Einen halben Mond später raufte sich Rollo bei ihrem zur Gewohnheit gewordenen abendlichen Zusammensein am Feuer der Schildhalle den struppigen Bart.
»Ich könnte aus der Haut fahren«, knurrte er. »Durch diese Gefangenen sitzen wir nun hier fest und können nicht vor oder zurück. Dabei gäbe es,bei Thor, genug zu tun! Doch dieser Bande von Nichnutzen ist es zuzutrauen, dass sie sich freikämpfen, wenn wir nicht aufpassen. Wären sie doch alle von Fenrir verschlungen worden, ehe sie uns hier solche Probleme machen!«
Thorstein lachte bei diesem scheinbaren Zornesausbruch und auch Jorunn schmunzelte. Dennoch hatte der Jarlsbruder mit seinen Beschwerden recht. Seitdem Arngrims Männer in ihrer Siedlung gefangengesetzt worden waren, musste ein Großteil der Männer abwechselnd Wache schieben, um die ungebetenen Räuber im Zaum zu halten. Ludbert, der Frankenritter, hatte schon zweimal versucht, sich den Weg mit Hilfe der blanken Fäuste freizukämpfen. Nur Aodh war es zu verdanken, dass der grimmige, bis aufs Blut kämpfende Wilde ihnen nicht entkommen war. Danach hatte der Schmied zu seinen Werkzeugen gegriffen und Eisen angefertigt, die den Südländer nun an Händen und Füßen banden und seine Tatkraft deutlich einschränkten.
Doch sie hatten fast ein Dutzend Männer gefasst und auch drei halbwüchsige Jungen, die als Pferdeknechte und Knappen gedient hatten. Diese ganze Horde Wilder saß nun in einem sicheren Schuppen und wartete mit den Bewohnern der Siedlung darauf, dass deren Jarl Ragnar von seiner Leidang zurückkam und ein Urteil fällte.
»Außerdem sind sie hungrig wie die Raupen im Frühling und fressen uns die letzten Haare vom Kopf.« Die rotmähnige Glókolla warf einige Locken über die Schulter und schaute grimmig. »Gestern musste ich schon wieder einen Viertelscheffel mehr Korn mahlen lassen, um diese Faulenzer zu füttern. Wenn das so weitergeht, sind unsere Vorräte bald erschöpft.«
Runa lachte. »Wenn du alle diese Männer mit einem Viertelscheffel abgespeist hast, wird unser Korn noch lange reichen. Nur das Loch in deren Mägen wird größer und größer werden.«
Sie stellte sich vor, wie es gewesen war, bei Ari die Reste zugeteilt zu bekommen. An das Gefühl, nie richtig satt zu werden, erinnerte sie sich noch gut. »Hunger ist ein sehr drängendes Gefühl«, stellte sie ruhig fest. »Man kann ihn nie richtig vergessen. Er nagt und nagt und macht die Sinne mürbe. Wer ihn kennt, weiß einen guten Haferbrei zu schätzen.«
Lathgertha nickte. »Manchmal, wenn der Winter sehr hart ist, hungern wir hier auch«, ließ sie die Freundin wissen. »Einmal habe ich in solch einer Nacht von einer fetttriefenden Gänsekeule geträumt … Das Erwachen war beschämend!« Schmunzelnd schob sie den angeschnittenen Brotlaib etwas näher zu der Jüngeren. »Doch im Moment haben wir genug Speisen für alle.« Sie lachte. »Also nimm schon, bevor dich Thorstein nicht mehr lecker genug findet.«
Zusammen mit Glókolla lachte sie auf, als Runa bis zu den Ohren errötete. Gertha … Wie konnte sie aber auch?
Auch Thorstein lachte mit, zog aber seine Runa dabei in eine liebevolle Umarmung. »Lecker also, Gertha?«, forschte er spielerisch nach. »Tatsächlich lecker?« Er knapperte kurz an Runas Ohr. Dann strich er ihr übers Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Sehr lecker sogar!«, meinte er dann. »Besser als eine frische Honigwabe.«
Sie lachten und freuten sich über ihr ungezwungenes Zusammensein und niemanden schien es zu stören, als die rothaarige Glókolla Rollo eine Hand auf den Oberschenkel legte und ihm leise ins Ohr flüsterte, dass auch er ihr nicht unappetitlich erschiene. Dass der Krieger von dieser Zuneigungsbekundung verwirrt erschien, überraschte die spontane Schildmaid. Doch Thorstein, der die kleine Geste auch gesehen hatte und ahnte, weswegen sein Freund sich den Frauen gegenüber weniger offen verhielt als andere Krieger, freute sich über Glókollas Mut.
