Die Raben krächzten unheilverkündend. Rúna starrte einen Moment lang zu den beiden kreisenden Raubvögeln hinauf, bevor sie seufzend Lathgertha folgte, die mit einem Weidenkorb voller Wäschestücke am Arm zum Hafen hinunterging. Eine weitere Schildmaid folgte ihr, ebenfalls einen Korb am Ellenbogen schaukelnd. Alle drei Frauen trugen einfache Gewänder, die Mägden zugestanden hätten. Sie schwiegen und schritten zügig ihrem Ziel - dem Ufer des Hafenbeckens - entgegen.
Thorstein sah den dreien nach und hielt betend eine Hand vor den Mund. Möge nur Odin ihre Pläne erfolgreich sein lassen und seine Rúna heil zu ihm zurückführen.
Dass gerade sie sich als Köder für die feindlichen Krieger gemeldet hatte, war ihm unverständlich und machte ihm auch Angst. Seine Gefährtin war mutig, das wusste er. Und sie konnte bis zu einem gewissen Maß auch kämpfen. Er hatte ihre Übungen mit Lathgertha genau beobachtet. Doch sie hatte noch nie einen Menschen getötet und wenn es nach ihm ging, dann sollte das auch möglichst so bleiben. Nichts veränderte einen Menschen mehr, als in das brechende Auge eines eigenhändig getöteten Feindes zu sehen.
Aufmerksam beobachtete der Steuermann nun die Hafenausfahrt, um deren Biegung bald Arngrims Knorr steuern musste. Er lag rittlings auf dem Dach der Schildhalle und verbarg seinen Kopf hinter den gekreuzten Giebelbalken mit den geschnitzten Raben. Lathgertha hatte vorgeschlagen, die feindlichen Krieger mit ihren kämpferischen Frauen anzulocken. Ein so kleiner Trupp wie die Besatzung der Knorr würde sich nur ungern beim Einfall in eine feindliche Siedlung trennen. Doch wenn ein Großteil der Krieger in kopfloser Gier ein paar wehrlosen Frauen in die Schildhalle folgte, konnte man die Männer dort festsetzen, ohne dass es die eigenen Kämpfer gefährdete. Ihre Argumentation war ihm so bestechend einfach und sinnvoll erschienen, dass er dem Plan zugestimmt hatte. Auch Aodh, Teitr und die anderen waren von der Idee der Jarlsgefährtin angetan gewesen. Jetzt aber, da er Rúna weit weg von seiner schützenden Hand unten am Hafen sah, kam Thorstein ihr Plan längst nicht mehr so lückenlos schlau und machbar vor. Was, wenn die Männer sich doch trennten? Wenn Rúna oder eine der anderen beiden Frauen stürzte und sie gar nicht bis in die Halle kamen? Wenn die Feinde ihren Plan durchschauten oder - und das wäre das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte - doch nach der neuesten Kampfart Bogenschützen mit sich brachten? Gegen die weitreichenden, tödlichen Pfeile wäre Rúna auf ihrem Rückweg völlig ungeschützt …
Ein leichter Wind kam auf und wehte Thorstein ins Gesicht. Dieser würde die Feinde zu ihnen bringen! Ihm blieb keine Zeit mehr zum Grübeln!
Schon hatten die Frauen unten am Hafen ihre Röcke geschürzt und waren ins knietiefe Wasser geschritten. Sie hatten dem Meer absichtlich ihre Rücken zugekehrt und schienen plaudernd ihre Wäsche zu waschen. Doch Thorstein wusste es besser. Aufmerksam behielten sie trotz ihrer abgewandten Stellung die Hafenausfahrt im Auge. Alle drei trugen Dolche in den weiten Falten der Röcke verborgen und hinter der offenen Tür der Schildhalle wurden sie schon von ihren Waffen und der Mehrzahl der Siedlungskrieger erwartet.
Thorstein hob die Hand. Bald musste es soweit sein. Mit einer verabredeten Geste gab er den wartenden Frauen der Siedlung ein Zeichen, die Feuer in allen Häusern zu löschen. So würde zwar noch ein Hauch von Rauch aus den Schornsteinen steigen, wenn Arngrims Männer sie von weitem beobachteten, doch die Gefahr, dass beim Einfall der Räuber ein Brand gelegt wurde, sank im ein Vielfaches.
