Nach und nach fanden auch die letzten Männer zur Ruhe und das Weinen der gefangenen Frauen und Kinder verstummte. Das Getuschel und Geraschel wurde vom rhythmischen Schnarchen der Schläfer abgelöst. Langsam stieg der Mond am Firmament etwas höher und beschien das Lager der Nordmänner.
Arngrims Gefolgsmann ließ sich Zeit, den Tiefschlaf der Trunkenen und Müden abzuwarten. Dann erhob er sich aus seinem Versteck und pirschte sich beinahe lautlos an das Lager Ragnars heran, für dessen Tod ihm Arngrim einen ganzen Beutel Dirham geboten hatte. Ein Teil des Lohns steckte bereits als Vorausleistung in seinem Gürtel und drückte zufriedenstellend schwer auf seine linke Leiste.
Ragnar schien tief zu schlafen. Im fahlen Licht der Mondnacht hob und senkte sich seine Brust gleichmäßig. Sein Körper war nur halb von einem Schaffell bedeckt und ein Arm ruhte entblößt auf seiner Hüfte. Noch im Schlaf war die Hand des Jarl zur Faust geballt.
Der stille Beobachter grinste. Nicht mehr lange, dann würde der Gegenspieler Arngrims bei Hel sein. Ob er dann immer noch so stolz und vorlaut blieb? Eigentlich war es dem nīðingr1 egal, so lange Arngrim seinen Beutel nach der Tat reichlich füllte. Was interessierte ihn das Leben des Jarls, wenn es galt, sein eigenes Auskommen zu sichern? Ein Beutel Dirham gab ihm die Freiheit, hinzugehen, wohin auch immer er wollte, gar eine Überfahrt auf einer der Knorrs von Heiðabýr ins Land der Andersgläubigen und Mooren lag dann nicht mehr außerhalb seiner Möglichkeiten. Und war es nicht schon immer sein geheimer Wunsch gewesen, mit den Händlern von Miklagard2 Handel zu treiben?
Er umklammerte des kurzen Dolch in seiner Rechten kraftvoller. Ein sicherer, gezielter Stoß und er konnte, wann immer er wollte, das nächste Schiff nach Osten3 besteigen. Ein tiefer Atemzug besiegelte seine Entschlossenheit. Dann trat Arngrims Mann näher an das Lager des Jarls.
Ragnar hörte den geräuschvollen Atemzug, mit dem sich sein Gegner Mut zu machen schien. Leise knirschte der feine Kies unter den Stiefeln des Verräters. Kein Zweifel der Mann war so weit, anzugreifen. Der Jarl versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Ein offener Kampf gegen einen Gegner im Tageslicht war eine ganz andere Sache, als sich eines hinterhältigen Angreifers zu erwehren, der in der Nacht hinterrücks heranschlich. Hier durfte er nicht auf einen Kampf nach ehrenhaften Regeln hoffen. Und er durfte selbst ebenfalls nicht an seine Ehre denken.
Durch die halb geschlossenen Augenlider beobachtete Ragnar, wie der Mann sich leicht über ihn beugte. Im hellen Licht des Mondes schimmerte der Dolch in seiner Rechten, bereit zum entscheidenden Stoß. Einen kurzen Moment verharrte der Angreifer noch, um das Ziel seiner Klinge zu betrachten. Diesen Augenblick nutzte Ragnar.
Er öffnete die Faust mit dem darin bereitgehaltenen Sand und schleuderte diesen ins Gesicht des über ihm Stehenden. Mit dem Schwung dieser Bewegung rollte er sich zur Seite hin ab und kam dabei wie eine geschmeidige Katze auf die Beine. Mit der Rechten versuchte er sein Schwert zu ergreifen, was jedoch misslang.
Der unerwartet aufstiebende Sand verstellte dem Angreifer zwar erfolgreich die Sicht und brachte den Mann dazu, zornig aufzubrüllen. Doch dieser warf sich trotz der fehlenden Sicht mit vorgestrecktem Dolch in die Richtung, in der er Ragnar vermutete. Dabei gelang es ihm, den Jarl am Oberarm zu treffen. Die Klinge fuhr tief in die Beugemuskeln. Die Spitze der Waffe trat dicht an der Brustwand wieder aus und ritzte diese, ohne weiteren schweren Schaden anzurichten. Doch der Schwertarm Ragnars hing nach dieser Attacke nutzlos an dessen Seite herab und der Schmerz entlockte auch ihm einen wütenden Fluch. An ein Ergreifen des Schwertes war nicht mehr zu denken.
