Stunden später - das Dämmer war bereits über Straumfjorður hereingebrochen - saß der Jarl der Siedlung, Ragnar Loðbrók, auf einem Felsen nahe des Strandes und starrte gedankenverloren hinaus auf den Fjord.
Jorunn war bei ihm gewesen, die Völva, und hatte von einer Vision berichtet, die sie aus dem Flug der Raben erkannt zu haben glaubte. Der Krieger vertraute der alten Seherin in dieser Beziehung rückhaltlos. Zwar waren die Sprüche und Ratschläge der Alten nicht immer so deutlich wie heute - oft sprach sie in Rätseln oder in Bildern, die sich ihm erst im Laufe der Zeit erschlossen - doch es war immer Wahrheit in ihren Prophezeiungen gewesen. Es gab keinen Grund, heute daran zu zweifeln.
Ragnar schnipste einen flachen Stein in das ruhige Wasser und sah zu, wie dieser drei oder vier Mal sprang, bevor er versank und eine Unzahl kleiner gleichmäßig wachsender Wasserringe hinterließ. Wenn die Völva also rechtbehielt, war mit der Sklavin Rúna nicht nur eine hübsche junge Frau in sein Dorf gekommen. Nach Jorunns Ansicht trug das Mädchen eine Begabung in sich, die der der Seherin ähnlich sein konnte. Zumindest hatte Jorunn sie als Heilerin und weise Frau vor sich gesehen, in einem Gewand, das nach ihrer Beschreibung von Wohlstand und Anerkennung sprach. Bis dahin war Ragnar mit der Deutung gern einverstanden gewesen. Die junge Frau hatte einen regen Geist und genug Eigensinn, um zu einer Heilerin werden zu können.
Doch es war etwas anderes, das den Jarl störte, etwas, womit die Völva direkt seine Rechte als Besitzer der Sklavin infrage gestellt hatte. Ohne es in deutliche Worte zu fasen, hatte sie ihm das Beilager mit der geraubten Frau verboten. Es sei seine Pflicht als guter Freund und Anführer, hatte sie ihm geraten, das Mädchen Thorstein nicht nur für ein paar Jahre auf den Hof als Hilfe zu geben, sondern ihm für diese Zeit alle Rechte an Rúna zu überlassen.
Ob er sie ihm dann nicht besser gleich schenken solle, hatte Ragnar daraufhin bissig gefragt. Lächelnd hatte die Völva den Vorschlag abgelehnt. Seine Macht müsse er nicht aus den Händen geben, hatte sie lächelnd erklärt. Doch Thorstein stünde an einem Scheideweg, der böse enden könne, wenn er seine Trauer und seine Unrast nicht bald ablegte. Rúna wäre die Herausforderung für den Freund, die vielleicht alles zum Guten wenden könne. Dann erst, wenn der Steuermann sie als seine Gefährtin anerkannt habe, solle Ragnar seine Großzügigkeit unter Beweis stellen und sie für seinen Freund freigeben. Wenn aber Thorstein den anderen Weg beschritte, habe er, Ragnar, noch die Macht, ihm das Mädchen zu entreißen, bevor es gemeinsam mit ihm unterging.
Es irritierte den Jarl, dass die mächtige Völva sich hartnäckig für etwas so unbedeutendes wie die neue Sklavin einsetzte. Normalerweise hielt sie sich aus den alltäglichen Geschäften der Siedlung heraus und ergriff nie Partei in Besitzdingen. Es musste mehr hinter der Vision stecken, als Ragnar jetzt erkennen konnte. Und obwohl er es nicht gern zuließ, seine Rechte infrage gestellt zu sehen, gab er der Völva, was sie forderte. Er versicherte ihr, dass alles nach ihren Wünschen verlaufen würde.
So geschah es drei Tage später, dass der Jarl Ragnar noch vor dem Fest Hörmeitidr zusammen mit zwei Karren, drei Feldknechten aus seinem Haushalt und der Sklavin Rúna zum Moorseehof aufbrach, um Thorstein seine Geschenke zu überreichen. Wenn er ehrlich war, wollte er die Sklavin so schnell wie möglich abgeben. Jorunn hatte zu sehr betont, dass es nur an Thorstein war, sie auf in sein Lager zu holen und Ragnar konnte sich zwar auf seine Beherrschung verlassen, war sich aber der anderen Männer und auch der Sklaven in dem großen Gemeinschaftsschlafhaus nicht sicher. Und man konnte nie wissen, wie die Götter reagierten, wenn man ihren Willen nicht befolgte. Seinen Platz in Walhalla aber wollte er keinesfalls für eine solche Belanglosigkeit riskieren.
Aufgeregt saß Rúna auf dem Pferdefuhrwerk, dessen hölzerne Räder über den selten befahrenen Weg holperten. Vor den Ohren der Völva hatte Ragnar heute am frühen Morgen seine Vereinbarungen mit ihr wiederholt und auf die magischen Runenwürfel und seine Ehre deren Einhaltung geschworen. Zwar war er nicht so weit gegangen, den Eid mit Blut zu besiegeln, dennoch erstaunte sie das ernste Vorgehen des Jarl nicht wenig. Zudem hatte Jorunn darauf bestanden, dass sie, Rúna, in Zukunft viermal im Jahr, als zu jeder Jahreszeit einmal, einen halben Mond zu ihrer Hilfe ins Grubenhaus kommen solle. Warum gerade sie für diesen Dienst ausersehen war, verstand Rúna nicht. Doch es war auch nicht an ihr, Aufgaben infrage zu stellen, die man von ihr verlangte.
