Jorunn blieb lange am Strand. Eine alte Frau wie sie benötigte nicht mehr allzu viel Schlaf. Sie sah dem Flug der Möwen und dem Untergang der Sonne zu. Irgendwann im letzten Dämmerlicht des Tages ging sie nachdenklich zurück zu ihrem Grubenhaus und legte sich zur Ruhe. Der kommende Tag würde eine Entscheidung bringen. Ob gut oder schlecht – das wussten nur die Götter.
Mit sich selbst im Reinen bestieg die Seherin am kommenden Morgen das zottelige Pferd, das Ragnars Mann für sie mitgebracht hatte. Im Schritt durchquerten sie die Siedlung, deren Bewohner gerade erwachten. Manch einer sah der Völva nachdenklich hinterher. In einem Ort wie diesem blieb nichts lange geheim und so wussten bereits einige der Zurückgebliebenen, dass ihr Jarl nach der Seherin geschickt hatte. Zwar trug Jorunn nicht ihr rituelles Gewand und ihren Kopfschmuck, doch auch so war ihr Ausritt Grund genug, im Ort erneut über das kommende Thing zu diskutieren.
Jorunn und ihr Begleiter schlugen ein zügiges Tempo an, sodass sie in der Mittagszeit das Lager am Thingplatz erreichten. Inzwischen waren alle geladenen Männer eingetroffen und Ragnar erwartete Jorunns Ankunft ungeduldig. Er wollte genügend Zeit haben, mit ihr alle Möglichkeiten abzuwägen, die das kommende Thing bieten würde.
Die Heilerin entschied sich für das traditionelle Verhalten für eine Seherin. Sie ließ sich ihre Hütte zuweisen, richtete sich ein wenig ein und wartete – jene, die Wissen wünschten, würden zu ihr kommen.
Bis dahin war es gut und richtig, zu den Göttern zu beten und ein Rauchopfer zu bringen. Jorunn hatte einir[1] und būa[2] mitgebracht. Aus wenigen trockenen Zweigen entzündete sie ein kleines Feuer und warf die Räucherkräuter in die Flammen. Der eindringliche Duft verbreitete sich schnell in dem niedrigen Raum und umgab Jorunn bald wie ein zarter Nebel. Die Seherin spürte die Wirkung des Rauchs und fühlte die Nähe der Götter. Ehrfürchtig hob sie eine Hand vor den Mund. Schweigend sprach sie Gebete und Bitten zu den Asen.
» Senn vorv æsir, allir a þingi, ok asynivr alla a mali.«[3]
Wenn die Götter doch auch über ihr Volk weise richten würden! Doch Jorunn war sich an diesem Abend nicht sicher. Wenn Ragnarök nahe war – und inzwischen glaubte sie fast, das Ende zu fühlen – dann halfen noch so zurückhaltende und fürsorgliche Richtsprüche nicht mehr. Ganz gleich welche Fragen Ragnar stellen würde, sie musste bedacht und überlegt antworten und ihn nicht durch Vorwürfe oder zu offensichtliche Anweisungen zu einer Fehlentscheidung treiben.
Als der Jarl später eintraf, ließ sie sich von ihm geduldig alle Gespräche schildern, die geführt worden waren. Ragnar schilderte, wie der König ihm die Hand seiner Tochter angeboten hatte – ein Geschenk, das er nicht zurückweisen konnte – und wie sich nach und nach an diese Gabe Forderungen und Anweisungen gehangen hatten. Ragnar war sich sicher, dass Horik seine Macht über das Land um Straumfjorður ausbauen wollte. Der fortwährende Kampf mit Harald hatte seinem Ansehen geschadet und auch wenn er inzwischen der Herrscher über Heiðabýr war und somit die Kontrolle über die wichtigste Handelsstadt innehatte, war er sich seines Standes nicht ganz sicher. Rangeleien seiner eigenen Männer um Macht und Besitz konnte er nicht dulden. Doch war es der richtige Weg für Ragnar, seinem König in diese Auseinandersetzung zu folgen?
