Kapitel 11
Sollte das alles sein?
Victorias und Marcs Stimmen hallten durch das Foyer wie viele andere auch, doch sie hoben sich mit ihrer ehrlichen Leidenschaft und ihren Profi-Stimmen deutlich von uns anderen ab. Sie trug einen weißen Hosenanzug, er eine schwarze Weste und elegante dunkle Jeans. Sie würden uns restlos an die Wand singen.
„Fay, jetzt konzentrier’ dich einfach auf uns, okay? Perfektion kann langweilig sein.“
Ich drehte mich zu Damien um. Er sah wie immer fantastisch aus. Auf sein schwarzes Hemd mit den zwei offenen Knöpfen am Kragen trug er die Krawatte, die ich ihm vor fast einer Woche geschenkt hatte. Passend zu meinem Kleid.
Seltsamerweise konnte er mich dieses Mal gar nicht beruhigen. Es würde etwas anderes sein, mit einem Mann auf der Bühne zu stehen und ein Liebesduett zu performen – und zwar so, dass es glaubhaft rüberkam – als mit seinen neuen Freundinnen einen auf Girlband zu machen. Noch dazu, wenn man widersprüchliche, fremdartige Gefühle für diesen Mann hegte, die unter der Oberfläche schwelten und nie richtig zugelassen wurden.
„Ich fürchte mich vor dem Auftritt.“
„Das musst du nicht. Ich bin doch bei dir.“
Und auch das beruhigte mich kein bisschen. Stumm wandte ich mich wieder von ihm ab, denn zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er mich nicht verstand. Vielleicht hätte mich in diesem Moment kein Mensch auf der Welt verstanden. Ich verstand es ja selbst nicht.
Keiner, wirklich Keiner, saß wie letzten Montag zitternd auf seinem Platz. Alle übten diszipliniert oder leidenschaftlich mit ihrem Duettpartner. Auch Sherry und Sascha. Sie kamen wenig glaubhaft rüber, denn sie grinsten sich oft an oder brachen in kurzes, fröhliches Gelächter aus. Doch sie waren wirklich gut, alle beide. Sherry wirkte das erste Mal seit langem wieder weniger angespannt. Sascha war wie immer ganz er selbst und unternahm nicht den geringsten Versuch, irgendeine Rolle zu spielen. Das hatte er uns anderen weit voraus. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er so gut beim Publikum und allen Menschen im Allgemeinen ankam.
„Fay, du bist dran!“
Ich wandte mich erschrocken zu Damien um. Ich hatte nicht einmal wahrgenommen, dass er gesungen hatte, geschweige denn, dass ich nun an der Reihe war. Sodass ich auch nicht wusste, welchen Part ich zu singen hatte. Anstatt meinen Fehler schnell wieder gutzumachen und weiter zu singen, musste ich mich wieder bei ihm entschuldigen. „Ich weiß nicht, was los ist.“
Er fasste mich bei den Schultern und sah mich eindringlich an, doch anstatt mich zu beruhigen, bewirkten sowohl die Geste als auch seine folgenden Worte das genaue Gegenteil: „Jetzt hör mir genau zu, du musst hier bleiben. Bei mir. Nur die nächste halbe Stunde und auf der Bühne. Dann darfst du weiter träumen!“
Ich sah ihn mit offenem Mund an. So hatte er noch nie zuvor mit mir gesprochen und ich war mir nicht sicher, wie gewichtig seine Worte waren. Oder was sie zu bedeuten hatten. Wieder konnte ich dieser Bedeutung nicht auf den Grund gehen, weil uns wie immer die Ereignisse überrollten, als die Jury uns abermals in den Raum hinter der großen Doppeltür winkte.
Die Stimmung war ganz anders als eine Woche zuvor, wo fröhliches Klassenfahrtsgelächter geherrscht hatte. Nun saßen alle paarweise mit ihrem Duettpartner zusammen. Es lag ein seltsames Prickeln in der Luft, wie es nur entsteht, wenn Männer und Frauen sich näher kommen oder miteinander flirten. Ich war mir ziemlich sicher, dass es in diesen Tagen nicht nur bei Nici und Nicolás gefunkt hatte.
