Horiks Idee umzusetzen,war aufwändig. Zwar hatte der König einen Großteil seiner Gefolgsleute nach Hause geschickt, dennoch mussten fünf Schiffe allein durch Manneskraft auf der engen Slæ bis zum geschützten Hafen der Handelsstadt manövriert werden. Vier Engen mussten auf der Fahrt nach Heiðabýr umrundet werden. Hier standen die Wachen des Handelsorts, die jeden Feind frühzeitig erkennen und abwehren konnten. Zwar hatten Horiks Schiffe von jenen Wächtern nichts zu befürchten, doch war schon die Durchfahrt an sich ein Risiko. Ebenso mussten sie darauf hoffen, vor der letzten Sperre der Slæ, einer hölzernen Barriere des Danewerks, auf gute Winde zu treffen. Lange Wartezeiten konnten sie sich bei Ragnars Zustand nicht leisten.1
Ob es ein Zufall war oder ob Njörd seine Wellen absichtlich glättete, wer weiß das schon. Ohne von zu starken Winden abgetrieben worden oder einer der Engen zu nahe gekommen zu sein, liefen alle fünf Schiffe des Königs im Noor von Heiðabýr ein. Horik nahm wenig Rücksicht auf die starrende Stadtbevölkerung, die gaffend zum Hafen gelaufen kam. Voller Schwung setzte er selbst den ersten Fuß auf die eilig ausgebrachte Planke und trat an Land.
„Ragnar wurde verwundet“, ließ er den überraschten Stadtvorsteher sofort wissen. „Wir brauchen ein weiches Lager für ihn und den besten Heiler, den ihr habt. Lasst jeden wissen, der hierfür infrage kommt, dass ich denjenigen großzügig entlohnen werde, der mir meinen besten Mann zurückbringt.“
Ein Murmeln ging durch die Menschengruppe am Hafen. Hier und da wurden Meinungen ausgetauscht und eine Frau in vornehmer Kleidung bot Horik ihr Haus für den Kranken an. Schnell wurde eine Trage gebracht und man schaffte den Fiebernden an Land. Auch in die Gruppe von Neugierigen und Gaffern kam Bewegung und so verteilten sich Horiks Mannen bald auf die umliegenden Hütten und Häuser. Manch einer fand sich schnell bei einem kühlen Met und einem Hühnerschenkel im Wirtshaus wieder.
Horik aber ließ es sich nicht nehmen, selbst auf den herbei befohlenen Heiler zu warten. Doch der Mann oder die Frau, die sich auf jene seltene Kunst verstand, ließ auf sich warten. Schließlich, als der König schon ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch trommelte, kam der Stadtvorsteher mit gesenktem Kopf herein.
„Eigentlich haben wir einen guten Heiler in der Stadt“, begann er umständlich. „Kol ist ein Könner, was Wunden und Hitze angeht.“ Der Mann zögerte auffällig.
„Aber ...?“
„Aber … aber Kol ist gestern erst zu einem entfernten Hof aufgebrochen, um nach einem an Zipperlein leidenden Alten zu sehen und wird bestimmt nicht vor dem nächsten Vollmond zurück sein. Wir konnten ja nicht wissen ...“
Horik fluchte lautstark. „Und was machen wir nun? Soll Ragnar sterben für einen gichtigen Alten?“
Der Stadtvorsteher druckste herum. „Wir hätten da vielleicht jemanden … Doch ich weiß wirklich nicht, ob er euren Ansprüchen genügt.“
„Los jetzt! Raus damit! Wer ist es?“
Eine Geste des Heiðabýrers veranlasste den Wächter an der Tür, diese zu öffnen. Herein trat ein Händler in prächtigen Gewändern, einen weiteren Mann vor sich herschiebend, der die Fußketten eines Sklaven trug. Dieser schon ältere Mann trug die zerrissenen aber typischen Kleider eines Franken und Horik knurrte bei diesem Anblick verhalten.
„Gaute, unser Händler für Hände aus dem Süden, hat mir versichert, dass dieser Mann hier, den er in einer Siedlung an der Küste der Franken gefunden hat, sein Handwerk als Kräuterkundiger wohl versteht.“ Wieder zögerte der Stadtvorsteher. „Einen anderen habe ich nicht. Er sollte es zumindest versuchen ...“
Horik brauste auf. „Einen Sklaven bringst du mir? Tatsächlich einen dahergelaufenen Sklaven … für einen Mann wie Ragnar?“
„Herr, ich habe wirklich …!“
„Ruhe!“ Horik fuhr sich unwirsch durch den Bart. „Ruhe, ehe ich mich vergesse!“
„Bei Forseti! gibt es denn keine Heilkundigen außer ihm in einer Stadt wie dieser?“
Gaute, der Händler, trat einen Schritt vor. „Wie es scheint, ist er der Einzige. Doch ehe man gar nichts tut, sollte man es mit ihm versuchen. Gelingt es ihm, euren Krieger zu heilen, bin ich gern willens, ihn dafür freizugeben. gelingt es ihm nicht … nun, so wird es auch hierfür eine Belohnung geben.“ Eine eindeutige Geste entlang der Kehle des inzwischen knienden Mannes genügte, um zu verdeutlichen, worauf der Händler hinauswollte.
Horik trat einen Schritt auf den Franken zu. „Nun gut. Eine andere Wahl scheine ich nicht zu haben. Steh auf, sieh mich an und sage mir, wie du heißt und wo du herkommst.“
„Santór ist mein Name“, antwortete der Mann leise aber fest, nachdem er sich erhoben hatte. „Ich stamme aus Naoned2 und befand mich selbst auf einer Reise nach Gent, als unser Schiff in einem Sturm an die Küste getrieben wurde. Hier griff man mich auf und da ich nichts von Wert zu bieten hatte, da alles in der See verlorenging, legte man mich in Ketten und brachte mich schließlich hierher. Doch ich werde es immer wieder sagen, auch wenn man mich dafür noch so oft schlägt: Mit den Händeln zwischen Ludwig und euch habe ich nichts zu tun!“
Nun musste Horik doch grinsen. „Was geht mich euer frommer Christenkönig an! Sollten wir jemals nach Paris segeln, wird er wie jeder andere aus dem Süden vor uns zittern. Doch bis es soweit ist, solltest du den Mund nicht zu voll nehmen. Noch hast du nicht bewiesen, dass du die Aufmerksamkeit wert bist, die wir dir hier schenken. Lass also hören: Beherrschst du die Heilkunst oder beherrschst du sie nicht?“
Santór räusperte sich und antwortete dann ruhig: „Ich beherrsche sie.“
Horik nickte zufrieden und fuhr dann übergangslos die Umstehenden an. „Was gafft ihr dann noch? Nehmt ihm die Fußfesseln ab und lasst ihn Ragnar ansehen. Erst wenn er seine Meinung abgegeben hat, werden wir wissen, was zu tun ist.“
Und so kam es, dass ein zufällig in Heiðabýr gestrandeter Sklave zum Heiler Ragnars bestimmt wurde. Und wie es das Schicksal und die Nornen wollten, machte er seine Sache gut. Nach sieben Tagen der Unsicherheit und des Wartens schlug Ragnar, der Jarl von Straumfjorður endlich seine Augen wieder auf. Ganz ohne Brandeisen war es dem Franken gelungen, die Wunde zum Abheilen und das Fieber zum Sinken zu bringen.