Männer und bewaffnete Frauen versteckten sich zwischen den Häusern, extra hierfür angelegten Stapeln von Bauholz und dem Brunnen. Dort, am Brunnen, hatten sie auch Jorunns pechgefüllte Krüge versteckt, die Thorstein aber nur im äußersten Notfall aufschlagen lassen würde, um ihren Rückzug zu sichern - käme es denn soweit. Der dicke, schwarze Rauch und die Hitze könnten die Verfolger eine Weile aufhalten … Das Stroh, das dieses Feuer nähren würde, lag am Ortsrand bereit …
Der Steuermann kniff ungeduldig die Augen zu Schlitzen zusammen. Er musste sich konzentrieren! War das nicht ein Schatten weit draußen an der Hafeneinfahrt? Richtig! Das geblähte, rostrote Segel der Knorr zeigte sich. Noch ehe Thorstein die Anzahl der Männer auf dem Boot erkennen konnte, wurde das wollene Segel eingeholt und die Ruderer ließen die Riemen zu Wasser. Langsam kam das Lastschiff näher. Thorstein verzog abfällig das Gesicht. Was für eine Schnecke!
Nie und nimmer konnte eine Knorr zu einem Kriegsschiff werden! Er mochte die wendige, schnelle Ragnarsúð viel lieber! Ja, wenn man Handel betreiben oder – wie seine Vorfahren – fremde Länder erkunden wollte. Doch für einen Raubzug war die Knorr zu langsam und zu behäbig.
Nun also kamen Arngrims Männer näher und der Steuermann stellte fest, dass Teitr rechtbehielt. Da waren kaum zwei Dutzend Männer. Dabei hätte mehr als die doppelte Anzahl auf der Knorr Platz gefunden! Mit den Schildmaiden zusammen brachten sie ein gutes Dutzend mehr Leute auf, um ihre Siedlung vor diesen Grindsköpfen zu verteidigen.
Böse grinsend stieß Thorstein einen halblauten Pfiff aus und zog sich dann vom Dach der Schildhalle zurück. Zusammen mit Aodh und zwei weiteren starken Kriegern wollte er sich zwischen Hafen und Siedlung verstecken, um den Angreifern in den Rücken zu fallen. Vielleicht hatte er diesen Posten auch gewählt, weil er so näher bei Rúna sein konnte. Doch das war etwas, was der Krieger höchstens vor sich selbst zugegeben hätte.
»Los geht’s!« Thorstein nahm ein unterarmlanges Messer von dem wartenden Aodh entgegen und schob es nachlässig in eine Schwertscheide auf seinem Rücken. Sein Schwert selbst lag schon hinter einem halbhohen Dickicht am Hafen bereit. »Wir sollten auf unseren Plätzen sein, bevor sie zu viel erkennen können.«
Die beiden Männer nahmen ihre Verstecke ein. Ein letztes Mal hieß es warten.
Lathgertha und Rúna tauschten sich währenddessen ebenfalls halblaut aus. »Sie sind da!« hatte auch Lathgertha gemurmelt, als sie das Segel der Knorr durch ihre angehockten Beine hindurch ausmachte. Sie zog ihren Rock noch ein wenig höher und ließ mehr ihrer festen nackten Beine sehen. »Geben wir ihnen etwas zum Anschauen!«, forderte sie ihre beiden Begleiterinnen auf. Beide schlossen sich ihr an und entblößten einen guten Teil ihrer Beine. Ihre Freundin Glókolla(1) lachte auf.
