Kapitel 14
Der amerikanische Traum
Am nächsten Morgen frühstückten wir alle zusammen am großen Tisch im Esszimmer. Dafür waren wir trotz der langen Nacht extra zeitig aufgestanden, da wir wussten, dass uns ein solches gemeinsames Essen von nun an nur selten vergönnt sein würde. Und wir würden unsere Kräfte heute brauchen.
Gerade war uns mitgeteilt worden, dass heute unser erstes Fotoshooting in einem Kölner Studio für die neueste Ausgabe des FirstChance-Magazines stattfinden würde. Es beruhigte uns, zusammen zu sitzen. So konnten wir gemeinsam über unsere Aufregung und Ängste reden und mussten nicht einsam in eine chronische Panik verfallen. Und es fühlte sich seltsam normal an. Wie in einer lauten Großfamilie.
„Wir werden das erste Mal von Stylisten geschminkt, stellt euch das mal vor!“, sagte Lena genüsslich. „Ich kann es kaum erwarten.“
„Also ich bin ja nicht wirklich scharf drauf, dass mir irgendeine fremde Tussi im Gesicht herum fummelt.“, erwiderte Victoria und alle rollten die Augen.
„Was glaubst du, was dich von jetzt an jeden Samstag erwartet?“, gab Alina hämisch zurück. Ich grinste hinter meiner Kaffeetasse. Als ich bemerkte, dass Sascha mich lächelnd beobachtete, stellte ich mein schadenfrohes Grinsen schuldbewusst ein.
Als wir uns nach dem Frühstück im Innenhof versammelten, ging es vor dem Tor wieder zu wie in einem Taubenschlag. Es war noch früh und so standen dort nur eine Handvoll Fans, doch die schienen das Fehlen der anderen durch doppelte Lautstärke wettmachen zu wollen, denn alle kreischten wild durcheinander unsere Namen.
Marc und Victoria ergriffen die Flucht und gingen Hand in Hand in den hinteren Garten, von wo aus das Geschehen am Tor weder zu hören noch zu sehen war. Nici und Nicolás fackelten nicht lange und gingen wie die Profis zum Autogrammeschreiben ans Werk. Lena und Sandro folgten ihnen zögernd. Dann taten Sascha, Alina, Damien und ich es ihnen gleich.
Ich war nicht einmal aufgeregt. Ich funktionierte einfach und fügte mich in das Bild, das wir zusammen ergaben. Wir – auf der anderen Seite des Tores und hinter mir die herrschaftliche Villa.
Die Fans streckten ihre Hände durch die Gitter, um uns näher zu sein. Ich musste daran denken, wie hoffnungsvoll und glücklich ich mich gefühlt hätte, hätte ich einmal die Möglichkeit dazu bekommen, meinen größten Idolen so nah sein zu können. Ich war neidig auf meine eigenen Fans und beschloss gleichzeitig, ihnen so viel zu geben, wie ich ihnen geben konnte.
„Was singst du am Samstag, Fay?“, fragte ein junges Mädchen, vielleicht um die fünfzehn. Es war seltsam, meinen Namen aus ihrem Mund zu hören wie eine Selbstverständlichkeit. Wie oft sie am Tag wohl meinen Namen sagte?
„Für Samstag habe ich etwas ganz besonderes vor, was ich noch nicht verraten möchte.“, erwiderte ich und lächelte geheimnisvoll, während ich merkte, wie Nicolás und Nici neben mir die Ohren spitzten.
„Stimmt es, dass du und Damien ein Paar seid?“, fragte ein anderes Mädchen.
Ich sah ratlos zu Damien, als wäre die Antwort nicht ganz klar. Er nickte mir ermutigend zu. „Nein, das stimmt nicht. Wir sind nur gute Freunde.“
„Aber ihr passt so gut zusammen.“
Darauf wusste ich nichts zu sagen. Dieses Mal war es Nicolás, der mich rettete. Er legte einen Arm um Nici und sagte mit gespielter Entrüstung: „Wir passen gut zusammen. Aber vermutlich sind wir schon ein alter Hut.“ Damit drehte er Nici einfach zu sich herum und küsste sie so zärtlich, dass ich mich abwenden musste, während die Fans sie in ihren Jubel und Blitzlichtgewitter tauchten.
Damien tauchte neben mir auf. „Alles okay?“
Ich nickte, obwohl ich mich eigenartig fühle. Gott sei Dank wurde mir eine Antwort erspart, da in diesem Moment die Busse auftauchten, aus denen jeweils zwei Bodyguards sprangen und die Fans wie am Vortag zur Seite schoben, um das Tor für die Busse zu öffnen.