»Es gibt in dieser verworrenen Angelegenheit kein einfaches Erfolgsrezept, das ich dir geben könnte«, ließ die Seherin ihren Jarl wissen. »Es sind mehrere Wege, die Du einschlagen kannst. Sie werden dich an unterschiedliche Ziele führen, doch jeder von ihnen kann gegangen werden.«
Ragnar nickte. »Auch ich sehe verschiedene Möglichkeiten, wie sich die Zukunft gestalten könnte. Straumfjorður haben wir geschützt, doch wohin ich mich jetzt wenden sollte, kann ich nicht sagen.«
Jorunn starrte in die zarten Rauchfähnchen der verbrennenden Kräuter. »So lass mich dir die Wege beschreiben, die ich erkennen kann«, schlug sie vor. »Du selbst wirst herausfinden müssen, welchen Pfad du beim Thing einschlägst. Ist er erst einmal betreten, wird ein Rückweg nur unter großen Mühen machbar sein. Noch ist die Prüfung durch die Götter nicht beendet.«
›Die Götter‹ – Ragnar seufzte. Gaben ihm die Menschen nicht schon genug zu denken auf? Doch dann straffte er sich und gebot Jorunn mit einer Geste zu sprechen.
»Der breiteste und offensichtlichste Pfad vor dir, mein lieber Ragnar«, begann die Alte, »ist der Pfad der Macht. Er liegt bereits einladend vor dir, geschmückt mit der Gunst Horiks, mit einer engen familiären Verbindung zu unserem König, mit dem Zukunftsversprechen von mehr Land und einem größeren Einfluss. Alles, was du tun musst, um auf diesem Weg erfolgreich zu sein, ist, deinem König seine Wünsche zu erfüllen.«
Der Jarl nickte, als Jorunn schwieg. »Diesen Weg sehe ich auch«, stimmte er zu. »Doch welche Wünsche wird Horik bezüglich Arngrim und seiner Männer haben? Wird er deren Tod wollen und wie kann er diesen rechtfertigen, da von ihren Gegnern noch alle am Leben sind?«
Jorunn konzentrierte sich auf das Feuer und dachte nach. »Horik will Blut fließen sehen und Opfer verlangen«, ließ sie den ernsten Ragnar wissen. »Das Knochenorakel hat mir gesagt, dass Arngrim die Macht über Moseby verlieren wird. Mit ihm werden Männer und Frauen untergehen. Nichts wird für die Siedlung danach sein, wie es bisher war. Eine neue Macht wird sich zeigen, von der ich noch nicht weiß, ob sie uns gut oder schlecht gesonnen ist.«
»Werde ich es sein, der diese Macht ausübt?«
Jorunn runzelte die Stirn. »Du Ragnar …« Sie zögerte. »Ein Teil dieser Macht wirst du sein, mein Jarl«, versicherte sie dann. »Doch ich habe noch eine andere Macht neben dir gespürt. Und ich fühle noch nicht, wer sie tragen wird …«
Ragnar grübelte. »Wenn ich also den Weg der Macht gehe, führt er zu Blutvergießen und einem neuen Herrschaftsverhältnis, von dem wir nicht wissen, wie es sich auf Straumfjorður auswirkt.«
Die Seherin nickte. »So scheint es. Doch es gibt auch noch andere Wege. Ein weiterer Pfad ist der des Verzeihens und der Barmherzigkeit. Doch diesen Weg kannst Du nicht allein gehen. Wenn du Horik dazu bringen möchtest, Zurückhaltung zu üben, wirst du alle deine Männer hinter dir brauchen, um ihn zu überzeugen. Vermutlich wirst du dem König Arngrims Tod nicht ausreden können. Doch du könntest dafür sorgen, dass weder seine Familie noch seine Untergebenen Strafe erleiden. Sie mussten ihrem Jarl folgen, so wie deine Männer dir folgen und ihr alle wiederum dem König. Wenn du diesen Weg gehst, wird sich für Straumfjorður und dich nicht viel ändern. Du wirst weiterleben mit dem, was du dir geschaffen hast. Doch deine Macht wird auch nicht wachsen.«
Der Jarl wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Ein möglicher Weg, mag sein. Doch was hast du noch gesehen?«
Jorunn sah auf und mit einem Mal fühlte sich der Jarl merkwürdig verletzlich bei dem forschenden Blick der Seherin.