Die Jury hatte ihre kleine Ansprache schon gehalten und das erste Mal fiel mir auf, wie viele Kameraleute und Lichttechniker anwesend waren. Entweder wurden es jede Woche mehr oder sie waren mir die letzte Woche nicht aufgefallen.
Außerdem hatte ich extremes Lampenfieber. Mich überkam die nächsten Sekunden eine Übelkeit, die mich beinahe in die Knie zwang. Ich wollte in diese Villa und in die Themenshows, bei denen die Zuschauer mittels Twitter-Stimme darüber entschieden, wer weiter kam und wer nicht.
Ich schluckte und versuchte gar nicht darüber nachzudenken, was passieren würde, wenn ich heute versagte, doch die Bilder von einem tristen Buchladen und meinem alten Jugendzimmer drängten sich mir immer wieder auf. Wütend schüttelte ich den Kopf, um sie daraus zu verdrängen.
Daniela saß wie der Rest der Jury mit dem Rücken zu uns. Außer ihrer Stimme hörte man nur das Rascheln der Unterlagen, als sie sprach. „Na gut, fangen wir mit Sascha und Sherry an.“
Sofort richtete sich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Bühne. Egal wie lächerlich es war, stellte ich mir vor, Sascha würde nur für mich singen. Das Gefühl gab mir Kraft. Ich unterdrückte die schmerzliche Sehnsucht nach ehrlicher, echter Liebe, die bei diesen Wünschen jedes Mal wieder und mit jedem Mal mehr in mir aufstieg.
Ihr Duett war herzergreifend, und das Bild in meinem Kopf von Sascha und mir festigte sich mehr und mehr - es wurde beinahe unerschütterlich. Ich projizierte all meine Träume und Wünsche nur noch auf ihn und war mir dabei hundertprozentig sicher, dass er mir alles geben könnte, was ich schon immer haben wollte.
Zufällig waren nach den beiden sofort wir an der Reihe. In mir hatte sich ein seltsames Taubheitsgefühl breitgemacht. Ich konnte kaum atmen, nicht mehr denken. Mein ganzes Wesen war nur dieses Lied und der eine Gedanke nach dem „ich will“!
Sherry drückte im Vorbeigehen kurz meine Hand und ich meinte, auch Nicis Stimme am Rand meines Bewusstseins wahrzunehmen. Doch sie konnten mir hier nicht helfen. Ich musste es allein schaffen. Das machte mir eine Heidenangst.
Ich hatte Mühe, mit meinen wackligen Knien und den hohen Absätzen die Stufen zur Bühne hochzukommen, doch Damien legte eine Hand stützend um meine Hüfte und ich fühlte mich unendlich geborgen. Doch etwas an der Berührung machte mich auch unendlich traurig.
Als wir im heißen Licht der Scheinwerfer standen, nickte Stefanie uns aufmunternd zu. Der Scheinwerfer über mir erlosch, sodass ich im Dunkeln verschwand. Ich fröstelte. Die Stimmung war seltsam geladen und unheilvoll. Bis Damien zu singen begann und es nur noch ihn für mich gab. Ich schlüpfte ohne Probleme in die Rolle seiner Geliebten und machte mir nicht einmal Gedanken darum.
Als ich mit meinem Part begann, tauchte mich der Scheinwerfer über mir wieder in gleißendes Licht, sodass Damien und ich wie zwei Sterne in der Nacht leuchteten, die sich unaufhaltsam aufeinander zu bewegten.
Im zweiten Refrain stimmte ich in seinen Gesang ein und unsere Stimmen flochten sich ineinander wie die wogenden Wellen im endlosen Meer. Die Musik schwoll immer mehr an. Das Lied wurde mit jeder Sekunde dramatischer. Wir passten uns auch dieser Dramatik problemlos an. Ich sang, als hinge mein Leben davon ab. Was im übertragenen Sinne auch irgendwie so war. Wir hielten uns an den Händen und ließen uns dann krampfhaft los, als würde uns eine unsichtbare Macht trennen wollen.
