"Es ist so warm heute", sagte sich David als er an die Plattform trat. Und es stimmte. Für April war es erstaunlich warm, Berlin war sonst kälter. Am größten Bahnhof in Charlottenburg, besser bekannt unter seinem eigentlichen Namen, fuhr ein Zug ein. Sein Zug. Mit schrillem Pfeifen griffen die Bremsen des Zuges sich an den Gleisen fest und brachten ihn in der Bahnhofshalle zum Stehen. Türen schwangen auf, dutzende Leute strömten aus den Abteilen des Zuges, einige mit Koffern, andere komplett ohne Gepäck. Durch die großen Seitenfenster der Halle drang das Licht des Sonnenuntergangs ein und tauchte sie in ein helles orange. Der ehemalige Schandfleck der Stadt hatte sich gemacht. David stieg in den Zug ein und stellte sich an die Tür auf der anderen Seite des Wagons, Sitzplätze gab es zur abendlichen Stoßzeit garantiert keine mehr. Gedankenversunken starrte er aus dem Fenster in der Tür, während der Zug losfuhr. Fahrtrichtung war Südwesten, er konnte also keinen Blick auf den zoologischen Garten erhaschen. Minuten verstrichen, in denen die sich langsam schlafen legende Berliner Stadt sich noch einmal in den schönsten Lichtern kleidete. Von Hellorange über Dunkelorange bis Tiefrot, alles war dabei. Als er 20 Minuten später am Bahnhof Berlin Wannsee ankam, trug der Himmel ein feuerrotes Gewand. Hier war es nicht so lebendig wie am Ausgangspunkt seiner Fahrt, was daran lag, dass hier kaum jemand wohnte. Um diese Zeit wollten alle nur noch nach Hause.
Er machte sich auf, Richtung Wannsee zu gehen. Dort wollte er sich mit Stella und Christiane treffen, wie jeden Freitag. Einfach ausspannen, dem Alltag entkommen, wie jeden Freitag. Stella kannte ein verlassenes Haus, das der perfekte Ort für solche Treffen war. Paul und Babsi konnten dieses Mal nicht kommen.
Der Wind wehte David durch die Haare, während er sich dem See näherte. Dort war es praktisch immer etwas windig. Die Bäume um ihn herum raschelten mit ihren gerade erst gewachsenen Blättern. In der Ferne sah er die Silhouette des alten Hauses, er hatte das Gefühl, das alte Satteldach hatte noch weniger Dachziegel als zuvor. Es wurde von Mal zu Mal maroder.
Je näher er kam, desto klarer erkannte er zwei Personen vor dem Eingang des Hauses stehen, bald auch deren Gesichter. Stella und Christiane warteten bereits auf ihn, und das, obwohl er überpünktlich war. Sie konnten es wahrscheinlich nicht mehr abwarten. Aber wem machte er etwas vor, er konnte es auch nicht.
"Da bist du ja endlich!", rief Christiane ihm entgegen, noch etwa 20 Meter von ihm entfernt.
"Hättest dich ruhig etwas beeilen können!", fügte Stella hinzu. Ihre rotbraunen Haare schimmerten im Licht der verschwindenden Sonne. Christianes dunkles Haar hingegen passte sich eher an die Nacht an, die über sie hineinbrach.
"Bin doch extra schon vor 8 Uhr hier, ist doch gut!", verteidigte David sich und kam einen Meter vor den Beiden zum Stehen. Christiane fiel ihm sofort um den Hals.
"Ich dachte schon, du wärst jetzt dran gewesen! Ich hab' mir Sorgen gemacht!"
David lachte kurz.
"Um mich? Mach dir mal lieber um dich sorgen, oder Stella, oder Babsi, oder Paul"
Stella kicherte kurz und stimmte nickend zu.
"Na da sagste was"
Dieses Argument ließ sie, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht gelten.
"Ist doch so!", sagte David noch, ehe er von Christiane einen Hieb in die Seite bekam.
"Na komm jetzt, Stella wird schon ganz hibbelig!", fügte sie hinzu. Gemeinsam betraten die drei die Ruine des Hauses. In den vierzigern musste das ein wunderschöner Bau gewesen sein. Schade, dass er so verkommen war. Einzelne Fetzen Tapete hingen von den Wänden herab, grün verfärbt und bewachsen. Die verbleibenden Stellen waren blank, Backstein auf Backstein, voll von Moosen und Pilzen. Der Parkettboden war stellenweise komplett verschwunden. Man musste aufpassen, nicht in den Keller zu fallen. Die Treppe war ebenso zerstört, in den ersten Stock kam er so ohne weiteres nicht. Doch das war ihnen egal. Sie hatten ihren Stammplatz, an dem Ort, der vor über sechtzig Jahren einmal als Esszimmer konzipiert war. Mittlerweile deutet nur noch die direkte Verbindung zur ehemaligen Küche den einstigen Zweck des Raumes an. Neben der Tür war Graffiti gesprayed. Das einzige im ganzen Haus, überraschenderweise. Zu lesen war nur eine Jahreszahl, 1977. Das Jahr der Entstehung, vermutlich.