Nun ging es erst einmal auf den Moorseehof und sie freute sich ein wenig, den Steuermann Thorstein wiederzusehen und ihm für alles zu danken, was er an Bord der Ragnarsúð für sie getan hatte. Neugierig sah sich Rúna die Landschaft an, durch die sie kamen. Schon kurz hinter Straumfjorður endeten die dichten Küstenwälder und gaben eine weite, karge Landschaft frei, die hier und da von Feldern durchbrochen war, auf denen hoch und golden das Getreide stand. Kühe und dutzende Schafe zogen über Weiden mit kurzem Gras und hier und da sah man zwischen den flachen Hügeln kleine, schilfgedeckte Bauernhäuser und Scheunen, wobei sich die einzelnen Höfe in der Weite der Landschaft fast verloren.
Der Knecht auf dem Kutschbock trieb den alten Wallach in einen gemütlichen Trab, damit sie den zu Pferde schnelleren Ragnar nicht aus den Augen verloren und der Ruck riss Rúna aus ihren Gedanken. Ihr Blick fiel auf die drei Männer, die mit ihr auf dem Gefährt hockten und sie ihrerseits längst genau gemustert hatten. Doch mehr als ihre Namen waren bisher nicht gefallen.
"Wart ihr schon einmal auf dem Moorseehof?" Leise traute sich Rúna nach einer Weile ihre dringendste Frage zu stellen. Gab es jemanden, der ihr sagen konnte, was sie wirklich dort erwartete?
Einer der Männer nickte freundlich und ein Schauer der Erleichterung lief über den Rücken der jungen Frau, als jeder der drei Männer nun ein wenig freundlicher zu schauen schien. Sie ahnte nicht, dass die drei zunächst nicht besonders begeistert gewesen waren, Thorsteins Beute mit sich auf den Hof zu nehmen. Eine Frau unter fünf Männern mochte zu vielen Zwistigkeiten führen. Zwar war Teitr ein eher ruhiger alter Mann und die beiden Hirten Thorsteins waren noch bei ihren Herden weiter im Landesinneren. Dennoch kam es ihnen nicht richtig vor, das Mädchen auf den Hof zu holen. Erst eine strenge Rede Ragnars hatte ihnen klar gemacht, was dieser wirklich mit Rúna plante - sie war ausschließlich für dessen Steuermann bestimmt!
Das aber war etwas, was die drei Knechte noch mehr störte. Dass die Kleine nun still und ein wenig ängstlich mit ihnen auf dem Karren hockte und so gar nicht nach einer gerissenen Verführerin aussah, die nur zu einem Zweck auf den Hof kommen sollte, brachte sie allerdings dazu, ihre Gemüter ein wenig zu beruhigen.
"Wir werden noch bis Mittag fahren müssen", gab nun der erste Redner Rúna Auskunft. "Dann erreichen wir den Hof. Er ist ein bisschen runtergekommen, hat aber alles, was man von einem Bauerngehöft erwartet. Wie bei allen älteren Häusern hier sind der Stall und das Haupthaus zusammengebaut. Es gibt eine Scheune, in der wir dann auch schlafen werden und Teitr, der Hofvorsteher hat eine eigene Hütte." Er zwinkerte Rúna zu. "Es wird dir schon gefallen, Mädchen", verriet er grinsend. "Und Thorstein ist kein schlechter Herr. Er arbeitet selbst mit und geizt nicht an Essen und Feuerholz im Winter. Du wirst sehen, alles wird sich finden."
Stirnrunzelnd hatte Rúna den Ausführungen des Knechts gelauscht. Der Hof schien dem zu ähneln, auf dem sie mit Ári gelebt hatte. Der Stall am Haus war ein Vorteil, den sie in den kalten Wintern des Nordens zu schätzen gelernt hatte. Die Wärme der Tiere drang selbst durch die dünne Trennwand bis zu den dicht dahinter gelegenen Schlafplätzen. So roch das Haupthaus im Winter zwar deutlich nach den Schafen und Ziegen, die mit den Menschen in der schützende Unterkunft lebten, doch teilten sie auch ihre Wärme mit diesen. Und das leise Widerkauen in der Nacht, das Rascheln des Strohs unter den Hufen gefiel Rúna. Es hatte etwas Friedliches und Beruhigendes.
Still lächelte sie, als sie an ihren ehemaligen Schlafplatz dachte. Doch ob sie auch hier mit im Haupthaus leben würde, wusste sie ja noch gar nicht. Svart, der Knecht, hatte von einem Gemeinschaftslager in der Scheune gesprochen. Nun, auch das kannte Rúna inzwischen. Ragnars Sklaven in Straumfjorður lebten in einem solchen Gemeinschaftshaus. Dort hatte es viele, eng beieinander liegende Schlafplätze gegeben. Ein Feuer in der Mitte sorgte für Wärme, ein Loch im Giebel ließ die schlimmsten Dämpfe und den Rauch abziehen. Hier kochten die Menschen zweimal am Tag für sich selbst und für die Notdurft benutzten sie eine Grube ein paar Schritte hinter dem Haus. Besonders angenehm hatte Rúna die Unterkunft nicht in Erinnerung, zumal sich deren Bewohner offenbar so an das Miteinander auf engem Raum gewöhnt hatten, dass sie sogar unter den Augen der Anderen das Lager mit ihren Frauen teilten. Allerdings war es auch nicht so schrecklich gewesen, dass Rúna Angst vor einer solchen Bleibe hatte. Es würde sich schon alles finden.
Also stellte sie noch ein paar weitere Fragen nach den Hirten, nach Teitr und auch nach den Tieren und als der Moorseehof schließlich in Sicht kam, beschloss sie, dass sie keine Angst vor ihrer Zukunft haben musste.