Der Angreifer riss den Dolch zurück und gelangte wieder in den Besitz der Waffe. Ragnar spürte, wie warmes Blut an seinem Arm herablief. Der Schmerz hielt ihn jedoch nicht ab zu kämpfen, sondern trieb seinen Zorn in neue Höhen. Ohne Rücksicht auf die Klinge in der Hand des Anderen, warf sich der Jarl auf seinen Gegner. Die Faust seiner Linken wütete wie ein Hammer im Gesicht des Angreifers und durch einen geschickten Tritt gegen das Knie des Mannes brachte er dessen Kniescheibe zum Bersten und seinen Gegner zum Fall.
Noch einmal setzte sich der zu Boden Geworfene zur Wehr und versuchte, Ragnar mit seinem Dolch den ersehnten Treffer zuzufügen. Doch die Linke des Jarls fuhr an seine Kehle und verhinderte, dass sich der Angreifer auf den Stoß konzentrieren konnte. So glitt die Klinge am Lederwams Ragnars ab und stieß weit höher als geplant ins Fleisch.
Dieser zweite Treffer, nun in der Schulter, war der letzte Versuch von Arngrims Mann, den Jarl doch noch zu beseitigen. Ragnars Finger schlossen sich nach diesem neuerlichen Angriff fest um die Kehle seines Gegners und ließen nicht los, bis der Mann das Bewusstsein verlor.
Das Gerangel hatte die Schläfer im Lager der Nordmänner inzwischen geweckt. Sobald klar war, das die Kampfgeräusche vom Lager Jarl Ragnars kamen, waren ihm seine Männer zu Hilfe geeilt. Nun halfen sie ihrem verletzten Anführer aufzustehen. Andere Krieger zogen den noch immer ohnmächtigen Angreifer beiseite und banden ihm Hände und Füße.
Selbst Horik war das Getümmel nicht entgangen und so trat auch der König zu ihnen und forderte Auskunft über das, was geschehen war. Ragnar, der ahnte, auf wessen Betreiben hin der Angriff erfolgt war, hielt sich dennoch mit jeder Spekulation zurück und schilderte nur, wie er hinterrücks überfallen worden war, gerade, als der Schlaf über ihn kommen wollte. Nichts ließ er darüber verlauten, dass er den Angreifer bereits vorher beobachtet hatte und über die Handvoll Sand, die er genutzt hatte, um seinen Gegner zu überraschen, schwieg er.
Doch auch das Geschilderte und die Wunden, die der Jarl vorzeigen konnte, reichten aus, um Horik in Zorn zu versetzen.
„Weckt diesen Verräter sofort auf!“, forderte er grollend. „Und holt Ívaldi herbei. Er soll sich diese Wunden ansehen.“
Ragnar seufzte still. Natürlich musste es Ívaldi sein … Ívaldi, den Horik bewunderte um gern um Rat bat, der sich aber weit mehr mit Kriegsführung als mit Wundversorgung auskannte. ...Ívaldi, den Ragnar aber auch nicht ablehnen konnte, ohne seinen Anführer bloßzustellen.
Der Jarl sah dabei zu, wie zwei starke Männer den Bewusstlosen in eine sitzende Stellung zogen. Dann goss ihm ein Dritter einen Eimer Wasser ins Gesicht, das man offenbar schnell aus dem Meer geschöpft hatte, denn der so Geweckte kniff nach dem Guss zwanghaft die Lider zusammen. Scheinbar brannte das Salz in den schon durch den Sand gereizten Augen.
Doch Horik waren die Beschwerden des Gefangenen egal. Mit einem verächtlichen Tritt gegen den Bauch des Sitzenden forderte er dessen Aufmerksamkeit ein. „Wer bist du und was hat dich bewogen, meinen treuen Gefolgsmann Ragnar anzugreifen?“
Der Mann am Boden krümmte sich unter der rauen Behandlung und hustete. Doch er schwieg.
Horik nickte den beiden Kriegern an dessen Seite zu, die den Mann hielten. Mit einem Ruck zogen sie ihn auf die Beine.
„Antworte gefälligst, wenn dein König mit dir redet!“, knurrte einer der beiden. Für den Gefangenen blieb kein Zweifel, dass die Lage ernst war. Panisch sah er sich um und schien in den Reihen vor ihm nach einem Verbündeten zu suchen. Noch hatte er Arngrim nicht erkannt, der, von Ragnar beobachtet, weit hinten halt gemacht hatte und das Geschehen aufmerksam verfolgte. Auch ihm stand Furcht ins Gesicht geschrieben. Innerlich lächelte der Jarl abfällig. Was für eine Memme!