In den ersten Tagen nach dem Kampf gab es für alle mehr als üblich zu tun. Vieles war liegengeblieben, hatten sie aufgeschoben. Alltägliche Arbeiten, die nicht länger warten konnten, normales Siedlungsgetümmel in Straumfjorður.
Und es galt, ein paar Entscheidungen zu treffen. Sie hatten über ein dutzend Tote gezählt, von denen die meisten zu ihren Feinden gehörten. Thorstein und Rollo scheuten sich davor, diese Leichen einfach ins Meer zu werfen oder sie den Raben zum Fraß zu überlassen. Einerseits waren es zu viele, um sie würdig zu verbrennen, andererseits waren es keine völlig Fremden, die man gänzlich würdelos hätte wegschaffen können.
Sie grübelten lange hin und her. Schließlich war es Teitr, der eine Idee hatte. »Es ist ein Mann unter den Gefangenen, dessen Fuß gebrochen ist«, begann er. »Selbst, wenn wir warten, bis er wieder laufen kann, wird ein solches Hinkebein in Haithabu oder bei einem Austausch wenig wert sein. Setzen wir ihn doch auf einen Eselkarren, laden die gefallenen Verräter auf und bringen ihn nahe an Moseby heran. Das letzte Stück wird er dann schon allein kutschieren und sei es bloß, um seine wertlose Haut zu retten …«
»Dann kann er den Weibern dort auch gleich erklären, wo sie die Reste jener Männer finden, die über den Landweg kamen … Die können sie sich gern holen, wenn ihnen etwas an den Toten gelegen ist.«
Sie schimpften und fluchten ausgiebig auf Arngrim und wünschten ihm die Pest an den Hals. Dann allerdings überwog die Vernunft und sie beschlossen, alle feindlichen Gefallenen zurückzuschicken. Diese makabere Botschaft würde den Zurückgebliebenen in Moseby sicher jede Lust auf weitere Angriffe nehmen. Außerdem vermieden sie es auf diese Weise, durch die Kadaver wilde Tiere auf ihr Land zu locken.
Die Frauen beschäftigte indessen die Versorgung der Verletzten. Von Jorunn angeführt, galt die Fürsorge zunächst den eigenen Männern. Doch auch die Gefangenen erhielten Verbände und wo es nötig war, den einen oder anderen schmerzlindernden Kräutersud.
Ein junger Mann aus dem fernen Franken hatte einen schweren Hieb gegen den Bauch erhalten. Bevor sie die blutverkrusteten Gewänder entfernten, besah sich Jorunn zweifelnd das Problem. »Eine tiefe Wunde an einer solchen Stelle ist äußerst gefährlich«, belehrte sie Runa. »Wenn die Eingeweide Schaden genommen haben, ist dem Mann nicht mehr zu helfen …«
Vorsichtig zogen sie den Verletzten ein dickes Untergewand aus Wolle und Leinen aus, das sich bereits mit Blut vollgesaugt hatte. Doch der Gambeson, den der junge Franke unter seinem Kettenhemd getragen hatte, schien die Härte des Schwerthiebes ein wenig abgefangen zu haben. Jorunn und Runa fanden eine tiefe Fleischwunde vor, doch die Verletzung überschritt nicht die Bauchdecke.
Runa seufzte. »Nun wird er also leben«, stellte sie erleichtert fest.
Die Völva nickte. »So ist es wohl. Doch was für ein Leben das sein wird …?«
Die beiden Frauen schwiegen nach dieser Frage nachdenklich. Runa ahnte, dass Ragnar mit den Gefangenen nicht zimperlich umgehen würde. Damals, als er sie auf Aris Hof gefangennahm, hatte sie gesehen, wie die Nordmänner kämpften. Gnade kannten sie nicht. Der Jarl hatte Ari den Gnadenstoß erteilt, als dieser bereits vor ihm auf den Knien lag und sich nicht mehr zur Wehr setzte. Danach hatten sie Feuer gelegt und alles verbrannt, was sie nicht als Beute mit sich nahmen. Ob auch Moseby bald brennen würde? Runa ahnte, dass es so sein könnte.