Rollo hingegen stand erneut jener Abend in Egberts Burg vor Augen. Einen Moment lang schien er die spöttischen Worte des Königs erneut zu hören: ›… du Milchbart von einem Nordmann‹. Doch dann fand er zurück zur Gegenwart und in die Gesellschaft seiner Freunde. Neben ihm saß eine schöne, begehrenswerte freie Frau, die ihm gerade ihr Verlangen nach ihm ins Ohr geflüstert hatte. Und auch er war der vorlauten Rothaarigen gar nicht abgeneigt. Ganz im Gegenteil! Wenn er es richtig bedachte, hatte ihm Lathgerthas Schwertschwester schon immer gut gefallen. Doch er hatte nie gedacht, dass sie ihn ebenfalls auf diese besondere Art betrachtete …
Unauffällig rückte er ein wenig näher und sog heimlich ihren fraulichen Duft ein. Gut roch sie! Und ihr rote Haarpracht ließ sie wild und abenteuerlustig erscheinen. Mit einem Mal fiel es dem Krieger schwer, sich auf das Gespräch am Tisch zu konzentrieren. Dass eine freie Frau ihn, Rollo, wollte, war etwas ganz anderes als eine Sklavin, die nur durch Befehl das Lager mit ihm teilte. Das war mehr, besser, und mit einem Mal erkannte der Jarlsbruder, dass er das nicht vermasseln durfte. Vielleicht war das die Gelegenheit, sich endlich von dem Gespenst Æthelburgs zu lösen, das ihn noch immer bis in seine Träume hinein verfolgte.
Vorsichtiger, als man es einem Mann wie ihm zugetraut hätte, legte Rolle einen Arm um Glókollas Hüfte. Als sie sich dem in keiner Weise widersetzte, sondern ihm bei der Berührung versonnen zulächelte, zog er sie mutig ein wenig näher zu sich und sie folgte ihm auch in diese erste kleine Bekundung von Zuneigung.
Nun, mit dieser munteren und sehr lebendigen Frau im Arm, gab sich Rollo Mühe, wieder dem Gespräch zu folgen. Es stellte sich heraus, dass auch Thorstein und Aodh unzufrieden mit dem Stand der Dinge in der Siedlung waren. Unnütze Esser, die keine Arbeit verrichteten, mochte keiner von ihnen. Doch sie konnten Arngrims Männer auch nicht einfach frei durch Straumfjorður gehen lassen, ohne deren Flucht, oder schlimmer noch, einen erneuten Angriff zu provozieren. Was also sollten sie tun?
»Ich könnte einen Mann bei mir in der Schmiede beschäftigen«, schlug schließlich Aodh vor und eröffnete so den Weg zu einem guten Plan. »Mit meinen beiden Gehilfen bin ich durchaus in der Lage, einen einzelnen Gefangenen im Auge zu behalten.« Er grinste. »Man könnte ihm Fußfesseln anlegen, wie wir es früher oft mit den Sklaven gemacht haben. Damit wird er zwar langsamer, aber auch besser kontrollierbar.« Wieder lachte der Schmied, dieses Mal zynisch. »Ja, er könnte dabei helfen, seine Kumpane zu fesseln. Damit stiften wir gleichzeitig Unfrieden in der Gruppe. Sind sie sich aber untereinander feind, werden sie sich nicht so schnell gegen uns wenden können.«
Sie wogen Aodhs Vorschlag ab und ließen den Einfall auf sich wirken. Dann ergriff Jorunn das Wort. »Aodh hat recht. Wir müssen Arngrims Männer arbeiten lassen, wenn wir selbst mit unseren Pflichten auf den Feldern und in den Werkstätten nicht in Verzug geraten wollen. Wenn wir sie Mann für Mann aufteilen, sie sorgfältig trennen, sind sie auch weniger gefährlich als jetzt. Lassen wir den Franken und Arngrims Anführer hier in der Siedlung als Unterpfand, werden sie bestimmt stillhalten.«
Und so beschlossen sie es. Schon am nächsten Morgen wollte sich Aodh einen Mann für die Schmiede auswählen, der dann bei der Anfertigung weiterer Fußfesseln helfen musste. Jeder Gefangene, den sie danach binden konnten, sollte entweder auf einem Hof, bei den Gerbern oder Köhlern untergebracht werden. Auch Thorstein und Runa, die auf den Moorseehof zurückkehren wollten, um nach dem Vieh und den Feldern zu sehen, würden einen Mann mitnehmen. Dass Runa sich den verletzten fränkischen Knappen ausbat, dessen Wundversorgung sie weiter übernehmen wollte, wunderte keinen der Freunde am Tisch.
Später am Abend, als sie sich freundlicheren Gesprächen und einem Becher Met zuwandten, nahm Rollo Glókolla bei der Hand und führte sie unter dem Lächeln der anderen hinaus. Doch anders, als es sich die Freunde dachten, ging er mit der Frau an der Hand nicht zu seinem Haus, sondern führte sie hinunter zum Hafen. Hier saßen sie lange in jener Nacht, sprachen flüsternd über ihre Wünsche und tauschten erste, noch züchtige Zärtlichkeiten aus. Viel später, als schon die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont blitzten, begleitete Rolle die Schildmaid zu deren Hütte. Mit einem letzten Kuss trennten sie sich, wissend, dass sie hier etwas begannen, was mehr als eine kleine Liebelei sein konnte.