Ich zog den dicken Wollschal enger um meinen Hals und folgte meinen Freundinnen in das völlig überfüllte Café, das sie in diesem Augenblick ansteuerten.
»Kris, jetzt beeil dich doch endlich, bevor alle Plätze belegt sind«, warf mir Sina hektisch über die Schulter zu. Ich schnaubte, als ob da drin noch was frei wäre.
Es war Anfang Oktober, die Kälte, die den milden Herbst abgelöst hatte, trieb die Leute von den Straßen regelrecht ins warme Innere, doch meine Mädels zwängten sich, ohne mit der Wimper zu zucken, durch die Scharen wartender Gäste hindurch. Ich folgte ihnen widerwillig. Im Gegensatz zu ihnen liebte ich diese Jahreszeit und könnte Stunden damit verbringen, die bunten Blätter im Park zu beobachten, wie sie lautlos von den Bäumen auf den mit Frost überzogenen Boden glitten. Für mich war die Stille jenseits jeglicher Hektik ein Paradies. Meine Freunde nannten mich jedoch recht uncharmant einen verträumten Spinner.
Während ich meinen Gedanken nachhing, hatten es Sina und Felicitas tatsächlich geschafft, sich einen winzigen Tisch in der hintersten Nische des Cafés zu schnappen. Kopfschüttelnd quetschte ich mich zwischen den vielen Menschen zu ihnen durch. Es war mir schleierhaft, wie sie das wieder geschafft hatten, aber es wunderte mich nicht. Meine zwei besten Freundinnen, die ich schon seit dem Kindergarten kannte, waren beide von Natur aus hellblond und hatten strahlend blaue Augen. Sie waren groß, schlank und immer und überall der Hingucker. Auch wenn es so aussah, sie waren keine Schwestern, obwohl man bei ihnen nicht umhin kam, sie für Zwillinge zu halten. Wahrscheinlich hatten sie ihren geballten Charme auf die männliche Gattung losgelassen und sich so den heiß begehrten Platz gekrallt.
Eilig gesellte ich mich zu ihnen, und während ich mich aus meinem orangefarbenen Schal wand und die Winterjacke auszog, blickte ich mich um. Es war Samstag Nachmittag und an den Tischen fanden sich überwiegend Jugendliche, die eine Shoppingpause einlegten. Mir entging nicht, wie die Jungs ihre Köpfe zusammensteckten und meine Freundinnen angrinsten, die sogleich kichernd auf die Flirtversuche eingingen. Lächelnd zwängte ich mich neben die beiden auf den kläglichen Rest Sitzbank, der übrig geblieben war, und schnappte mir die Karte von dem Tisch. Mir war jetzt wirklich nach einer großen Tasse Kaffee.
Das fröhliche Lachen meiner Freundinnen, die mit den fremden Jungs beschäftigt waren, wärmte mein Herz, und während ich auf meine Bestellung wartete, schweiften meine Gedanken erneut ab. Es machte mir nichts aus, dass ich nicht so ein Blickfang war wie Fee und Sina. Mit meinen braunen Haaren und Augen sah ich nicht auffällig aus und meine Figur war ebenfalls nicht atemberaubend. Ich zog es vor, bequeme Klamotten zu tragen, während die beiden immer den neuesten, hautengen Schrei trugen. Wir waren ziemlich verschieden, aber genau das liebte ich. Mit den beiden wurde es nie langweilig, und da ich eher der ruhige, verschlossene Typ war, empfand ich es als angenehm, mich nicht ständig mit irgendwelchen Kerlen unterhalten zu müssen. Meistens hatte ich ein Buch in der Tasche dabei, wofür sie mich stets aufzogen, aber ich liebte es, in einzigartige Geschichten abzutauchen und zog das jedem Geplänkel mit spät pubertierenden Jungen vor.
