Als Markus mit den gepackten Koffern im Aufenthaltsraum erschien, zerrten die Gefesselten aufgeregt an ihren Gurten. Herr Baier hatte sie eng fixiert. Die vorgeschriebene Wattepolsterung fehlte.
»Die schaben sich ihre Haut auf. Ich werde die Gurte polstern«, rief er dem Pfleger zu. Baier sah ihn missmutig an, nickte dann und rasierte den Mann weiter, bei dem er stand. Der Mann ließ die Rasur, ohne zu reagieren, über sich ergehen. Er versuchte nicht, nach dem Pfleger zu beißen. Ganz anders die Frau, deren Arm Markus befreit hatte. Er brauchte all seine Kraft um den weichen Mull so um ihr Handgelenk zu binden, dass die Ledermanschette nicht scheuern konnte. Die Frau wand sich, versuchte zu kratzen und hob den Kopf so weit sie konnte, während sie versuchte nach ihm zu schnappen. Ihr bleiches Gesicht war mit blauen Adern durchzogen, ihre gelben Augen blickten starr. Ihr Haar, das Baier schon gekämmt hatte, löste sich aus dem Dutt, als sie ihren Kopf wieder und wieder nach oben reckte. Markus nahm sich den anderen Arm vor, nachdem er den Ersten versorgt hatte. Die Haut am Gelenk war schon aufgescheuert, blutete aber nicht. Markus legte eine große Saugkompresse über die Wunde, wickelte Schaumstoff darüber und zurrte dann den Gurt fest. Die Alte zerrte unermüdlich weiter an ihrer Fixierung. Markus deckte sie zu. Sein Blick fiel auf Herrn Baier, der mit dem Rasieren fertig war und das Gesicht des Mannes abwusch. Des Mannes der, da alles so gelassen über sich ergehen ließ.
»Wie machen Sie das? Bei Ihnen sind die total friedlich.« Markus trat zu seinem Kollegen. Der frisch Rasierte im Bett wandte seinen Kopf zu Markus und versuchte zu schnappen.
»Ich könnte jetzt sagen, die kennen mich seit Jahren«, grübelte Baier. »Aber das ist es nicht. Vielleicht, weil ich keine Angst vor ihnen habe? Natürlich kann es auch einen anderen Grund haben.« Er musterte seinen Kollegen. »Vielleicht bin ich infiziert. Ich wurde gebissen. Vor ein paar Tagen. Ich weiß nicht, ob die Kleine befallen war. Ich weiß auch nicht, ob es, wie bei jeder Krankheit, verschiedene Stufen gibt. Ich merke nur, dass diese hier auf mich anders reagieren, wie auf dich oder unseren Hausmeister. Ich fühle mich nicht krank. Im Gegenteil. Es geht mir gut, ich werde kaum müde. Das, was mich früher beschäftigte, tritt in den Hintergrund. Ich habe das Gefühl, vieles klarer zu sehen. Fast so, als wäre ich zehn Jahre jünger.« Er grinste. »Du kannst gehen, ich mach die Papiere noch fertig. Morgen sollen sie abgeholt werden.«
Markus war froh, als er die Tür des Wohnbereichs hinter sich schließen konnte. Im Erdgeschoss brannte das Nachtlicht. Viel zu früh, es war noch keine sieben. Sylvia war schon gegangen, unten hatte eine ältere Frau, die er noch nicht kannte, den Dienst übernommen.
Er lief über den Hinterausgang über den dunklen Parkplatz zurück zu dem Gebäude, in dem er jetzt wohnte. In der Küche brannte Licht. Janas Fenster konnte er nicht sehen, das lag auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses. Er hoffte, dass es ihr besser ging.
Vor dem Hauseingang stand ein alter Opel, der Kofferraum war geöffnet. Sylvia schaute ihm erleichtert entgegen. »Prima, dass du da bist, kannst du mir helfen, die Einkäufe reinzutragen? Kurz, nachdem du mit Herrn Baier nach oben bist, kam der Spätdienst doch noch. Sie hat sich verspätet, weil die Leute Hamstereinkäufe machen. Ich bin dann auch gleich los. Wir haben zwar noch genug, aber man weiß nie. Du glaubst nicht, wie voll es überall war. Die Leute kaufen, als gäbe es nichts mehr. Hilfst du mir grad?« Sie drückte ihm ein Gebinde mit acht großen Wasserflaschen in die Hand.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst. Stilles Wasser! Das hat man billiger aus dem Wasserhahn und du hast das halbe Auto damit vollgepackt. Was hast du noch gekauft?« Er schaute in den Wagen.