Es gab keine großen Absprachen, wer mit wem in einem Bus fahren wollte, denn still und heimlich hatte sich zwischen Sascha, Nicolás, Nici, Damien und mir ein Fünfer-Gespann entwickelt. Nur Alina blieb dabei etwas außen vor und wirkte leicht säuerlich, als sie von einem Security unsanft neben die Turtelnden, Victoria und Marc, gesetzt wurde. Ich sah sie entschuldigend an, bevor auch meine Tür geräuschvoll zugeschoben wurde.
Ich saß neben Sascha und war selig vor Glück. Damien machte den Beifahrer und wirkte damit auch ganz zufrieden. Hinter uns bildeten Nicolás und Nici das Schlusslicht. Als der Wagen sich in den fließenden Verkehr Kölns eingefädelt hatte, begannen alle wild durcheinander zu reden und zu spekulieren, was heute alles passieren würde. Keiner von uns hatte sich je professionell fotografieren lassen, somit litten wir alle gleichermaßen unter Lampenfieber.
Bei mir war es wie immer besonders schlimm, da ich fürchtete, durch meine Unsicherheit überhaupt kein brauchbares Bild zustande zu kriegen. Und so schaltete ich meine Gedanken soweit es ging aus und konzentrierte mich auf die Musik, die aus dem Radio zwischen das Stimmengewirr drang. Es wurde mir leicht gemacht, da in diesem Moment ein Lied meiner Lieblingsband gespielt wurde. Ich schloss genießerisch die Augen, während mein Herz im Takt der Drums zu schlagen begann.
Wenn irgendwo Sunrise Avenue gespielt wurde, konnte man sich sicher sein, dass ich nicht mehr lebte. Dann klang ich nur noch. Auch dieses Mal trugen die Töne mich weit davon und ich fiel in einen ruhigen Dämmerschlaf und träumte davon, auf der Bühne zu stehen, während Sami Osala im Hintergrund die Drums ertönen ließ. Ich sang ein selbstgeschriebenes Lied und war eins mit der Musik und den Instrumenten der Band, die ich liebte. Nach meinem Auftritt, ertönte tosender Applaus, dann kam Sascha zu mir auf die Bühne und nahm mich so sanft in die Arme wie gestern Nachmittag. Ich seufzte und schmiegte mich an ihn.
Leises Gelächter begleitete die Szenerie und Nicolás, der sagte: „Ach, du willst doch gar nicht, dass sie aufwacht und dich loslässt.“
Sascha antwortete mit einem unterdrückten Lachen: „Ich bin doch auch nur ein Mensch.“
Traum und Realität verschwammen und empört nahm ich wahr, wie Sami und seine Drums zuerst verschwanden, bis sich der Traum dann gänzlich zerschlug und ich irritiert in einem Auto aufwachte, wo ich mich fest in Saschas Arm krallte, während mein Kopf auf seiner Schulter ruhte.
Entsetzt richtete ich mich sofort kerzengerade auf, um wenigstens einen letzten Rest meiner Würde zu bewahren, doch es war zu spät. Jeder im Auto hatte es mitbekommen. Ich hätte dem Fahrer für sein dümmliches Grinsen den Hals umdrehen können.
„Entschuldige, ich bin wohl noch etwas geschafft von gestern.“, brachte ich schließlich geschraubt hervor. Nicolás brach in schallendes Gelächter aus. Als ich mich in meinem Sitz umdrehte, um ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass auch Nici sich das Lachen verkniff. Verräterin! Nur Damien sagte gnädigerweise kein Sterbenswörtchen.
„Ach, ich fand es ganz schön.“, gab Sascha zu meiner großen Verlegenheit noch lächelnd zurück. Ich sah auf die Uhr und betete, dass die Autofahrt sich ihrem Ende näherte.
Endlich fuhren wir in die Einfahrt zu dem großen Gebäude, in dem das Shooting stattfinden sollte und es wurde still in unserem kleinen Bus. Wir alle hielten den Atem an - aus Angst, diesen magischen Moment mit dem geringsten Geräusch zerstören zu können. Die Wagen hielten und die Bodyguards bugsierten uns unsanft in die Empfangshalle der Studios, wo man uns nicht einmal Zeit zum Staunen gab.
