Doch auch Ragnars Mut und Durchhaltevermögen wurde nach dieser schicksalsträchtigen Nacht geprüft. Ganz nach unten trieb ihn der undurchschaubare Wille der Nornen, weit hinaus über alles, was er bisher an Alp und Not hatte kennenlernen müssen. Dem Schicksal, stammend aus Verdandis Stäben, konnte keiner entkommen, wenn die Gärtnerinnen Yggdrasils es nicht wollten.
Horiks Männer führten den gefangengenommenen Angreifer davon. Noch während Ragnars Blick den Kriegern nachdenklich folgte und er abzuschätzen versuchte, was der misslungene Anschlag für ihn bedeuten könnte, erschien Ívaldi. Der König hatte den alten Ratgeber immer bei sich, wenn er auf Kriegszug oder eine riskante Mission ging. Der Rat des Mannes war ihm stets willkommen und meist konnte Horik von der List und Gewitztheit seines Ersten Ratgebers profitieren. Dass er auch auf dessen Heilkunst vertraute, mochte der Tatsache geschuldet sein, dass der König bisher noch nie an einer schweren Verletzung gelitten hatte und die Fähigkeiten Ívaldis keiner gründlichen Prüfung hatten standhalten müssen.
Ragnars Wunden aber bedurften eines kundigen Mannes. Noch immer rann ein stetiger Blutfaden aus der Stichwunde im Oberarm des Jarls und die rechte Schulter des Kriegers hing nutzlos herunter. Horik betrachtete die Verletzungen ein letztes Mal, dann nickte er Ívaldi zu.
„Sorge dafür, dass Jarl Ragnar gut versorgt wird und es ihm an nichts fehlt. Morgen muss er stark genug sein, um bei der Vernehmung des Gefangenen anwesend zu sein.“ Der König nickte Ragnar freundlich zu. „Wir werden herausfinden, wer diesen Halsabschneider auf dich angesetzt hat – und wenn ich ihm die Haut bei lebendigem Leib abziehen lassen muss!“
Würdevoll schritt der Anführer davon und der Heiler zog den Jarl mit sich zu seinem Zelt. Inzwischen machte sich der Blutverlust bemerkbar und Ragnar fühlte sich bereits unendlich müde, als ihn Ívaldi auf ein Lager schob. Seufzend ließ sich der Verletzte darauf nieder und nahm nur von Ferne wahr, wie ihm sein Helfer die Kleider vom Leib zog. Eine raue Hand tastete über die Stichwunden und ließ Ragnar schmerzhaft aufseufzen. Dann versank der Jarl in einer allumfassenden Bewusstlosigkeit. Er bekam nicht mehr mit, wie der Heiler seine Verbände anlegte. Doch selbst wenn er verstanden hätte, welche Gefahr dessen Auflagen in sich bargen, wäre er nicht mehr stark genug gewesen, sich gegen die Behandlung zu wehren. So fand der aus Sicht Ívaldis heilsame Ziegenmist seinem Weg auf Arm und Schulter des Jarls.
Tatsächlich taten die Ausscheidungen ihre Wirkung und der Blutfluss versiegte. Doch zogen die widrigen Gerüche auch die Fliegen an und mit diesen kam die Hitze. Schon am kommenden Morgen glühte die Stirn des Jarls unheilverkündend und dicke Schweißtropfen rannen ihm über Gesicht und Brust. Längst ließ er sich nicht mehr durch Rütteln oder Ohrfeigen aus seiner Trance erwecken und Hel griff bereits mit kalten Fingern nach ihm und ließ ihn erschauern.
Ívaldi, dessen Kunst begrenzt war, hatte dem fiebernden Mann einen Thorshammer umgehängt und betete leise zu Odin und den Nornen um Unterstützung in dieser bitteren Zeit. Beifuß schwelte im Feuer, seinen schweren Räucherduft verbreitend, der zumindest die lästigen Fliegen inzwischen von dem Kranken fernhielt.
Ragnar aber, der von all dem nichts mitbekam, trieb in einer gestaltlosen, endlosen grauen Traumwelt umher. Von Hitze und Kälte geschüttelt und von unbeschreiblichen Wundschmerzen gequält, bekam er einen Vorgeschmack auf jenen Ort, den nur die Toten nach ihrem Ableben außerhalb des Schlachtfeldes kennenlernen mögen – so musste sich der Aufenthalt in Hels Reich und ihrem Saal Eljudni anfühlen. Manchmal, so schien es dem Jarl, hörte er schon den Gjöl(1) rauschen. Dann trieb ihn die Angst um, dass ihm der Weg nach Walhall für immer verschlossen bliebe.
Ragnar träumte. Die Angst, sich nach dem Tod in Helheimr wiederzufinden, war allgegenwärtig. Sædís erschien vor seinen Augen, jene junge Sklavin, die er zum Beischlaf gezwungen hatte und die daraufhin an den Folgen einer Fehlgeburt gestorben war. Er selbst, Ragnar, hatte damals das Totenfeuer für das Mädchen entfacht. Ja, Sædís war noch ein Mädchen gewesen, als sie gestorben war – jung und unerfahren, viel zu unwissend, um sich einem Mann wie ihm entgegenzustellen. War ihr Tod der Grund, dass er jetzt den Weg nach Náströnd(2) nehmen musste? Das Rauschen des Gjöl schien immer lauter in den Ohren des Jarls zu klingen, näher und näher kam die Kälte, die ihn innerlich bereits auszufüllen schien.
Ragnar verlor sich ganz und gar in seinen Fiebervorstellungen. Selbst als Horik an sein Lager trat und sich entsetzt ein Bild von seinem Zustand machte, erkannte er den König nicht. In der verschwommenen Gestalt, die er nur schemenhaft vor sich sah, glaubte er Hel zu erkennen, ganz in schwarze und weiße Gewänder gehüllt, wie man es ihm seit seiner Kindheit immer wieder erzählt hatte.
Horik beobachtete, wie das Zittern des Jarls mehr und mehr zunahm. Die innere Hitze ließ seine Muskeln krampfartig vibrieren. Beinahe konnte man glauben, der sonst so kühne Mann wolle vor einem unsichtbaren Gegner davonlaufen. Er schien die letzte Kraft einzusetzen, über die er noch verfügte. Dann fiel er erneut in eine tiefe starre Ohnmacht. Der König seufzte. Einerseits mochte er gar nicht an den Zeitverzug denken, den das Wundfieber Ragnars mit sich brachte. Andererseits konnte und wollte er den wirklich guten Krieger und Anführer auch nicht verlieren. Im Stillen bedachte er seine Möglichkeiten. Dann entschloss er sich zu einem Kompromiss. Wenn er schon warten musste, bis sich der Jarl erholt hatte oder am Brand starb, dann auch an einem Ort, wo dem Mann eine gute Versorgung zuteilwurde und er selbst seinem Stand gemäß leben konnte.
Mit Schwung verließ er das Zelt Ívaldis und verkündete die eben getroffene Entscheidung seinen wartenden Mannen: „Wir kehren nach Heiðabýr zurück! Wenn Ragnar überleben kann, dann nur dort.“
1 Gjöl – der Fluss, welcher durch Helheimr fließt
2 Náströnd – eine besonders düstere Gegend in Helheimr, die Mördern, Ehebrechern und Meineidigen vorbehalten ist