»Für Jana hab ich Babygläschen. Obst. Solange sie Schluckbeschwerden hat, ist das prima. Ansonsten Konserven, Reis und was ich halt so erwischen konnte.«
»Für Jana hättest du nichts extra kaufen brauchen. Wir haben Astronautenkost. Ganze Kisten stehen davon im Keller. Die hat eure Leitung ja regelrecht gehortet.«
»Ja, die haben sie mal günstig übernehmen können. Aber nur zwei Geschmacksrichtungen. Vanille und Schoko.«
»Wenn Jana drei Flaschen am Tag trinkt, hat sie alles, was sie braucht. Ich hatte schon ein paar in den Kühlschrank getan. Warm schmeckt das Zeug nicht. Deine Sachen stell ich erst mal in das Büro im Erdgeschoss.«
Er musste ein paar Mal laufen, bis er alles verstaut hatte. In der Zwischenzeit fuhr ein Van auf den Hof. Markus erkannte den Hausmeister am Steuer, der im Erdgeschoss des Hauses ein Apartment bewohnte.
»Herr Müller war anscheinend auch in der Stadt«, bemerkte Sylvia.
Der Hausmeister parkte direkt neben den Opel.«Wart ihr auch einkaufen?«
»Nicht wir, ich allein. Markus musste arbeiten. Beim Rewe war die Hölle los!«
»Ich bin in das Gewerbegebiet gefahren. Aber da war es auch nicht besser. Zum Schluss war ich noch tanken. Habe fast eine Stunde gewartet, bis ich dran kam.« Ächzend hob er die erste Kiste Bier vom Wagen. Markus half ihm, nachdem er Sylvias Einkäufe verstaut hatte.
»Habt ihr eigentlich die restlichen Bewohner gefunden?«, fragte Müller.
»Wie?«
»Na, die Toten und die Infizierten zusammen das waren siebzehn. Doch oben gab es neunzehn Bewohner. Und habt ihr die verschwundene Nachtwache gefunden?«
»Soweit ich weiß nicht und Herr Baier hat nichts davon gesagt, dass jemand fehlt. Ich kenne mich ja noch nicht so gut hier aus.« Markus wischte sich über die Stirn.
Herr Müller verschloss den Van. »Wir sollten lieber reingehen.« Er blickte über den Hof. Sylvia brauchte noch einen Moment, weil sie ihr Auto um parken wollte. Als sie dann endlich das Haus betrat, verschloss Müller hinter ihr die Tür. »Wir müssen zuerst nachschauen, ob wir allein sind. Außer uns ist momentan nur Jana im Haus. Die anderen sind abwesend und werden die nächste Zeit kaum kommen. « Müller öffnete die Kellertür. Fahles Licht leuchtete auf eine Treppe. Ein muffiger Geruch kam ihnen entgegen. Der Waschkeller war verlassen, ebenso der Heizungsraum. Sylvia kontrollierte die Vorratsräume und die privaten Abteile. Am Ende des Ganges war eine schwere Eisentür, die Müller, ohne sie zu öffnen, zweimal abschloss. Den Schlüssel ließ er stecken. Zusätzlich schob er noch einen Riegel vor.
»Was ist da drin?«, fragte Markus.
»Das ist ein Gang, der die beiden Gebäude verbindet. Das alles zu kontrollieren haben wir keine Zeit. Hier unten ist es zumindest sauber. Wir kontrollieren jetzt noch Erdgeschoss, dann den ersten Stock und das Dachgeschoss. Ich habe keine Lust auf Überraschungen und ich glaube ihr auch nicht.« Müller wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Wir bleiben am besten zusammen.«
Markus war froh, dass der Hausmeister bei ihnen war. Der Mann wusste, was er tat. Sylvia wirkte etwas verloren. Ängstlich schaute sie umher, als sie den Keller verließen. Sie bestand darauf, weder als Erste, noch als Letzte die Stufen hinaufzulaufen. Trotzdem der Keller leer war, schloss Herr Müller die Tür ab. Nachdem sie im Erdgeschoss alle Räume, einschließlich des kleinen Apartments des Hausmeisters, durchsucht und die Rollläden an den Fenstern heruntergelassen hatten, machten Markus und Sylvia im ersten Stock weiter, während Müller den Dachboden kontrollierte.