Das schienen auch die Männer Arngrims nicht viel anders zu sehen, denn sie schwiegen trotzig, als man sie mit den Franken zusammen in einer Sklavenhütte einsperrte. Dabei machte Rollo keinen Unterschied zwischen Verletzten und Unverletzten. Mochten sich die Angreifer doch gegenseitig helfen! Jorunn hatte die Wunden verbunden und Weidensud verteilt. Mehr war nun wirklich nicht nötig!
Runa aber war sich unsicher. Einerseits waren diese Männer Feinde, die sie und alle anderen ebenso behandelt und zu Sklaven gemacht hätten, wären sie siegreich gewesen. Andererseits waren das ihre Nachbarn, Männer vom gleichen Volk, Seefahrer und Krieger wie ihr Thorstein, Aodh, Rollo und die anderen …
Der Gedanke ließ sich auch bis zum Abend nicht völlig vertreiben. Nachdenklich saß die junge Frau mit ihrem Gefährten im Sonnenuntergang am Bootssteg und beobachtete, wie die Sonne langsam im Meer versank. Von Osten zogen schwere Wolken herauf und in der Nacht würde es gewiss regnen. Doch noch lag nur der Duft des salzigen Meeres in der Luft …
Auch Thorstein war in Gedanken versunken. »Es war anders, als gegen Unbekannte zu kämpfen«, murmelte er irgendwann leise. »… so viel intensiver … irgendwie falsch und doch sehe ich nicht, was wir hätten anderes tun können.«
Erstaunt schaute Runa zu dem grübelnden Mann an ihrer Seite. »Dann hat es dich also auch gestört, dass sie uns so ähnlich sind?«
Der Krieger nickte. »Es hätten genausogut Aodh oder Gylve sein können, mit denen ich meine Kraft maß. Wenn Ragnar einen Überfall auf Moseby befohlen hätte, wären wir ihm ebenso gefolgt.«
Runa war eine gute Zuhörerin und so verstand sie auch die ungesagten Gedanken zwischen Thorsteins Worten. Hier, wo sie ganz allein waren, konnten sie aber gewiss offen sprechen.
»Meinst du, dass es falsch ist, einem einzelnen Mann, einem Anführer so viel Macht einzuräumen?«, forschte sie nach.
Der Steuermann strich sich müde über die Augen. »Ich weiß es nicht! Das ist etwas, worüber ich schon lange nachdenke.« Er sah seine Gefährtin liebevoll an und strich ihr über das braune, weiche Haar, dessen Locken der Wind nach und nach aus dem strengen Zopf gelöst hatte, den sie sonst meist trug. »Seit Ragnar seine Macht dir gegenüber so gnadenlos ausgespielt hat, kann ich seine Herrschaft nicht mehr als von Odin gegeben sehen. Es ist irgendwie anders seit … Es hat mir Zweifel aufgezwungen, die ich vorher nicht hatte.«
Runa griff zärtlich nach der Hand ihres Mannes. »Es war eine andere Zeit damals, Thorstein«, versuchte sie ihn zu besänftigen. »Wir waren andere.« Sie zögerte einen Moment lang. Dann gab sie zu, was sie seitdem hin und wieder gedacht hatte: »Genaugenommen war Ragnar damals im Recht, als er meinen Körper eingefordert hat. Es ist nun einmal die Pflicht einer Sklavin ihrem Besitzer beizuliegen, wenn dieser es wünscht. Auch wenn die Völva etwas anderes gefordert hat, stand es mir eigentlich gar nicht zu, mich ihm zu verweigern. Dass ich es getan habe, lag nur an meiner Liebe zu dir und es sollte nicht in alle Ewigkeit zwischen dir und dem Jarl stehen.« Sie seufzte leise. »Vergib es ihm, Thorstein und mach deinen Frieden mit dem Jarl – für den Frieden in Straumfjorður und in deinem Herzen.«
