Runa sah Thorstein nach, als dieser den Hof mit Hege und Teitr verließ. Der Vorarbeiter kutschierte den robusten Ochsenkarren, den sie mit ein paar Lederdecken gegen den ärgsten Wind versehen hatten. Mochten die Männer in dem Moorversteck vielleicht kräftig genug sein, um den Weg zum Moorseehof zu Fuß zurückzulegen - die Frauen und das kleine Kind würden einen solchen Marsch im Sturm kaum bewältigen.
Es hatte ihr gar nicht gefallen, dass Thorstein gerade jetzt noch einmal aufbrechen musste. Natürlich verstand sie, dass er diese Leute nicht einfach ihrem Schicksal überlassen wollte. Dennoch! Wer wusste schon, mit wem er es dort draußen im Moor zu tun bekommen würde?
Noch mehr störte Runa, dass ihr Gefährte mit den Fremden allein sein würde. Teitr musste auf den Karren aufpassen, den er unmöglich bis ins Moor hinein kutschieren konnte. Außerdem waren die Ochsen um einiges langsamer als die beiden Pferde, auf denen Thorstein und Hege ritten. Der Vorarbeiter, das hatte sie aus den Gesprächen entnommen, würde am Ufer des Moorsees auf die Rückkehr des Steuermanns und auf die Fremden warten. All das ängstigte die junge Hofherrin nicht wenig.
Thorstein selbst machte sich ganz andere Gedanken. Noch war die Kälte ganz erträglich und auch der Wind hatte zwar etwas zugenommen, ließ aber den Reif noch nicht im Bart erstarren. Dennoch war dem Krieger klar, dass dies nur die Ruhe bis zum wirklichen Sturm war. Hoffentlich ließ dieser sich noch mindestens bis zum Mittag Zeit, um ihr Land zu erreichen. Schon brauten sich über dem Kattegat immer dunklere Wolkenberge zusammen, jagten unter den höher gelegenen ruhigeren Schichten schnelle Nebelfetzen heran, die von Windgeschwindigkeiten sprachen, denen kein Mann und kein Pferd würden trotzen können.
"Los, Skinfaxi!", trieb Thorstein sein Pferd ein wenig mehr an und zupfte ebenso an dem Führstrick, der zu Hrimfaxi mit Hege auf dem Rücken führte. "Mach ein bisschen Tempo! Sonst siehst du deinen Stall nicht so schnell wieder."
Das Pferdchen schnaubte ungehalten, kam aber dem Befehl seines Reiters nach und setzte sich in einen schnelleren Trab. Der Schnee verschluckte das Klacken der Hufe und von sehr weit hinten ließ sich lediglich ein verhaltenes Muhen hören. Auch Teitr trieb die Ochsen an. Sie mussten sich beeilen.
Zu Pferde war der Moorsee schnell erreicht und beide Reiter atmeten auf, als sie die vereiste Fläche vor sich sahen. Auf dem Weg hierher hatte Thorstein kurz darüber nachgedacht, direkt über das Eis ans andere Ufer zu reiten. Doch dann hatte er von dieser Idee Abstand genommen - zu gefährlich für die Pferde, deren Eisen er seit dem Herbst nicht hatte erneuern lassen, zu riskant, falls das Eis nicht durchgefroren genug war …
Also schlug er den Pfad nach links ein, der sie um den See herumführen würde. Der Schnee trieb nun von hinten und schien sie vorwärts zu schieben. Einzelne Flocken verirrten sich unter die Felle und ließen die Reiter frösteln. In Skinfaxis Mähne bildeten sich erste Eiszapfen, die der kleine Hengst ungeduldig herauszuschütteln versuchte.
"Schon gut, Großer!", tröstete ihn der Steuermann. "Drüben im Wald wird es besser." Die Bäume würden den Wind ein wenig bremsen.