Jetzt wollte jedoch nicht die richtige Stimmung aufkommen, um zu lesen, denn das Gespräch mit meiner Mom heute Morgen hing mir noch nach. Meine Eltern waren bereits seit einigen Jahren geschieden und Mom hatte seit etwa einem Jahr einen neuen Freund. Carl war total okay und er tat ihr wirklich gut. Ich freute mich für sie und wünschte ihr alles Glück der Welt. Während des Frühstücks hatte sie dann ganz beiläufig erwähnt, dass er am nächsten Tag zum Mittagessen käme, da sie mir etwas mitzuteilen hatte. Wie ich solche halb garen Ansagen hasste. Entweder man sagte, was man loswerden wollte, oder man ließ es bleiben. Aber nun grübelte ich schon den gesamten Tag darüber nach, was es sein könnte. Ich hatte den leisen Verdacht, dass sie möglicherweise wieder heiraten wollte und obwohl ich Carl wirklich gern hatte, war dieser Gedanke irgendwie seltsam. Würde ich ihn dann Paps nennen müssen?
Seufzend versuchte ich, diesen Impuls abzuschütteln, Spekulationen brachten mich auch nicht weiter. Während ich abwesend eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger wickelte, sah ich von der Karte auf, in der Hoffnung, dass mein Kaffee endlich käme. Und dann sah ich ihn.
Er saß zwei Tische weiter vorn und starrte mich ungeniert an. Mein Blick verfing sich in seinem und plötzlich schoss mein Puls in die Höhe. Mein Herz begann, wie wild zu pochen und mein Innerstes fühlte sich an, als wäre ich von einem Blitzschlag getroffen worden. Die Fingerspitzen kribbelten und eine Überdosis Adrenalin strömte durch jede Faser meines Körpers. Meine Atmung ging flach und ich war nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann lächelte er und die Andeutung der Grübchen in seinen Wangen sandte regelrechte Hitzewellen durch mich hindurch. Was zum Teufel war das? Was geschah mit mir?
Es war mir unmöglich, meinen Blick von ihm zu lösen. Erst jetzt bemerkte ich, dass seine Augen hell und klar waren, entweder blau oder grün, auf die Entfernung konnte ich das nicht genau sagen. Sein dunkles Haar wirkte verstrubbelt – auf eine wahnsinnig süße und sexy Art verstrubbelt.
Ich erstarrte. Waren das gerade meine Gedanken? Unmöglich. Ich gehörte nicht zu den Frauen, die Männern hinterherschmachteten. O Gott, sein Lächeln wurde breiter, und der Kloß in meinem Hals immer dicker. Ich bekam kaum noch Luft und versuchte, mir welche mit der Karte zuzufächeln, jedoch vergeblich. Er sah so verboten gut aus, dass mein Körper kurz vor einem Blackout stand.
Weil ich mit dieser Situation völlig überfordert war, wusste ich mir nicht anders zu helfen, als panisch aufzustehen und auf die Toilette zu flüchten. Ich kam mir furchtbar dumm vor, doch ich rannte nahezu vor ihm davon. In dem beengten, stillen Raum waren die Gespräche der Gäste nur noch gedämpft zu vernehmen. Ich ließ mich gegen die weiß gekachelte Wand gleiten und atmete tief durch. Mit geschlossenen Augen wartete ich darauf, dass sich mein Körper wieder beruhigte und suchte in den Tiefen meines Gehirns nach Antworten. Was zum Teufel war da gerade mit mir geschehen?
Langsam ging ich zum Waschbecken und sah entsetzt auf mein Spiegelbild. Da ich mit Fee und Sina shoppen gewesen war, hatte ich meine Haare einfach achtlos zu einem Zopf gebunden, aus dem sich vereinzelt Strähnen gelöst hatten und mich aussehen ließen wie eine Vogelscheuche. Natürlich hatte ich mich weder geschminkt noch in schicke Klamotten geworfen. Vor mir stand ein langweiliges und unscheinbares Mädchen, das sich in diesem Augenblick dafür hasste, sich nicht herausgeputzt zu haben. Dort draußen saß ein wahrgewordener Traum und ich stand hier drin, das graue Mäuschen in seinem alten Rollkragenpullover. Sexy war anders. Ich versuchte, die hartnäckigen Strähnen wieder an ihren Platz zu streichen, doch sie ignorierten mich.