»Es gibt noch einen dritten Weg, einen Weg, der großen Mut erfordert. Ich weiß nicht, ob die Götter mit diesem Weg einverstanden wären, noch, ob du die Kraft hättest, ihn bis zum Ende zu gehen …« Sie zögerte.
»Sprich!«, forderte der Jarl sie auf. »Walte dieses Amtes als Seherin und zeige mir diesen dritten Weg.«
Jorunn verneigte sich leicht. »Die Wunsch, mein Jarl, sei mir Befehl. Da du von dem dritten Weg zu hören wünschst, sei er dir genannt.« Sie seufzte. »Wenn man an einem Glied den Brand hat, so wissen wir Heiler, hilft oft nur, dieses Glied zu entfernen. Man lebt danach weiter, auch wenn das Fehlen einer Hand oder eines Beines schwer sein mag. So mag es auch für diesen Weg in die Zukunft sein.«
Die Alte stand auf und trat mit durchgedrücktem Rücken neben das Feuer. Mit der Linken streute sie einige Blätter in die Flammen und atmete den Duft tief ein.
»Ich sehe«, begann sie vorsichtig, »dass der Weg, den du derzeit gehst, nicht von Glück gesegnet ist. Du hast für deine Macht viel aufgegeben, viel geopfert, doch was du dafür bekommen hast, schenkt dir keine Seelenruhe. Wenn du den dritten Weg gehen willst, musst du die Macht aufgeben. Wenn du auf deine Herrschaft verzichtest, kannst du von Horik Gnade für Arngrims Männer und deren Siedlung fordern. Du kannst dein neues zänkisches Weib in die Schranken weisen, ja, du kannst Lathgertha bitten, dass sie dir verzeiht und zurückkehrt. Du kannst zu deinen wahren Freunden zurückfinden und endlich mit deinem Bruder Frieden schließen, der sich zu einem famosen Mann entwickelt hat, den du neu kennenlernen solltest. Niemand wird dir diesen dritten Weg einfach machen, wenn du ihn gehen solltest. Doch er ist gangbar.«
Jorunn verfiel in Schweigen und Ragnar unterbrach die Ruhe nicht.
Nach langem Nachdenken sah die Alte auf und der Jarl erblickte ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Die Pfeilköpfe haben mir Schiffe gezeigt, die nach Westen segelten. Ich fuhr mit einem von ihnen. Mag sein, dass auch du unter den Reisenden sein wirst, mein Jarl. Der dritte Weg könnte der Weg des Abenteuers sein, der Weg eines völligen Neubeginns.«
Mehr konnte auch Jorunn nicht sagen, das wusste der Jarl. Nachdem er die Hütte der Seherin verlassen hatte, suchte er sich einen ruhigen Platz in den Felsen. Eine Nacht blieb ihm, um sich zu bedenken. Eine Nacht, in der er entscheiden musste, wohin ihn sein zukünftiger Weg führen würde – Macht oder Güte, Freunde oder Untergebene, Liebe oder Herrschaft. Die Antwort war nicht einfach. Bevor er einen Weg wählen konnte, blieb dem Jarl nichts anderes übrig, als sich über sich selbst klar zu werden. Wer war er und wer wollte er sein? Ein mächtiger Mann, den man fürchtete und dem man folgte oder einer von vielen, doch geliebt und geachtet?
Ein voller Mond beleuchtete den Grübler, der noch immer wachte, als der Morgenstern am Himmel erschien.
[1] Einir – altnordisch Wachholder
[2] Būa – altnordisch Beifuß
[3] Senn vorv æsir, allir a þingi, ok asynivr alla a mali. Edda, Vegtamskviða, Übersetzung nach Karl Simrock: Die Asen eilten all zur Versammlung
Und die Asinnen all zum Gespräch. Der 1. Vers zu Baldrs draumar