Der Reiter war mit einem frischen, kräftigen Pferd aufgebrochen und erreichte die Siedlung noch vor Sonnenuntergang. Selbst bei der Durchquerung des Ortes zügelte er seine Stute nur bis zum Trab und brachte das erschöpfte Tier erst vor Jorunns Hütte zum Stehen. Das Tier ließ den Kopf hängen und der Schaum tropfte ihm vom Maul. Doch der Bote kümmerte sich nicht darum. Er klopfte fordernd an die Tür der Völva.
Als Jorunn öffnete, stand ihr ein Mann gegenüber, der ebenso erschöpft schien wie sein Pferd. Die Heilerin bat ihn in die Hütte und schickte sogleich ihre Magd los, die verschwitzte Stute zu versorgen. Ihrem Gast bot sie einen Platz und einen Krug kühles Quellwasser an. Beides wurde dankend angenommen, dann begann Ragnars Bote seinen Bericht.
Der Jarl war bei seiner Botschaft sehr offen gewesen und der Überbringer seiner Nachricht war es jetzt ebenfalls.
»Horik strebt eine harte Strafe für Arngrim und seine Männer an«, ließ er Jorunn wissen. »Ragnar rechnet damit, dass er die Angreifer töten lassen wird. Hatten viele von uns einen Holmgang erwartet, so glaubt der Jarl inzwischen nicht mehr an ein ehrenhaftes Gericht. Der König will seine Macht ausbauen. Dabei kann er keine Gegenwahr gebrauchen. Er wird Strenge zeigen wollen, um allen klarzumachen, was sie erwartet, sollten sie jemals gegen ihn sein.«
Jorunn seufzte, Was der Mann ihr offenbarte, war für sie nicht neu. Zur Macht gehörte die Furcht der Untertanen, das wusste sie schon lang. Die Wege, eine solche Furcht sicherzustellen, waren verschieden, führten aber immer zum selben Ziel – der Unterwerfung der Schwächeren. Jeder von ihnen übte auf die eine oder andere Art Macht aus. War ein Sklave ungehorsam oder aufmüpfig, bekam er die Peitsche zu spüren, wurde ein Kind frech oder faul, gab es eine Maulschelle. Man konnte durch Gewalt herrschen oder durch Überlegenheit. Sie, Jorunn, zog ihre Macht aus den Geheimnissen und dem Wissen um die Götter. Ragnar zog seine Macht aus der Geschicklichkeit, mit der er Straumfjorður vorstand und seine Männer mit Klugheit in den Kampf führte.
Doch Macht war nicht unvergänglich. Es mochte sogar sein, dass der Träger der Macht ihrer müde wurde. Fast schien es so, als sei Ragnar an eine solche Grenze gekommen.
»Was also erwartet der Jarl von mir?« erkundigte sie sich bei dessen Boten.
Der Mann lächelte ihr entschuldigend zu. Offenbar hatte er den Auftrag, ihr besonders freundlich zu begegnen, was nach den Differenzen zwischen dem Jarl und ihr durchaus entscheidend sein konnte.
»Ragnar bittet dich darum, ihm bei den kommenden Entscheidungen beratend zur Seite zu stehen. Er hat kein Bedürfnis, Moseby zu vernichten und hofft, durch deinen Weitblick die richtigen Argumente zu finden, Horik zur Mäßigung zu bewegen.«
Der Bote schluckte trocken. »Wenn ich ehrlich bin, Seherin, läuft uns die Zeit für eine friedliche Lösung gerade davon. Es kann sehr gefährlich sein, einem König zu widersprechen. Deshalb ist es wichtig, dass du ohne zu zögern zum Thinglager kommst. Auch wenn du am Rat nicht direkt teilnehmen kannst, wird jeder auf deine Stimme hören. Wir brauchen dich, Straumfjorður braucht dich!«
Jorunn schloss für einen Moment die Augen und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
»Ich kann diese Einladung kaum ablehnen«, gab sie dann zu, »zumal ich selbst auch die unsichere Zukunft Straumfjorðurs gespürt habe. Falls mein Rat das kommende Unheil noch abwenden kann, muss ich Ragnar beistehen. Doch die Wege der Götter sind für uns Menschen selten zu durchschauen. Es kann sein, dass sie genau diese Verwirrung und das Chaos wollen, das auf uns zukommt. Dann werden alle noch so klugen Worte nichts an Horiks Entscheidung ändern. Das Schicksal ist unerbittlich und die Fäden der Nornen folgen nur ihren eigenen geheimnisvollen Wegen.«
Ragnars Bote nickte. »So war es und so ist es und so wird es sein«, murmelte er die übliche Antwortformel auf einem Spruch der Seherin. »Wir könnten mit dem ersten Licht des kommenden Morgens aufbrechen«, schlug er vor. »Je eher wir reiten, umso mehr Zeit bleibt Ragnar, sich gemeinsam mit dir auf das Thing vorzubereiten. Er wird alle guten Argumente brauchen, die ihr finden könnt.«
Jorunn nickte und erhob sich. »So soll es sein. Ich werde dich im Morgengrauen hier erwarten. Dann reiten wir.«
Der Bote verabschiedete sich respektvoll. Die Völva aber beschloss, sich zum Nachdenken an den Strand zu begeben. Das Spiel der Wellen und des Windes konnte ihr helfen, Wege aus dem Chaos zu finden. Wege, die nur gangbar sein würden, wenn die Götter es erlaubten.