Nach einer Weile, in der ich mich wieder etwas beruhigt hatte, beschloss ich, zurückzugehen. Er war mit Sicherheit längst gegangen, wenn meine Freundinnen ihn sich nicht geschnappt hatten. Plötzlich kam mir in den Sinn, dass er wahrscheinlich nicht mich, sondern sie angesehen hatte. O Gott war das peinlich. Gerade als ich meinen Kopf am liebsten gegen die Wand geschlagen hätte, sah ich seinen Blick im Geiste wieder vor mir. Ich schluckte. Nein, ich hatte mich unmöglich geirrt, diesen Moment würde ich niemals vergessen können. Er hatte mich angestarrt und dabei nicht weniger überrascht ausgesehen als ich. Noch einmal atmete ich tief durch und zwang mich zur Ruhe. Ich sollte zu den beiden zurückkehren, bevor sie mich suchten. Er war sicher längst weg, womit sich mein Dilemma auch erledigt hätte.
Noch immer etwas nervös öffnete ich die Tür zu dem schmalen Durchgang, der in den Hauptraum führte. Als ich aufsah, erstarrte ich. Da stand er. Lässig in der Mitte der Passage gegen die Wand gelehnt, lächelte mich an und raubte mir erneut den Atem. Meine Beine verweigerten sich mir, blieben wie mit dem Boden verwachsen einfach stehen und fingen verdächtig an, zu zittern. Langsam stieß er sich von der Wand ab und kam zu mir, bis er unmittelbar vor mir stehen blieb. Grün. Seine Augen waren grün.
»Hi«, sagte er schlicht und der Klang seiner Stimme löste einen emotionalen Wirbelsturm in mir aus.
»Hi.« Mir fiel nichts Besseres ein, meine Gedanken rasten nur so durch meinen Kopf. Ich war einsfünfundsiebzig groß, doch er war sicherlich zehn Zentimeter größer. Ich sah zu ihm auf, während ich versuchte, nicht umzukippen und das Rauschen in den Ohren zu ignorieren.
»Ist alles in Ordnung? Du bist so schnell davongerannt, da wollte ich nachsehen, ob es dir gut geht?«
Ich nickte einfach und hoffte, dass er den völligen Ausfall meines Gehirns nicht bemerkte.
»Ich werte das einfach als Ja?«
Wieder nickte ich nur, offensichtlich dauerte mein Verlust der Muttersprache weiterhin an. Meine Sprachlosigkeit erheiterte ihn wohl, denn er fing an, zu lachen. Und das war der Moment, in dem ich unwiderruflich verloren war. Während mein Puls raste und ich meinen Blick nicht von seinen Lippen lösen konnte, erwärmte sich dieser verräterische Muskeln in meiner Brust für den mir völlig unbekannten Kerl vor mir.
»Ich heiße Chris«, sagte er leise und kam einen weiteren Schritt auf mich zu. Ich spürte seine Nähe nur allzu deutlich, doch ich wich nicht zurück, sondern genoss seine Wirkung auf mich regelrecht. Ich fühlte mich, als hätte ich die vergangenen Jahre in einem Dornröschenschlaf verbracht und würde erst in diesem Augenblick wieder zu mir kommen und anfangen, zu leben.
»Und wie ist dein Name, du wunderschöne Unbekannte?« Er flüsterte fast und plötzlich spürte ich eine Hand, die sanft meine Wange umfing.
»Kris, mit K«, räusperte ich mich, während ich versuchte, das flüssige Feuer in mir zu ignorieren, das seine Berührung verursacht hatte und welches sich in Rekordzeit auszubreiten schien.
