Die Völva hatte vom Eingang ihres kleinen Grubenhauses aus zugesehen, wie Lathgertha mit Rúna über den Dünenweg zum Dorf ging.
Die Gefährtin des Jarls schritt schnell aus, selbstsicher, sich ihrer hervorragenden Stellung bewusst. Nicht nur, dass sie als einzige Ehefrau Ragnars an der Seite ihres Anführers stand - nein - sie war mehr als nur eine Gefährtin, sie war eine Kriegerin, eine bisher noch nie bezwungene Schildmaid(1) . Das war es sicher, was den Jarl auch so sehr zu ihr hingezogen hatte. In Lathgertha fand er sich selbst wieder. In ihren Augen, ihren Taten konnte er den Drang zu Abenteuern wiedererkennen, der auch ihn antrieb. Eines Tages, so hatte er versprochen, würde er mit allen, die ihm dann folgen wollten, gen Westen segeln, an Orte, von denen nur die Sagas erzählten und darüber hinaus. Und die Schildmaid würde ihm folgen, wohin auch immer er ging.
Jorunn, wie die Völva eigentlich hieß, kannte jene Geschichten. Wann immer sie Ragnar gegenüberstand, schienen die alten Heldensagas neu auferstanden zu sein, die Lieder von Kampf, Ruhm, Freundschaft und schönen Frauen. Ob vielleicht auch die Sklavin(2) Rúna eine jener Verlockungen für einen Krieger werden würde, wie es die alten Geschichten von Aslaug oder Thórbjörg lítilvölva, der kleinen Seherin, erzählten?
Jorunn liebte die Saga um Eirík rauða(3) und so stand sie sinnend eine ganze Weile, während Lathgertha und Rúna längst hinter den Dünen verschwunden waren. Nachdenklich verfolgte die Alte den unruhigen Zug der Wolken. Wind kam auf und vor den ersten Böen kreiste ein Rabe über Straumfjorður. Geduldig zog er Runde um Runde, heisere Rufe ausstoßend. Die klagenden Laute ließen Jorunn aufmerksam werden. Raben waren keine gewöhnlichen Vögel wie Möwen oder Krähen. Nicht umsonst waren zwei ihrer Art die Göttervögel von Odin Hrafnáss(4).
Ohne groß darüber nachzudenken, griff Jorunn in eine der tiefen Taschen ihres bodenlangen Rockes und förderte ein Stückchen getrocknetes Kraut zutage. Starr auf den immer noch kreisenden Raben blickend, schob sie sich das zerknautschte Blatt in den Mund und begann zu kauen. Viel stärker als in dem Festbier, dass sie zwei Mal im Jahr für die Gelage zum jährlichen Thing(5) und zur Wintersonnenwende braute, kam nun die berauschende Wirkung des Bilsen(6) zum Tragen. Jorunn ließ sich seufzend im kühlen Sand nieder und folgte weiter dem Flug des Raben.
Der Wind frischte mehr und mehr auf, doch die Alte achtete nicht auf ihn. Leise Ritualgesänge vor sich hinmurmelnd, gab sie sich ganz ihrer Trance hin, studierte den Rabenflug und den Zug der grauen, regenbeladenen Wolken. Erst als die ersten Tropfen ihr erhitztes Gesicht kühlten, kam die Völva wieder zu sich.
" Hörmeitidr …", murmelte sie leise. " Hörmeitidr!" Langsam raffte sie sich auf und schüttelte ihre Röcke aus, die mit Sandkörnern bestückt waren. Sie starrte in Richtung Straumfjorður und kniff dabei die Augen angespannt zusammen. "Eine Zeit der Ernte ist es", stellte sie dann scheinbar zusammenhanglos fest. "Eine Zeit der Ernte, nicht der Aussaat!"
Jorunn wusste, dass es eilte. Die Götter hatten eine Botschaft für ihren Jarl gesandt, da war sie sich ganz sicher. Immer, wenn eine Handlung des Volkes die Zukunft verändern konnte, gaben die Unsterblichen solche Zeichen, um den Menschen eine letzte Wahl vor dem Scheideweg zu lassen. Diese Botschaft nun, von der Ragnar am besten sofort erfahren sollte, war eigentlich eine Kleinigkeit, die das Recht des Stärkeren betraf und Ragnars Anspruch vielleicht ein wenig infrage stellte. Jorunn wusste, dass die Manneskraft ein Thema war, dass die Krieger ungern mit ihr besprachen. Ein feines, duldsames Lächeln vertiefte die Fältchen um ihre Augen. Sie würde Ragnar mit ihrem Rat keine Freude machen, das wusste sie. Doch sie hatte auch gesehen, welch schreckliche Auswirkungen sein Tun auf eine wichtige Freundschaft haben würde, wenn er sich nicht beherrschte.
Die Völva seufzte. Es half alles nichts. Sie musste ins Dorf, so schnell wie möglich.
(1) Ich will die Gelegenheit nutzen und noch zwei, drei Sätze zu den Schildmaiden dalassen: Es ist nämlich nicht so, dass diese eine Erfindung des von mir hochverehrten J.R.R.Tolkien sind. Wie in vielen anderen Dingen auch hat er sich hier aus schon vorhandenen Vorlagen bedient. Die Schildmaiden gehören in die nordischen Sagas, wo sie eine Bezeichnung für Frauen sind, die sich für ein Leben als Kriegerin entschieden haben. Dazu gehören Brynhild, Aslaug und auch eben Lathgertha. In der Folge sind daraus u.a. die Geschichten um die Walküren entstanden, genauso wie Tolkiens Eowyn.
(2) Auch zu den Sklaven noch ein Wort: Es ist keine Erfindung von mir, dass die Wikinger Sklaven beiderlei Geschlechts hielten, als vollkommen rechtlosen Besitz der Freien. Sklaven waren ein beliebter Raub der Beutezüge. Man schätzt das Verhältnis Freie vs. Sklaven auf bis zu 1 : 4.
(3) Eiríks saga rauða, die Sage von Erik dem Roten - eine der berühmtesten Islandsagas. Hier kommt auch eine Völva zur Sprache, die Erik direkt beriet. Die erste schriftliche Niederlegung datiert auf das 14. Jh., aber da die Wikinger schon mind. 1000 n.C. Amerika entdeckt hatten, kann man davon ausgehen, dass mündliche Überlieferungen schon viel eher umgingen.
(4) Die Rede ist von Hugin und Munin. Hrafnáss ist der Beiname Odins. Er steht für Rabengott. Die Universität von Tromsǿ trägt die beiden in ihrem Wappen.
(5) Thing - historischer Gerichts- und Versammlungstag der Wikinger (heißt der freien Männer!)
(6) Schwarzes Bilsenkraut - sehr gefährlich!! Wurde in winzigen Mengen dem Bier zugefügt. Es hatte eine enthemmende, stark berauschende auch haluzinogene Wirkung. Allerdings wurde sie auch bei frühen Operationen zum Ruhigstellen des Patienten genutzt und galt als wichtigster Bestandteil der sog. Hexensalben. Heutzutage, wenn ihr denn auf eine der sehr seltenen Pflanzen trefft, kann man nur raten: Finger schnell weg!