Die Zeit bis zum Vollmond und dem damit verbundenen Manndrápsthing verging schleppend. Jeder hielt Ausschau nach Zeichen, jeder grübelte über die Zukunft. Doch die Wünsche der Bewohner Straumfjorðurs waren seltsam unterschiedlich.
Thorstein hoffte, dass das Thing die Streitigkeiten mit Moseby beilegen konnte. Zwar war der Angriff erfolgt und hierfür musste es eine Strafe geben, doch war der Siedlung und somit dem Gut Ragnars und seiner Männer nur wenig Schaden zugefügt worden. Vielleicht würde Horik weniger hart urteilen und Ragnar konnte sich mit Wertgegenständen und Vorräten begnügen?
Jorunn hoffte darauf, dass der König Ragnars Macht nicht zu sehr erweiterte. Die Ankunft Santórs, des fränkischen Heilers, irritierte sie und veranlasste die Seherin, erneut die Götter um Wissen zu bitten. In der Trance der Pfeilkopfpilze meinte sie zu erkennen, dass das Machtgefüge in Straumfjorður sich grundlegend ändern würde und dass dieser Santór hierbei eine erhebliche Rolle übernehmen würde.
Jorunn wurde das Gefühl nicht los, dass ihre Zeit als Seherin und Heilerin Ragnars abgelaufen war. Noch waren die neuen Wege im Nebel des Schicksals verborgen, doch das störte sie nicht. Wieder erinnerte sie sich an die Worte ihrer alten Meisterin: »Wenn eines Tages der Moment kommen sollte, wo du wählen musst zwischen denen, die deine Liebe besitzen und deiner Macht, so darfst du nicht fehlgehen.«
Wenn jetzt eine Wolfszeit begann, so wusste sie, wem ihre Liebe galt und wen sie zu schützen hatte. Und als der letzte Wurf ihrer Runenstäbe auf eine weite Fahrt, auf ein geheimnisvolles Abenteuer hinwies, lächelte die Alte.
Rúna wiederum wünschte sich für Lathgertha, dass sie Björn behalten dürfe und sie hoffte, dass es nun einen längeren Frieden geben würde. Thorstein sollte nicht in den Kampf ziehen müssen. Dabei war es ihr egal, dass er ein Nordmann war und dass man diesen nachsagte, sie seien zum Kämpfen geboren. Für ihren Gefährten wünschte sie sich mehr als ein unbestimmtes Schwertschicksal.
Rollo und Glókolla machten sich wenig Gedanken über das Kommende. Sie genossen ihre neuentdeckte Zuneigung in vollen Zügen. Die Schildmaid hatte nicht lange gezögert, als sie von Rollo in dessen Haus gebeten worden war. Und auch wenn der Jarlsbruder ihr noch keinen Armreif angetragen hatte, so wussten beide, dass die Geste nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Jedes Mal, wenn sie Aodh begegneten, musste der Schmied heimlich grinsen, hatte er doch den Schmuck für Rollo vor kurzem gefertigt. Bei seiner Wahl war der Bruder des Jarls vom Glück begünstigt, dachte sich Aodh. Glókolla war nicht nur schön, sondern auch schlau und selbstbewusst – etwas, das Rollo gut bekam und was er offensichtlich auch zu schätzen wusste. Sie stand mit beiden Beinen im Leben und würde die Umtriebigkeit des Mannes zügeln können. Rollo aber verehrte seinen rothaarigen Lockenkopf nicht wenig. Das zeigten schon das Silber und Gold, das er aufgewendet hatte, um bei Aodh eine wertvolle Morgengabe für seine Auserwählte zu bestellen.
Dennoch blieb Rollo wachsam. Thorstein und er hatten ihre Pflicht getan und Straumfjorður gut verteidigt. Sein Bruder war überaus zufrieden gewesen und hatte sie alle reichlich belohnt. Dass Rollo dem Steuermann die Knorr zugesprochen hatte, war von ihm sofort akzeptiert worden.
»Es war dein gutes Recht, so zu handeln«, hatte Ragnar erklärt. »Doch es wundert mich ein wenig, dass du das Schiff nicht selbst beansprucht hast.«
Rollo hatte beiläufig erklärt, dass er Thorsteins Entschlossenheit im Kampf bewundernswert fand und Ragnar hatte dem zugestimmt. »Er handelt überlegen und, wenn es sein muss, schnell. Es ist gut, dass er hierfür einen Lohn erhalten hat, der ihm bestimmt eher gerecht werden wird als der Moorseehof.« Ragnar lachte. »Wenn ich mich nicht irre, haben wir in Thorstein bald einen Händler anstelle eines Bauern.«
Rollo hatte dieser Rede nicht widersprochen, doch im Stillen fragte er sich durchaus, wie ihrer aller Zukunft nach dem Thing aussehen würde. Es würde, es musste Veränderungen geben. Doch wohin ihre Schicksalsreise sie führte, sah auch er noch nicht.
So fieberten sie jeder auf eigene Art dem Thing entgegen und als sich der Mond seiner Vollkommenheit näherte, begannen sie mit den Vorbereitungen. Vorräte wurden zum Thingstein geschafft, die provisorischen Hütten wurden ausgebessert, um in den kommenden Nächten etwas Schutz zu geben, erste vorbereitende Gespräche wurden geführt und Meinungen ausgetauscht.
Thorstein kehrte am Vorabend des Thing nach Straumfjorður zurück. Da Frauen bei diesem Treffen nicht erlaubt waren, blieben Rúna und Lathgertha auf dem Hof.