»Echt jetzt?« Er hielt inne, dann lächelte er. »Wenn das keine Fügung des Schicksals ist, Kris mit K.«
Ich schluckte schwer und ließ seine Worte auf mich wirken. Meinte er mit Fügung, dass wir denselben Spitznamen hatten, auch wenn er anders geschrieben wurde, oder dass wir uns hier getroffen hatten? Es fiel mir immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich fing unter seiner Berührung beinahe zu zittern an. Er sah mir tief in die Augen und ich war gefangen in seinem Bann. Plötzlich beugte er sich zu mir herunter, mein Herz schlug so schnell, dass ich befürchtete, einen Infarkt zu erleiden. Seltsamerweise sorgte ich mich weniger vor dem Sterben, als davor, zu sterben, noch ehe ich das erleben durfte, was unmittelbar folgte.
Als seine Lippen ganz sanft auf meine trafen, bemerkte ich nur beiläufig, dass das Erdbeben nicht um mich, sondern in mir geschah. Meine Welt, wie ich sie kannte, erbebte in ihren Grundfesten und ich wusste, dass nach diesem Kuss nichts mehr so sein würde, wie es einmal war. Vorsichtig presste er seine weichen, vollen Lippen auf meine. Ich erwiderte den Druck, küsste ihn zurück – diesen fremden Kerl, von dem ich nichts wusste und der in diesem Augenblick alles für mich bedeutete.
Ganz langsam löste er seine Hand von meinem Gesicht, schlang beide Arme um meine Taille und zog mich behutsam zu sich. Es schien mir fast, als hatte er Angst, einen Fehler zu machen. Nichts lag mir ferner, als ihn von dem abzuhalten, was er tat, und so legte ich zaghaft meine Arme um seinen Nacken und ließ mich fallen.
Eine kleine Ewigkeit später löste er sich zu meinem Bedauern von mir und ich lächelte, als ich bemerkte, dass er ebenso außer Atem war wie ich. Er sah mich immer wieder an und schüttelte den Kopf.
»Du haust mich um, Kris mit K.« Dann strich er mit dem Handrücken noch einmal über meine Wange und seufzte auf. »Ich bedauere zutiefst, dass ich gehen muss, aber ich habe meinem alten Herrn versprochen, ihm zu helfen.« Er machte eine lange Pause, in der er mir tief in die Augen blickte und in der ich vergeblich versuchte, den dicken Kloß in meinem Hals loszuwerden. Er musste gehen. Diese Tatsache ließ mich panisch, wenn nicht gar hysterisch werden. Ich würde ihn nie wieder sehen. O Gott Kris, tu doch was.
Dann beugte er sich noch einmal zu mir, bis seine Stirn meine berührte. »Komm heute Abend ins Resurrection, bitte. Ich werde da sein und an nichts anderes mehr denken können, als an unser Wiedersehen.«
Er schenkte mir noch einmal das Lächeln, das meine Beine ihren Daseinsgrund vergessen ließ, dann drehte er sich um und ging. Er hatte nicht einmal meine Antwort abgewartet. Ich sah ihm noch lange nach, unfähig, zu meinen Freundinnen zurückzugehen. Ins Resurrection also. Normalerweise ging ich nicht in Discos, ich verbrachte meine Wochenenden meistens mit meiner Nase in Büchern zu Hause, gemütlich auf dem Sofa. Doch heute nicht. Heute Abend würde ich dorthin gehen, denn seine Abwesenheit schmerzte bereits jetzt, obwohl nur Minuten seit seinem Abschied vergangen waren. Und welche glücklichere Fügung des Schicksals könnte es auch geben, als in eine Disco zu gehen, deren Name meinen momentan Zustand beschrieb. Ich war von einem tiefen, lieblosen Schlaf auferstanden.
Während ich zu Fee und Sina zurückging, war es mir nicht möglich, mein glückliches Grinsen zu verbergen.