicht nach allem, was sie wegen ihm hatte schon erdulden müssen!
Lathgertha richtet sich entschlossen auf und schloss den Deckel des großen Tragekorbs, in dem sie ihre Habseligkeiten verstaut hatte.
»Passt gut auf Björn auf!«, wies sie ein letztes Mal an. »Sorgt dafür, dass er ausreichend isst und nicht zu lange in der Halle trödelt. Sobald die Männer beginnen, sich mit den Sklavinnen zu vergnügen, bringt ihr ihn ins Bett!«
Zustimmendes Gemurmel kam auf und die Schildmaid schwang sich den Korb auf den Rücken. Nach einem letzten Gruß verließ sie ihr Haus, das mit einem Mal ungastlich geworden war.