„Herzlich Willkommen im Shooting-Star Köln, ihr Süßen! Mein Name ist Tanja und ich bin dafür zuständig, dass hier alles reibungslos verläuft. Also wenn etwas schief geht, verpfeift mich nicht.“, sagte eine große Blonde mit einem Klemmbrett in der Hand und verzog ihre knallroten Lippen zu einem breiten, ansteckenden Lächeln. Wir erwiderten es unsicher, ehe sie geschäftig in die Hände klatschte, sich umdrehte und vor uns herstöckelte. Dann sagte sie gebieterisch: „Genug der Scherze! Wir haben noch viel vor! Folgt mir unauffällig.“
Wir hasteten ihr hinterher und hatten dabei Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Dabei sahen wir Aufnahmeräume, Studios, Redaktionen, Umkleideräume und dann waren wir da. Ich hielt den Atem an. Das Studio war einschüchternd groß und so steril und weiß wie ein Krankenhauszimmer bis auf die große, knallgrüne Wand, vor der sich sämtliches Leben abspielte. Alle Lichtschirme und Kameras waren darauf ausgerichtet.
Um die Greenbox herum lagen Kabel ohne Ende, sodass man sicher gehen konnte, dass das Studio gut versichert war, sollte sich mal eines seiner Models den Hals brechen, während es über das Equipment stürzte. Ich schluckte das nervöse Lachen herunter, welches mir bei diesem Gedanken die Kehle hinauf stieg. Stattdessen machte ich eine unverfängliche Miene, während ich zu Tanja sah, die ihrerseits zufrieden beobachtete, wie sich die anderen Kandidaten mit offenen Mündern das Studio ansahen.
Mit uns im Raum befanden sich noch zwei Fotografen – einer direkt hinter der Kamera vor der Greenbox und einer daneben, der seinen Apparat wie eine schussbereite Waffe hielt. Außerdem noch zwei stark geschminkte und frisierte Frauen, bei denen ich davon ausging, dass es sich um die Maskenbildnerin und die Friseuse handelte. Ein junges Mädchen richtete die Lichter aus, wobei sie so fahrig vorging, dass mir sofort klar war, dass es sich um eine Praktikantin handeln musste. Anders als alle anderen im Raum, die uns schamlos musterten, wagte sie keinen einzigen Blick zu uns herüber und war somit der einzige Mensch im Raum – abgesehen von meinen Mitstreitern – der mir sympathisch war.
„Mädels, ihr seht sicher die zwei langen Kleiderstangen dort hinten an der Wand. Wir haben sie mit allem präpariert, was zum Motto Strand passt. Nicht so schüchtern! Lasst eure Fantasie spielen und sucht euch etwas aus. Jungs, ihr habt das Motto Club und euch gehe ich beim Aussuchen lieber mal unter die Arme.“
Und so ließen wir uns von Tanjas Begeisterung und Tatendrang anstecken. Ich folgte Nici, Victoria, Alina und Lena zu den Kleiderständern, an denen ohne Ausnahme nur knappe Bademode hing. Mein Mut sank. Dies war ganz offensichtlich eine Feuerprobe, wer von den Kandidaten die meisten Nerven hatte. Oder welches Mädchen das verklemmteste war. Ich war mir ganz sicher, in dieser Kategorie den ersten Preis zu gewinnen, als ich sah, dass sich meine Konkurrentinnen allesamt nur einen Bikini nahmen, während ich über den Meinen noch eine kurze Jeansshorts zog. Ich hatte nicht vor, mich schon zu Anfang ganz Deutschland halbnackt zu präsentieren, ob das nun verklemmt war oder nicht! Ich nahm wahr, wie mich die Fotografen kurz musterten, doch als ich trotzig zu ihnen herüber sah, wandten sie sich grinsend wieder ab. Denen werde ich es zeigen!
Als ich geschminkt wurde, entspannte ich mich zum ersten Mal an diesem Tag, da ich gezwungen war, die Augen zu schließen. Wenn ich die Lider schloss, katapultierte mich meine Fantasie in eine andere Welt. Ich nahm kaum wahr, wie mir jemand das Haar toupierte und mir Rouge auf die Wangen pinselte, während ich davon träumte, in meiner eigenen Umkleidekabine zu sitzen und schon ein Star zu sein – ohne weitere Tests und Prüfungen.
Als ich die Augen dann auf Geheiß der Stylisten öffnete, hatte ich wieder etwas Mut gewonnen. Wenige Augenblicke später ging es auch schon los. Zu meinem Entsetzten realisierte ich erst jetzt, dass alle Kandidaten zusahen, wie man sein erstes Shooting mehr schlecht als recht über die Bühne brachte. Mein Magen brannte mit meinen Wangen um die Wette.