Jana schlief friedlich. Die Infusion war noch nicht ganz durch. Markus legte der Kranken noch eine Wolldecke über die Bettdecke, dann öffnete er die Fenster.
»Nur zehn Minuten, damit sich die Luft erneuert«, flüsterte er Jana zu, die mühsam ihre Augen zu öffnen versuchte. »Versuch noch etwas zu schlafen, ich bin in einer halben Stunde wieder bei dir.« Er zog die Decke bis unter ihr Kinn und küsste sie auf die warme, trockene Stirn. Sie schloss ihre Augen wieder. Die Stelle, auf der er sie geküsst hatte, brannte. Was hatte er noch einmal gemurmelt, nachdem er sie geküsst hatte? Ihre Gedanken verschwammen, sie war plötzlich auf einem Schiff. Es war eine Segelyacht, kein Kreuzfahrtschiff. Kühler Wind blies ihr in das Gesicht. Markus stand neben ihr an der Reling und schaute auf das Meer. Seine Hand hielt ihre. Sie war glücklich, obwohl sie wusste, dass sie träumte.
In der Küche roch es nach Essen. Sylvia stand am Herd und briet Zwiebeln an. Auf dem Küchentisch lagen blutige Steaks. Die waren nicht in ihrem Wagen gewesen, an der Kasse war ihr die Packung nicht aufgefallen. Alles musste schnell gehen, hinter ihr eine lange Schlange, die Kassiererin gereizt und die Kunden ungeduldig.
Erst hier hatte sie das verpackte Fleisch entdeckt. Sie war sich nicht mal sicher, es ihr Vormann vergessen oder ob sie in der Hetze den Einkauf vom Kunden nach ihr mit eingepackt hatte. Markus Augen leuchteten jedenfalls erfreut, als er die Steaks entdeckte. Auch der Hausmeister, der den Dachboden kontrolliert hatte, strahlte.
Vor dem Mahl verschwand er noch einmal nach unten, um Bier zu holen. Markus wechselte bei Jana die Infusion. Sie schlief friedlich.
Sylvia deckte den Tisch in der Küche. Fünf Steaks, dazu Brot und Gurkensalat. Mit ein wenig schlechtem Gewissen dachte sie an den oder diejenigen, die jetzt auf das Fleisch verzichten mussten.
»Was glaubt Ihr«, fragte der Hausmeister während des Essens, »wo die zwei verschwundenen Bewohner und die Nachtwache abgeblieben sind? Ich kenne die Frau. Schwester Gabrielle ist schon älter, aber ziemlich fit.«
»Könnte es sein, dass sie geflüchtet ist und dabei die zwei Bewohner mitgenommen hat?«, fragte Markus.
»Gabrielle? Nie im Leben. Das sieht ihr nicht ähnlich. Ich denke, sie ist vor den Infizierten ins Bad geflüchtet und hat es dann irgendwie geschafft, wieder hinauszukommen und die Tür zu schließen. Was die beiden Bewohner betrifft, keine Ahnung. Oben haben wir alles durchsucht. Im Erdgeschoss war die Tür verschlossen und anscheinend ist auch keiner von denen da eingedrungen. Gabrielle hat wahrscheinlich Panik bekommen und ist weggelaufen. Wir haben bei ihr Zuhause angerufen, aber da ist niemand an das Telefon gegangen. Ich hoffe nur, sie hat sich nicht angesteckt und lungert jetzt hier irgendwo rum. Wegen der Bewohner müssten wir eigentlich eine Suchaktion starten. In der Nacht wird es kalt.« Sylvia nahm einen Schluck von dem Schwarzbier, das der Hausmeister zum Essen spendiert hatte.
»Heute Nacht werden wir ganz sicher niemanden suchen. Zumindest ich werde das nicht tun. Du kannst ja bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgeben«, überlegte Markus.
»Darum soll sich Herr Baier kümmern. Ich ruf ihn nach dem Essen gleich auf dem Handy an. Er hat doch die Leute oben versorgt und er ist länger da als wir alle. Er wird wissen, was zu tun ist «, bestimmte Sylvia. »Wir essen jetzt, dann versorgen wir Jana für die Nacht. Später schauen wir die Nachrichten.« Sie war froh, dass sie hier alle Räume kontrolliert hatten. Irgendwo waren drei Leute, die vielleicht infiziert waren und sie wollte ganz gewiss nicht diejenige sein, die ihnen zufällig über den Weg lief.