»Du hast recht. Außerdem glauben wir ja, dass nur noch ein paar alte Großväterchen im Ort sind und wir uns ein paar mehr Freiheiten herausnehmen können. Also tun wir das auch.«
Sie zog sich zusätzlich einen Ärmel ihrer Tunika über die Schulter und ließ eine ihrer Brüste hervorblitzen. Lathgertha sah sie grinsend an und lockerte nun ebenfalls ihr Mieder. »Es kämpft sich auch besser mit ein wenig mehr Bewegungsfreiheit«, stimmte sie zu. »So bekomme ich jedenfalls besser Luft.«
Nun gab auch Rúna schüchtern ein wenig mehr Sicht auf ihren Oberkörper frei, lief dabei aber rot an, so wie immer, wenn sie sich betrachtet fühlte. »Du musst nicht so schüchtern sein«, wies Glókolla sie zurecht, die mit ihren fuchsroten Locken ihrem Namen alle Ehre machte. »Du hast einen sehr schönen Körper. Wenn ich Frauen bevorzugen würde …« Sie lachte. »Ich würde dich die ganze Nacht liebkosen.«
Lathgertha fiel in das Lachen ein. Auch ihr gefiel die schlanke Rúna gut. »Thorstein tut das hoffentlich recht oft«, stimmte sie ihrer Freundin zu. »Es wäre sonst reine Verschwendung, dass gerade er so etwas Leckeres bekommen hat.« Sie lachten und Rúna hätte sich am liebsten in den Wellen versteckt. Dass diese Frauen aber auch immer aussprachen, was sie dachten. ›Etwas Leckeres‹, sowas! Doch dann musste sie grinsen. Es stimmte schon, wenn Thorstein sie liebte, sah er sie oftmals an wie eine Nascherei. Sie erinnerte, dass er ihre Haut einmal mit den weichen, samtigen Pfirsichen des Südens verglichen hatte. Wieder wurde sie rot.
»Thorstein ist sehr gut zu mir«, flüsterte sie, schamvoll, dass sie so ehrlich war. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und sah Lathgertha offen ins Gesicht. »Und da du es unbedingt wissen wolltest: Er ist auch sehr … lecker!" Entsetzt über ihre respektlosen Worte senkte die junge Frau den Kopf. Ihre langen braunen Haare verdeckten ihr Gesicht, dessen Wangen dunkelrot waren. Wie konnten sie nur im Angesicht der Feinde ein solches Gespräch führen?
Doch gerade das hatte Gertha beabsichtigt, ihre Freundinnen noch ein wenig von der drohenden Gefahr abzulenken und ihnen Mut zu machen. Nach wie vor nahm sie aus dem Augenwinkel wahr, wie die Knorr näherkam. Das unbeschwerte Gelächter Glókollas musste bis hinaus zu den Männern dringen. Sie sollten ruhig glauben, dass diese drei Waschfrauen vollkommen arglos waren!
Freundschaftlich gab sie der immer noch verschüchterten Rúna einen kleinen Schlag auf die Schulter. »Das ist er bestimmt – dein Thorstein!«, stimmte sie zu. »Und er ist ein großartiger Krieger, der schon darauf wartet, unseren Rückzug zu sichern«, gab sie mit einem Blick zu dem nahe gelegenen Gestrüpp bekannt, hinter dem sich der Krieger verbarg. Nichts verriet die Anwesenheit der vier Männer, die zu beiden Seiten des Weges lauerten.
Rúna nickte. »Wir sollten waschen!«, ermahnte sie die beiden anderen Frauen halbherzig und gestattete sich auch einen heimlichen Blick auf die Knorr. »Sie sind schon recht nahe!« Glókolla nickt. »Ja! Doch es reicht noch nicht!«
Energisch tauchte sie wahllos irgendein Wäschestück ins Wasser und begann es dann mit dem Schlegel zu bearbeiten. Dabei wackelte sie aufreizend mit dem Hintern, um wirklich aufzufallen.
Auch Rúna gab vor zu waschen. »Ich kann ihre Gesichter erkennen«, murmelte sie halblaut. »Es sind viele!«
»Doch sie müssen noch näherkommen«, legte Lathgertha fest. »… uns fast schon in die Augen schauen.« Sie wiederholte, was die drei schon ausführlich besprochen hatten: »Dann werden wir laut schreien und stolpernd davonlaufen. Achtet darauf, dass sie nicht zu weit hinter uns bleiben, aber auch nicht zu nahekommen.«
Glókolla richtete sich mit dem Rücken zur Knorr auf und streckte sich. Das war das Zeichen an die Männer, dass sie die Feinde beobachteten und bald zur Schildhalle laufen würden - eine weitere Sicherheit, die Thorstein befohlen hatte.
