Thorstein hatte den davongaloppierenden Freunden nachgesehen. Auf Rollo konnte man sich im Kampf verlassen, das wusste der Krieger sicher. Wenn der Jarlsbruder eines wirklich beherrschte, so war es die Kunst, die Schwächen von Gegnern zu erkennen und für sich zu nutzen. Also machte sich der Steuermann wenig Sorgen um die Reiter, die ins Hinterland aufgebrochen waren.
Dennoch irritierte ihn dieser Angriff vom Norden her und er war mit seinem Gefühl nicht allein.
"Nordmänner kommen nicht über Land", murmelte auch Rúna, als sie bei den versammelten Kriegern der Siedlung stand, um über ihr weiteres Vorgehen nachzudenken. "Mein Vater hat immer gesagt, dass sie ihre Schilde über das Meer tragen würden", ergänzte sie leise, als sich Thorstein ihr freundlich zuwandte. "Meer, Schwert und Krieger seien bei ihnen eins." Sie nickte heftig, um sich dieser Tatsache noch einmal selbst zu versichern. "Dass Arngrims Männer nun auf ihre beste Waffe verzichten - ihr schnelles und wendiges Boot, mit dem sie ungehindert fast bis in unseren Hafen kämen - ist kaum vorstellbar."
Aodh knurrte zustimmend. "So ist es! Ein Angriff ohne eine einzige Súð oder wenigstens eine Knorr wäre ganz und gar ungewöhnlich und wenig geschickt. Zumal unser Hafen so offen liegt." Unwillkürlich hoben einige der Männer den Kopf und starrten hinaus aufs Wasser. Hier und da sah man Köpfe nicken und hörte zustimmendes Murmeln und Knurren.
"Wir sollen uns in Sicherheit wiegen", vermutete Teitr, der den Blicken der Männer gefolgt war. "Vielleicht haben sie sich an der Grenze absichtlich zu erkennen gegeben …"
"Wenn sie auch übers Wasser kommen, hätten sie uns gut und gern in die Zange nehmen können … wären wir nicht gewanrt worden", ergänzte Thorstein wütend. "Ja, ich bin mir fast sicher, dass das der Plan war. Und wenn das so ist, haben wir Arngrims Boote demnächst hier im Fjord und vor unserer Küste. Wir sollten wachsam sein!"
Sie berieten sich weiter und machten Pläne, wie man der Gefahr begegnen könne. Bald nachdem sie auseinandergegangen waren, um ihre Ideen umzusetzen, schwang sich Teitr auf seine mit Proviant und Fellen bepackte Stute und trabte auf dem Küstenweg nach Osten, um auf die befürchteten Schiffe zu warten und seine Freunde bei deren Eintreffen rechtzeitig zu warnen.
Hätte ein Fremder nun das Treiben in der Siedlung beobachtet, so hätte er erstaunt sehen können, wie die beiden Gerber ihre stinkenden, halb fertigen Häute zum Trocknen auf den einzigen freien Strandflächen am Hafen aufbreiteten, dabei einen einzigen Weg zum Ort hin frei lassend. Er hätte sehen können, wie die Fensterläden der Schildhalle unauffällig vernagelt wurden und an der Hintertür ein kräftiger Riegel angebracht wurde. Sicher hätte es ihn ebenfalls verwundert, dass man an den verdeckten Seiten dieses Haupthauses an einem schönen Sommertag zusätzliche Holzbündel stapelte. Jorunn traf ein und übergab Aodh drei schwere verschlossene Krüge, die dieser hinter dem Brunnen versteckte. Alles in allem erschienen die Vorbereitungen für den Uneingeweihten recht seltsam.
Teitr war inzwischen deutlich nach Osten vorgedrungen und hatte sein Lager auf einer Klippe aufgeschlagen, die so weit ins Meer hineinragte, dass sie ihm einen guten Blick auf das Kattegat(1) ermöglichte. Sollten Arngrims Raubgesellen zu Schiff gegen Straumfjorður ziehen, kämen sie nicht unbemerkt an ihm vorbei. Der alte Mann humpelte schwerfällig zu einem erhöhten Vorsprung knapp vor der Abbruchkante und ließ sich seufzend darauf nieder. Langsam wurde er zu alt für solche Abenteuer. Thorstein hatte ihn gedrängt, mit den Frauen und Kindern ins Moor zu gehen. Der Steuermann war ganz ehrlich gewesen und hatte zugegeben, dass er ihn, seinen besten Freund, nicht in einem sinnlosen Geplänkel zwischen verfeindeten Nachbarn verlieren wollte.
"Rúna und ich brauchen dich noch viele Jahre als Freund und Ratgeber", hatte er versichert. "Selbst Ragnars Ehre kann nicht so viel wert sein wie dein Leben!"
Es hatte Teitr gerührt, mit wie viel Ernst Thorstein zu ihm gesprochen hatte. Dennoch war er später mit ihm nach Straumfjorður geritten. Immerhin hatte auch Rúna sich geweigert, zurückzubleiben und der alte Vorarbeiter war mit seinem Freund so verblieben, dass er es sich zur vordringlichen Aufgabe machen würde, diese zu schützen.