Im letzten Refrain legten wir unsere Hände ineinander und sahen uns in die Augen. Ich konnte alles in seinem Blick lesen. Er hielt meine Hand über meinem Kopf und ich wollte mich in seine Arme drehen, da knickte ich ein. Ich sog zischend die Luft ein und nahm eine Sekunde nur den stechenden Schmerz in meinem Knöchel wahr, ehe ich merkte, dass Damien mich aufgefangen hatte und mich in seinen Armen hielt. Wenn man uns beiden nicht in die bleichen Gesichter gesehen hätte, hätte man bestimmt denken können, dass dieser kleine Stunt mit zum Auftritt dazugehörte.
Mir saß das Herz in der Kehle, als ich merkte, dass mein Kopf leer war. Ich wusste nicht einmal mehr die Melodie des Liedes. Damien fuhr einfach fort als wäre nichts gewesen und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Doch während er sang, sah ich eine abgrundtiefe Angst in seinem Blick und ein Flehen an mich, dass ich doch singen möge - da wachte ich auf und brachte den letzten Satz gemeinsam mit ihm über die Bühne. Aber ich glaube, wir wussten beide schon, dass es zu spät war. Der Text, den er mir zugewandt sang, passte so gut, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Geh nicht, bitte geh nicht, sonst sterbe ich.
Ein tosender und ermutigender Applaus brach aus, der meine Augen zum Überlaufen brachte. Damien nahm mich lange in den Arm. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, die die Jury uns erlaubte, so stehen zu bleiben und einander zu halten, bis ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte.
Keiner der Juroren sah uns direkt an. Daniela sagte nur leise und ernst: „Danke.“
Da wusste ich es. Alles in mir zerbrach in diesem Augenblick. Alle Träume und Wünsche und Sehnsüchte zerfielen zu Staub. Ich hatte das Gefühl, mein ganzes Leben sei vorbei. Es fühlte sich an wie Sterben, soweit ich das beurteilen kann. Als kröche man durch eine zähe Masse und mit unvorstellbaren Schmerzen in das unvermeidbare Ende.
Mit gesenktem Kopf ging ich an Nici und ihrem Duettpartner vorbei, die sich nun ihrerseits erhoben. Ich wollte sie nicht ansehen. Ich fürchtete mich vor dem Schmerz, der auf die Erkenntnis folgen würde, dass unsere tiefe Freundschaft einen noch tieferen Riss bekäme. Denn ihre Karriere würde weitergehen, da war ich mir so sicher wie bei der Tatsache, dass die meine an ihrem Ende angelangt war. Sie würde weiter das Glamour-Jetset-Leben führen, während ich in meinen grauen Alltag zurückkehrte. Wann würden wir dabei Gelegenheit bekommen, einander zu sehen? Wir würden uns die erste Zeit anrufen und uns schreiben, doch das würde mit der Zeit verebben. Ich war zynisch in Sachen Liebe und Freundschaft, da mir nie zuvor in meinem Leben irgendjemand gezeigt hatte, was Beständigkeit bedeutete.
Ich reagierte auf keinerlei Trost, als Damien und ich uns wieder setzten und er sanft auf mich einzureden begann. Irgendwann gab er es auf und sah starr zur Bühne vor, während ich in meinem See aus Selbstmitleid badete.
Die Stunde verging mit Lichtgeschwindigkeit, als mich plötzlich lauter Applaus aus meiner starren Schwärze riss. Wie aus einem Dämmerschlaf erwacht, sah ich mich benommen um und stellte erschrocken fest, dass die Juroren sich dieses Mal nicht zur Beratung zurückzogen. Die Entscheidung schien ihnen leicht zu fallen.
Die Zeit rann mir wie Sand durch die Finger als ich bemerkte, dass Sherry und Sascha abermals auf der Bühne standen, um sich ihr Urteil abzuholen. Sie kamen beide weiter und bei Saschas unbändiger Freude regte sich auch in mir das erste Mal seit langer Zeit wieder ein positives Gefühl.