Sascha war der Erste. An seinem Look war nicht viel verändert worden. Er trug ausgewaschene Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber eine schwarze Weste - er sah wie immer göttlich aus. Er war ganz er selbst, wenn auch augenscheinlich etwas nervös, was er nicht zu verbergen suchte. Er folgte den Anweisungen des Fotografen, so gut er es vermochte und machte sich anscheinend keinen Kopf darüber, wenn mal etwas nicht so lief wie es sollte. Und ich wünschte mir, ich könnte mit all dem Rummel genauso gelassen umgehen wie er. Vielleicht nahm ich das alles und mich selbst ja auch einfach etwas zu wichtig.
Nach fünfzehn Minuten wurde Sascha durch Nicolás abgelöst, der vor der Kamera posierte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Ich musste wegsehen, um nicht noch nervöser zu werden. Damien wirkte ähnlich professionell. Marc dagegen ungewohnt linkisch und unsicher.
Dann waren wir Mädels an der Reihe. Obwohl ich Tanjas Blick entschieden mied, war ich als Erste dran. Ich war mir ganz sicher, dass sie das mit Absicht tat, denn jeder, der nicht vollkommen blind war, konnte meine Anspannung sehen. „Fay, du machst den Anfang.“
Ich musste mir ein Stöhnen unterdrücken und merkte nur, wie Nici mir eine Hand auf meine viel zu nackte Schulter legte und sagte: „Du schaffst das! Genieß es! Denk dran, wo du gestern warst.“
Das waren genau die richtigen Worte, um mir das Ziel wieder vor Augen zu führen. Entschlossen ging ich nach vorn und fühlte mich sofort unwohl, als ich allein vor der grünen Wand stand. Es war irgendwie affig und grotesk, hier rumzuposieren. Und es war komplett der falsche Zeitpunkt dafür, solche Gedanken zu bekommen. Ich fühlte mich nackt und hilflos und spürte die Blicke der anderen auf mir wie kleine Feuer.
Das Bedürfnis, schnellstens den Raum zu verlassen, schwoll immer mehr an und ich sah dem Fotografen hilflos ins Gesicht. Nicht in die Kamera, sondern mitten ins Gesicht. Er verstand sofort. „Mit dem Gesichtsausdruck nimmt dich auf jeden Fall keiner mit zum Strand.“
Diese Aussage war so ungeheuer frech, dass ich alle Ängste vergaß und empört beide Arme in die Hüften stemmte. Ich wollte gerade, etwas darauf erwidern, als der Blitz seiner Kamera aufleuchtete und mich so einfing. Die anderen begannen zu lachen, noch ehe ich begriff, dass er mich genauso hatte haben wollen, dann stimmte ich in das Gelächter mit ein und die Blitze leuchteten nun auch von dem Fotografen an meiner Seite immer schneller auf.
Bald schon wurde mir durch die Scheinwerfer so heiß, dass ich mich wirklich fühlte wie am Strand. Ich entspannte und verstand, dass niemand in diesem Raum mir etwas Böses wollte, sondern alle lediglich ihre Arbeit taten wie ich auch. Meine Arbeit. Ich musste grinsen und der Blitz traf mich erneut.
„Na, geht doch!“, sagte der Fotograf schließlich und nickte anerkennend. „Die Nächste, bitte.“
„Fay, das war so geil!“, empfing mich Lena, während Victoria erhobenen Hauptes an mir vorbei schwebte, um es auf jeden Fall besser zu machen als ich. Sie lebte für den Wettkampf und sah in jedem Tun von uns anderen eine Herausforderung, der sie gerecht werden musste. Sie tat mir unwahrscheinlich leid. Wie anstrengend musste dieses ständige Streben nach dem Höchsten sein!
„Auf jeden Fall richtig professionell.“ Das war zu meiner großen Freude Sascha. Ich bedankte mich lächelnd und suchte nach Damiens Blick, um mit ihm über das Shooting zu reden, doch der war in ein Gespräch mit Nicolás vertieft und stand von mir abgewandt, sodass ich mich wieder Sascha zuwandte. „Wie schaffst du es, immer du selbst zu bleiben?“
Er zuckte lachend die Schultern und erwiderte: „Indem ich nicht versuche, jemand anderes zu sein.“
Das gab mir für lange Zeit zu denken. Und es war das erste Mal, dass ich mich still fragte, ob ich mich verändert hatte oder mich verstellte. Und wo der Unterschied zwischen beidem lag. Die Frage fraß sich noch mehr an mir fest, als wir später die ersten Abzüge der Bilder in die Hände gedrückt bekamen und mich eine Frau mit gebleckten Zähnen anschrie, während aus ihren grünen Augen der Hochmut blitzte. Ist das die Fay, die tief in mir vergraben ist? Oder ist es eine völlig Fremde?