Schon, als er sich mit den Männern an diesem Abend in der Schildhalle traf, war der Steuermann über diese Entscheidung froh. Horiks Tochter Birthe war am vergangenen Tag eingetroffen und der König befand es für passend, sie an diesem Abend mit Ragnar zu vermählen.
Birthe war eine sehr junge und schöne Frau, das musste selbst Thorstein zugeben, als er der Königstochter zum ersten Mal gegenüberstand. Sie hatte dickes, blondes Haar, große blaue Augen und – und das fiel dem Steuermann besonders auf – eine helle, glatte Haut. Das Gesicht des Mädchens wies keinerlei Narben oder Warzen auf und war schon allein deshalb sehr ansehnlich. Allerdings, wenn man kritisch sein wollte, so fehlte dem Blick der Königstochter ein wenig Tiefe und ihre Stimme war, als sie später sprach, ein wenig zu hoch und zu laut. Doch vielleicht lag es auch an der Aufregung vor der Hochzeit?
Immerhin wurde die junge Frau an einen erfahrenen, deutlich älteren Mann gegeben. Und auch, wenn Ragnar stark und würdevoll auftrat, so mochte seine Kriegerpräsenz ein junges Mädchen durchaus beeindrucken.
Nachdem Brautpreis und Mitgift in Ehren ausgetauscht worden waren, saß die junge Frau neben Ragnar und ließ es sich gefallen, dass der Jarl Horn und Teller mit ihr teilte.
Der Abend verlief fröhlich und auch Thorstein hätte daran Spaß haben können, wenn ihm nicht fortwährend Lathgerthas verhärmtes Gesicht in Erinnerung gewesen wäre. Das hatte die Schildmaid nicht verdient, dass sie von solch einem jungen, unerfahrenen Ding ersetzt wurde. Der Steuermann versuchte sich vorzustellen, wie es geworden wäre, wenn Gertha sich auf den Platz einer Zweitfrau zurückgezogen hätte, doch es gelang ihm nicht. Der Unterschied zwischen diesem halben Kind und der Kriegerin war zu groß, um einen Vergleich zwischen den beiden Frauen zuzulassen.
»Wie geht es Gertha?«, fragte eine halblaute Stimme hinter ihm, während er nachdenklich Birthe betrachtete. Thorstein drehte sich um und sah den fragenden Blick Glókollas, die mit einem Krug Bier hinter ihn getreten war. Thorstein winkte ihr, sich zu ihm zu setzen und hielt ihr sein fast leeres Horn hin. Viel hatte er bisher nicht getrunken und ein paar Schlucke durften noch sein.
»Sie ist nicht glücklich, wie du dir denken kannst«, gab er zu. »Doch sie wird sich auch nicht von ihrem Schicksal brechen lassen. Da bin ich mir sicher. Lathgertha ist stark!«
Glókolla nickte. »Das ist sie!«, stimmte sie zu. »Dennoch mache ich mir Sorgen, wie sie reagieren wird, wenn Ragnar Björn für sich beansprucht. Sie hängt sehr an ihrem Sohn und wird ihn wohl noch mehr vermissen als ihren Mann.«
»Jede Mutter würde so fühlen«, stimmte Thorstein zu. »Und ich hoffe sehr, dass das auch Ragnar bewusst ist und er Björn bei Gertha bleiben lässt. Niemand sollte einer Mutter ihr Kind wegnehmen.«
»Ich fürchte, der Jarl wird genau das tun«, widersprach Glókolla leise. »Rollo und ich haben lange mit ihm geredet und versucht, ihn umzustimmen. Doch er will seinen Sohn, koste es, was es wolle. Und da er weiß, dass sein Handeln nicht von jedem gutgeheißen werden wird, ist er umso sturköpfiger.« Die Schildmaid schüttelte ihren Kopf, dass ihre roten Locken flogen. »Momentan tut Rollos Bruder alles, um seine Macht auszubauen. Und ich weiß nicht, wohin er uns dadurch führen wird.«
Sie schwiegen beide und dachten über das Gesprochene nach. Dann zuckte Thorstein mit den Schultern. »Ich kannte ihn früher gut. Wir waren Freunde. Doch er hat sich in den letzten Jahren so sehr verändert, dass ich ihn kaum noch wiedererkenne. Ich weiß auch nicht, wie unsere Zukunft aussehen wird.«
»Wir können bloß abwarten«, stimmte die Schildmaid zu. »Vielleicht wissen wir nach dem Thing mehr. Doch während ihr euch besprecht und verhandelt, würde ich gern Lathgertha und Rúna besuchen, wenn es dir recht ist. Das Warten auf das Ende des Thing wird lang genug werden. Es wäre schön, diese Zeit zusammen mit meinen Freundinnen zu verbringen.«
Thorstein lächelte. Glókolla hatte das Herz am rechten Fleck. Er mochte sie. Und es würde auch Rúna und Gertha freuen, ihre Kampfgefährtin bei sich zu haben.
Also nickte er freundlich und versicherte, dass Glókolla und natürlich auch ihr Gefährte Rollo zu jeder Zeit auf dem Moorseehof willkommen wären.
Sie ließen Ragnars Hochzeitsfeier nachdenklich an sich vorbeiziehen. Als Thorstein am folgenden Morgen sein Pferd packte, um zum Thingstein zu reiten, stieg auch Glókolla auf einen kleinen Karren, den sie mit ein paar Vorräten beladen hatte und schlug den Weg zum Moorseehof ein. Die folgenden Tage würden entscheidend sein.