Thorstein seufzte schwer. »Das kann ich nicht, Runa! An dem Abend vor dem Brand … noch bevor du dich mir versprochen hattest – habe ich ihn gebeten, dich freizugeben. Und ich war bereit, ihm dafür meinen Sonnenstein zum Geschenk zu machen, weil ich schon damals alles dafür gegeben hätte, dass es dir gutgeht. Ragnar hat meinen Wunsch abgelehnt, mir aber versprochen, dass er einen Weg finden würde, dir die Freiheit zu schenken. Er wusste schon da genau, was du mir bedeutest! Trotzdem hat er seine Gier über sein Versprechen gestellt, hat unser Vertrauen ganz bewusst geopfert für eine zügellose Nacht!«
Der Steuermann redete sich in Rage. »Ein Mann, der so wenig Mitgefühl und Respekt für die ihm anvertrauten Menschen hat – seien es nun seine Sklaven oder seine Gefolgsmänner – kann von mir keine Hochachtung erwarten. Ein Anführer sollte seine Macht weise einsetzen und seine Überlegenheit mit Verstand für das Wohl aller nutzen.«
Nocheinmal zögerte Thorstein. »Doch auch mir ist das erst nach und nach bewusst geworden. Auch ich habe in blindem Zorn auf dich eingeprügelt, obwohl du schon am Boden lagst.« Bedauernd starrte der Krieger aufs Meer hinaus. »Manche Lektion ist wohl nur unter großen Schmerzen und Qual zu lernen. Es tut mir leid, Runa, dass ich nicht eher in der Lage war, dies alles hier«, er wies mit der Hand über Meer und Siedlung, »so zu sehen, wie es ist – unvollkommen und veränderungsfähig.«
Runa lächelte in sich hinein. Thorstein war ein großartiger Mann, vor allem, wenn er so wie jetzt seine geheimsten Gedanken vor ihr preisgab. Für sie bedeutete sein Vertrauen einfach alles, waren seine Zuneigung und Liebe das größte Geschenk ihres Lebens.
Nun hatte er ihr gestanden, dass er sie frei sehen wollte, noch bevor sie sich ihm versprochen hatte. Was für eine noble, großzügige Geste, dachte die junge Frau.
»Es gibt für dich nichts zu bedauern«, legte sie entschlossen fest. »Nur die Götter wissen, welche Wege sie für uns vorgesehen haben. Eines Tages wirst du vielleicht erkennen, dass es genau dieser Weg war, der dich an einen Ort gebracht hat, den du sonst nie hättest erreichen können.«
Sie strich ihrem Gefährten ein wenig schüchtern aber liebevoll über die Schulter. »Vielleicht wird auch aus diesem Kampf etwas anderes entstehen als eine Feindschaft zwischen Nachbarn. Wer weiß das schon? Doch ich denke, für den Moment wird es schon reichen, wenn wir unsere Gefangenen als das zu betrachten, was sie noch immer sind: Jütländer wie wir und Männer, die dem Befehl ihres Anführers folgten. Wir sollten unseren Zorn auf das Geschehene in Zaum zu halten und abwarten, was die Zukunft bringt. Noch liegt ein anstrengender Sommer vor uns. Bei der Ernte und der Tierauslese werden uns die Männer der Leidang bitter fehlen. Und noch weiß niemand, ob sie alle heil und siegreich zurückkommen werden …« Runa zögerte. Von einer möglichen Niederlage Horiks hatten sie noch nie gesprochen.
Doch auch Thorstein hatte sich darüber bereits Gedanken gemacht. Er legte tröstend einen Arm um seine kleine Frau und zog sie eng an sich. »Was uns die Götter heute oder morgen auferlegen werden, weiß niemand«, stimmte er leise zu. »Auch wenn ich unserem König den Sieg dringend wünsche, ist das Schicksal nicht berechenbar. Du hast recht, wenn du zu Zurückhaltung rätst. Man sollte Odin nicht herausfordern.«
Sie saßen noch lange an diesem Abend und beobachteten, wie einzelne Sterne und später ein halbrunder Mond zwischen den Wolken kamen und gingen. Für den Moment war der Frieden in Straumfjorður wiederhergestellt. Doch wie lange das so blieb, wussten sie nicht. Allein Heimdllr mochte die Zukunft kennen. Doch dieser würde schweigen – wie schon immer.