Nun aber galt es erst einmal, den Feind so zeitig wie möglich am Horizont zu entdecken. Teitr wusste aus ihren gemeinsamen Absprachen, dass Thorstein einige schlaue Vorbereitungen treffen würde, um ihren Sieg gegen Arngrim so sicher wie möglich zu machen. Selbst Lathgertha und Rúna waren beeindruckt gewesen, wie listig dessen Ideen gewesen waren. Doch auch die beiden Frauen hatten gute Vorschläge eingebracht, wie man den feind am besten ablenken und die gewünschte Richtung locken könne.
Teitr lächelte still in sich hinein. Rúna war mutig! Das hatte er zwar schon bei ihrem Kampf gegen die Wölfe erkannt. Heute aber, im Angesicht der neuerlichen Bedrohung, kam ihre gute Abstammung vollends zur Geltung. Thorstein hatte sich eine großartige Gefährtin gewählt, um die ihn Teitr beneidet hätte, wäre er ein halbes Schock Jahre jünger gewesen. So aber sah er in der jungen Frau auch ein wenig die Tochter, die er nie selber hatte haben können …
Der alte Steuermann sann über Vergangenes und Kommendes nach, während er aufmerksam hinaus ins Kattegat starrte. Völlig sicher, dass Arngrims Boote schon heute kämen, war er sich nicht. Die Wege zu Lande und zu Wasser waren manchmal schwer zu berechnen. Ein Läufer war kein Reiter und eine Knorr keine Súð. Arngrim aber würde ebenso wie Ragnar keines seiner schnellen Kriegsboote zurückgelassen haben. Das wäre eine so große Respektlosigkeit gegenüber Horik gewesen, dass er sich diese nicht leisten konnte, zumal er ja dessen Anerkennung benötigte, vorausgesetzt, er konnte Straumfjorður seinem Besitz einverleiben.
Die Zeit wurde Teitr nicht lang und selbst die Kühle der Nacht störte ihn in seinem dicken Schafspelz nur wenig. Der Alte blieb wachsam. Als dann am frühen Morgen ein dunkles Rauchzeichen über der Bucht aufstieg und sich nur wenig später der Bug einer starken Knorr vor den Augen des Wächters zeigte, war dieser nicht überrascht. Eher erstaunte es ihn, dass er nur ein einziges Boot zu sehen bekam. Ein Boot … das mochten höchstens zwei Dutzend Männer sein … Auch die Stärke des Gegners war durch die Leidang stark reduziert.
Teitr wartete geduldig ab, ob der Knorr nicht noch ein weiteres Boot folgte, dann sattelte er sein Pferd und schlug einen schnellen Trab an, den er bald darauf zu einem Galopp werden ließ. Viel eher als die Ruderer Arngrims traf er in der bedrohten Siedlung ein und gab seine Beobachtungen an Aodh und Thorstein weiter.
Die Unverfrorenheit des Gegners versetzte nicht nur diese beiden in Zorn. Knurrend und voller Kampfeifer wurden viel der frisch geschliffenen Schwerter aus den Scheiden gezogen und die Gegner mit Verwünschungen und kernigen Flüchen bedacht.
Dann, als sich Jorunn und Rúna der wilden Horde näherten, wurden die Unmutsbekundungen leiser und verstummten vollständig, sodass die beiden Frauen ein letztes Mal vor dem Kampf die Götter anrufen und um Beistand ersuchen konnten. Ein Zicklein wurde geopfert, dessen Blut die Völva in einer Bronzeschale auffing. Jeder der Krieger und ebenso die Schildmaiden tauchten einen Finger in diese heilige Flüssigkeit, um sich damit zuerst die Stirn zu zeichnen und den Rest dann bedächtig abzulecken. Blut gab Kraft und Mut. Der Akt des Teilens verband die Männer und Frauen bei dem bevorstehenden Kampf.
Erneut kreiste das inzwischen allgegenwärtige Rabenpärchen über Straumfjorður und keiner der Kämpfer zweifelte daran, dass ihnen Odin selbst durch Hugin und Munin ein wohlwollendes, stärkendes Zeichen geben wolle.
(1) Das Kattegat - hierzu muss ich noch mal ein paar Anmerkungen machen. Man hat in der Serie Ragnars Jarlssitz Kattegat genannt. Bestimmt hat der Name nicht nur mich verwirrt! Denn in Wirklichkeit ist es eben keine Siedlung! Das Kattegat ist das 22.000 km² große und durchschnittlich rund 80 Meter tiefe, äußerst schwierig zu befahrende Meeresgebiet zwischen Jütland und der schwedischen Westküste. Bei Skagen grenzt es an das Skagerrak. (Quelle: Wikipedia) Mein fiktives Straumfjorður liegt in meiner Vorstellung etwas nordwestlich von Aarhus an der Küste des "Katzenlochs".