"Hast du's dabei?", fragte Stella. Sie schwitzte schon leicht.
"Meins oder deins?", lautete Davids Gegenfrage. Eigentlich hätte er sie sich selbst beantworten können. Dennoch fragte er.
"Na rate mal!", erwiderte Stella ironisch und streckte ihren Arm aus. David konnte nun sehen, wie stark sie tatsächlich zitterte. Jede weitere Minute wäre jetzt eine Tortur gewesen. Er griff in seine Hosentasche und zog ein kleines Päckchen Alufolie hinaus.
"Ich hab Feuerzeug und Löffel", warf Christiane ein und kramte in ihrer Tasche.
"An deine Nadel hast du hoffentlich gedacht!"
Stella rollte mit den Augen.
"Klar hab' ich das, alles gut! Wenn die jetzt nur nicht verstopft ist..."
Während Christiane sich das Päckchen Alufolie nahm, den Inhalt im Löffel verteilte und all dies mit dem Feuerzeug erhitzte, stellte Stella eine Flasche Wasser auf den Boden. Die leere Spritze hielt sie in die Flasche, zog sie mit Wasser auf, und drückte den Inhalt wieder hinaus. Die Mischung aus Blut und Wasser spritzte hervor und traf Davids schneeweißes T-Shirt.
"Ist das dein Ernst?", rief er und hielt sich schützend die Hände vor das Shirt. Er musste aufpassen, wo er seine Hände ließ, um sich nicht an Stellas gebrauchter Nadel zu stechen.
"Hätt'ste die nicht woanders auswaschen können?", fuhr Christiane sie an, die darauf nur mit den Schultern zuckte.
"Ist soweit!", rief Christiane schließlich und hielt Löffel und Feuerzeug leicht in Stellas Richtung. Diese zog sich eine Nadel auf, etwa ein Viertel weit, und tastete ihren von Einstichsstellen übersähten Arm ab, auf der Suche nach einer Vene.
"Stella hilf mir, ich find' keine mehr!"
"Ganz ruhig, ich mach' das!"
Christiane nahm Stella die Nadel ab und tastete ihren Unterarm ab. Sie zuckte hin und wieder zusammen. Jedes Mal, wenn Christiane eine alte Einstichsstelle berührte.
"Jetzt beeil' dich!"
Schweißperlen liefen ihr über die Stirn, während die Nadel immernoch keinen Eingang in ihre Venen fand. Jede Sekunde, die nun verging, fühlte sich für sie nach einer Ewigkeit an. Eine Ewigkeit voller Schmerz und Übelkeit, einer Ewigkeit ohne H.
"Hab's!", rief Christiane, als sie endlich eine noch unversehrte Vene fand. Sofort riss ihr Stella die Spritze aus der Hand und drückte ab.
"D... dan...", stotterte Stella, verdrehte die Augen und sank gegen die Wand. Ihre vormals hektische Pressatmung wurde nun ganz leicht und entspannt. Das zweite Mädchen krämpelte sich die Ärmel ihres schwarzen Rollkragenpullovers hoch, ehe sie sich selbst eine Spritze aufzog. Eine brandneue, Stella konnte nicht an so eine kommen. Ein Druck und sie sackte an der Wand zusammen, wie ihre Freundin vor ihr. Sie wirkten beide so entspannt und weggetreten. Auf Fragen würden sie jetzt nicht mehr antworten, bestenfalls noch mit "mhm". Er schaute auf sie hinab und kramte in seiner Hosentasche herum. In seiner Hand lag nun ein Trip, er hatte ihn sich extra hierfür mitgenommen. Ein Trip. LSD, Mescalin, ein Halluzinogen. Damit musste er nun Vorlieb nehmen, in der Gegenwart der Beiden. Ein Trip, ein Trip gegen H.
Er griff nach Christianes benutzter Nadel und dem Löffel, der noch nicht komplett geleert war. Ein Druck, dann verschwamm seine Erinnerung. Es war himmlisch, eine seltsame, perfekte Mischung aus absoluter Entspannung und allerhöchster Erregung. Seine Wahrnehmung verschwamm und die Zeit schritt von Sekunde zu Sekunde langsamer voran. Es hätten Stunden vergehen könnten, Tage, Wochen, Monate. Er hätte den Unterschied nicht festgestellt.
Seine Sinne teilten sich.
Eine Hälfte wurde wach, geweckt durch die Hektik der Menschen, die andere Hälfte befand sich tief in einem Traum. Einem Traum, weich, wie Gras unter seinen Füßen und Zehen, wie ein süßlicher Duft in seiner Nase...