»Lasst uns etwas singen«, schlug Rúna vor. »Das ist unauffällig und erklärt, warum wir die Ruderschläge nicht hören.«
Gertha nickte und begann: »På mine længslers vinger …« Sie fielen ein: »Fløj jeg mod guderne.(2)«
Die Ruderschläge der Knorr waren nun auch trotz ihres Gesangs zu hören. Es war so weit!
Lathgertha strich sich die Strähne aus dem Gesicht und versuchte diese in ihrem Zopf zu befestigen. Dabei wandte sie sich wie zufällig zum Meer und warf einen letzten abschätzenden Blick auf die nahe Knorr. Dann stieß sie den verabredeten Schreckensschrei aus und stand einen Moment wie erstarrt. Rúna und Glókolla folgten ihrem Blick und begannen nun auch zu schreien. Betont hektisch sammelten sie ihre Wäsche ein - was noch ein wenig Zeit für die Feinde ergab - und liefen dann, sich immer wieder umwendend, in Richtung Siedlung davon. Ihre gerafften Röcke gaben den Blick auf ihre schlanken Beine ebenso frei wie die gelockerten Mieder auf ihre weißen Brüste.
Thorstein verfolgte das gut inszenierte Schauspiel mit verdrießlichem Blick. Arngrims Männern musste bei diesem Anblick der Geifer aus den gierigen Mäulern tropfen. Wenn sie sich diesen gut ausgelegten Köder nicht schnappen wollten, wusste er auch nicht … Wenn nur keine Bogenschützen …
Doch er kam nicht dazu, länger nachzudenken. Der Feind hatte die Lockvögel entdeckt. Grölend sprangen Arngrims Männer ins seichte Wasser des Strandes, noch ehe die Knorr richtig angelandet war. Wie erwartet, hielten die stinkenden Felle des Gerbers sie davon ab, sich allzu verstreut an Land zu begeben. Sie folgten dem Weg und rannten den flüchtenden Frauen nach. Diese stolperten hin und wieder absichtlich, ließen gar ihre Wäsche fallen, die Lathgertha - Thorstein blieb fast das Herz stehen - in einem Anflug von Todesverachtung wieder aufsammelte, weiter laut schreiend. Hier und da taten sich Türen auf und die Alten schauten erschreckt nach draußen, wie sie es vereinbart hatten. Nirgendwo lockte bessere Beute als in der Schildhalle, in die die Frauen nun endlich verschwanden, Arngrims Männer dicht auf den Fersen.
Auch Thorstein und seine drei Krieger sprangen nun auf und folgten den Angreifern ihrerseits. Diese waren den Frauen, die gerade die Schildhalle erreichten, dicht auf den Fersen. Zwar schlug Rúna die Tür zu, doch mit ein paar Stiefeltritten wurde diese für die Feinde wieder geöffnet und bis auf zwei Zurückbleibende verschwanden alle Angreifer grölend in der Dunkelheit.
Noch im Lauf hatten Aodh und Thorstein ihre Schwerter gezogen. Die beiden Wächter Arngrims bekamen keine Zeit, sich Übersicht über ihre Angreifer zu verschaffen, da krachte schon Eisen auf Eisen und der Kampf begann. Thorstein nahm sich nicht die Zeit, seinen Feind kunstvoll zu besiegen. Mit aller Kraft und all seinem unbändigen Zorn über den hinterhältigen Angriff war er ein Krieger, der den Berserkern der Legenden in nichts nachstand. Drei oder vier Hiebe genügten und das erste Blut floss. Einen Lidschlag später sank der Mann zu Boden. Neben ihn fiel die Leiche des anderen Aufpassers und die vier zornigen Krieger drangen in die Schildhalle ein.
[1] Glókolla: nordisch - Feuerkopf
[2] På mine længslers vinger fløj jeg mod guderne. Dänisch, aus dem gleichnamigen Gedicht von Dan Nielsen (deutsch nach Michaela Macha: » Auf den Schwingen meiner Sehnsucht
flog ich hinauf zu den Göttern.«