Und gleich danach wieder die Angst, als Daniela unsere Namen aufrief. Das Klicken meiner verhassten Pfennigabsätze wurde nur noch durch mein laut klopfendes Herz übertönt. Ich schwor mir, dass ich – käme ich wider Erwarten weiter – nie mehr derartige Schuhe anziehen würde, egal was der Rest der Welt dann von mir hielte.
Vorn auf der Bühne hielt Damien meine Hand so fest, dass ich mich fühlte als wäre ich in den Griff eines Schraubstockes geraten, doch der Schmerz hielt mich bei Bewusstsein und übertünchte herrlich das seelische Leiden.
Ich wagte es nicht, die Jury oder meine Konkurrenten auf den Plätzen dahinter anzusehen. Stattdessen starrte ich benommen auf meine Füße, die mich nicht mehr tragen wollten.
„Die Entscheidung ist uns dieses Mal ziemlich schwer gefallen.“, begann Stefanie. „Erst einmal ein großes Lob an eure Outfits und auch an eure Darstellung des Liedes. Wirklich perfekt, alles war so echt. Das Leid und Sehnen. Bei dir Damien, hat mir besonders gefallen, mit welcher Leidenschaft du singst. Du legst alles in deine Songs. Du bist ganz klar weiter.“
Damien gab kein Zeichen, dass er diese Worte zur Kenntnis genommen hatte und ich schielte kurz zu ihm hoch. Er war weiß wie die Wand und drückte meine Hand noch fester als Stefanie sich seufzend mir zuwandte. „Fay… Daniela, übernimm du das bitte.“
Sie stützte den Kopf in die Hände und sah auf das Pult. Sie hätten nichts mehr sagen müssen. Ich hob den Kopf, da ich meinen Fehler mit Würde anhören wollte. Niemand außer mir selbst hatte Schuld an diesem Desaster, das gerade mein Leben zerstörte. Keine Träne versperrte mir den Blick, den ich ruhig und klar auf Daniela richtete.
„Tja, also wie Stefanie schon sagte, seid ihr beide wirklich super gewesen. Mitreißend - und eigentlich hatte ich nicht vor, einen so kleinen Fehler wie er dir heute passiert ist, so hart zu bestrafen. Doch eure Mitstreiter waren leider auch allesamt hervorragend und du hast zu lange deinem Fehler nachgehangen anstatt dich wieder in deinen Part einzufügen, Fay.“ Sie sah mich an, dann nickte sie mir kurz zu, sah nach unten und fügte hinzu: „Du bist leider nicht mehr mit dabei.“
Vor meinem geistigen Auge knallte sie mir damit eine goldene Tür vor der Nase zu. Doch ich brach nicht zusammen. Ich hatte es von dem Augenblick an gewusst, da wir die Bühne verlassen hatten und hatte seitdem über eine Stunde Zeit gehabt, mich mit dem Schmerz und den Konsequenzen anzufreunden. Nun war es nicht mehr zu ändern.
Als Damien und ich die Halle betraten, wo Sherry und Sascha schon angespannt auf uns warteten, genügte ein Blick von ihnen in unsere Gesichter, dass sie begriffen, was los war. Ehe ich mich versah, umarmten mich alle auf einmal. Es kamen noch Nici und Nicolás hinzu. Niemand lächelte, ich hasste mich dafür, dass ich ihnen die Freude an ihrem Weiterkommen verdarb. „Tut mir leid, Leute.“
Alina schüttelte stumm mit dem Kopf, und Nici war den Tränen nahe als sie sagte: „Uns tut es leid.“
Und mehr gab es nicht zu sagen. Es gab nichts zu sagen, was unseren Schmerz verringert hätte. Und während Sascha mich noch einmal zum Abschied in den Arm nahm, sah ich über seine Schulter hinweg nur die dunkle kalte Nacht draußen durch die Fenster des Gebäudes, die bedrohlich auf mich zukroch.