Doch zunächst mussten sie sich am gegenüberliegenden Ufer durch einige Schneewehen kämpfen. Thorstein stieg ab und auch Hege folgte ihm, den Waldrand genau betrachtend. Nach ungefähr einer halben Fjerdingmil(1) deutete sie auf zwei ineinander verhakte Erlen. "Hier ist es", ließ sie Thorstein halblaut wissen. "Ab jetzt werde ich vorangehen."
Hege bog entschlossen von dem kaum noch sichtbaren Uferweg ab. Nun musste sich Thorstein ganz auf das Wissen und die Ehrlichkeit der neu zu ihnen gestoßenen Frau verlassen. Wenn sie gewillt war, ihn in den unberechenbaren Sumpf zu locken …
Der Steuermann war mutig und wusste, dass er es darauf ankommen lassen musste. Er war kein Mann, der zehn Menschen im Schnee erfrieren ließ, wenn er daran etwas ändern konnte. Wie vereinbart, markierte er den Abzweig für Teitr mit einem alten Tuchfetzen. Das Rot des Stoffes leuchtete schon von weitem und half seinem Vorarbeiter, sich hierherzufinden. Doch als er dann dem kaum sichtbaren Pfad mit der einsamen Spur Heges ins Moor hinein folgte, beschlich ihn ein unangenehmes Gefühl.
Zu beiden Seiten lag dichter Nebel über dem Moorwasser. Dort, wo einzelne Sumpfgrashügel einen festen Untergrund bildeten, ragten Schneehügel wie fremdartige Wesen aus dem Boden auf. Trotz der Kälte lag ein feiner Geruch von Fäulnis und Moder in der Luft. Die Erlen knarrten im rauen Wind, hier und da waren bereits Äste herunter gebrochen, die Hege ein paar Mal zum Seite zog, bevor sie mit Hrimfaxi an Halfter weiterging. Lange Zeit schritten sie schweigend dahin. Über ihnen verdunkelte sich der Himmel immer mehr, das Schneetreiben wurde dichter und das Licht nahm ab, sodass man hätte denken können, die Dämmerung bräche bereits herein. Thorstein fluchte. 'Bei den gierigen Fängen von Geri und Freki(2) ! Worauf hatte er sich da bloß eingelassen?'
Endlich lichtete sich der Sumpfwald und der fast unsichtbare Weg stieg ein wenig an. Hinter Thorstein schnaubte Skinfaxi. Hege wandte sich zu ihm um.
"Wir sind gleich da. Am besten wird es sein, du wartest hier, bis ich mit unseren Leuten gesprochen habe. Sie sind sehr vorsichtig."
Wieder hatte Thorstein das Gefühl, die Führung aus der Hand zu geben und es gefiel ihm nicht. Dennoch nickte er. Hege hatte recht. Sie kannte die Männer und würde besser erklären können, was er von ihnen wollte.
Die Frau schritt nun schnell zu der vor ihnen liegenden Lichtung. Dabei rief sie schon von weitem die Namen derjenigen, nach denen sie suchte.
Zunächst blieb alles stumm und Thorstein befürchtete schon, dass sie zu spät gekommen und die Gesuchten weitergezogen waren. Doch dann sah er, wie zwei dunkle Gestalten auf Hege zuliefen. Die drei gestikulierten eine Weile, dann eilten sie davon. Nun hieß es wieder warten.
Doch Thorsteins Geduld wurde auf keine weitere lange Probe gestellt. Schon bald sah er, wie erneut zwei Leute auf die Lichtung traten. Zielstrebig kamen sie näher und schon bald erkannte er Hege, die von einem alten Mann begleitet wurde. Das musste Frodi sein.
(1)Fjerdingmil - Viertelmeile, entspricht 1883m
(2) Geri und Freki - "der Gierige" und "der Gefräßige" sind Odins Wölfe, wie auch Hugin und Munin, die Raben, Odin zugeordnet sind.