Für einen kurzen Augenblick scheint die Welt den Atem anzuhalten. Kira und Anahita umarmen sich ein letztes Mal vor dem Abschied. Kira, das zierliche 8-Jährige Mädchen, mit ozeanblauen Augen und schulterlangem, lockigem Haar. Und Anahita ihre beste Freundin. Sie ist dunkelhäutig. Nougatschokoladenbraun, wie Kira zu sagen pflegt. Ihre langen , schwarzen Haare fallen ihr auf den Rücken und ihre ernsten, pechschwarzen Augen machen sie, trotz ihres jungen Alters, zu einer exotischen Schönheit. Eigentlich waren die zwei Freundinnen so unterschiedlich, dass man meinen könnte, sie kämen von verschiedenen Planeten. Nun ja, verschiedene Länder waren es. Vor einem Jahr etwa, kam Anahita in unser kleines Bergdorf Bitzingen, um dort Schutz vor dem schlimmen Krieg in ihrem Heimatland Libyen zu suchen. Seither lebte sie mit ihrer Mutter und drei Geschwistern in einem umgebauten Gasthof in unserer Straße. Der Vater ist im Krieg gestorben und ihre zwei kleinen Schwestern sind bei der Überfahrt mit dem Boot nach Europa ums Leben gekommen. Nach tagelanger, kräftezehrender Reise waren sie aus dem überfüllten Boot ins Meer gefallen und ertranken. Einfach so. Niemand in dem Boot konnte schwimmen und die Menschen konnten sich einfach nicht mehr um Andere sorgen. Alle waren sie so fertig. Mit dem Krieg, dem Leid, dem Tod überall. Die Familie musste sich den beschränkten Platz ihrer Unterkunft mit zehn weiteren Familien aus Afrika teilen. Doch irgendwie war das nicht so einfach. Anahitas Mutter hatte Depressionen und hatte einfach keine Kraft mehr um für ihre Kinder zu sorgen. Ein Helferverein vor Ort kümmerte sich um die Kinder, regelte den Schul- und Kindergartenbesuch und fand psychologische Betreuung für die Mutter. Anahita war von Anfang an sehr aufgeschlossen und man merkte ihr die ganzen Strapazen kaum an. Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit ihr. Kira war zum Spielen auf die Straße gegangen und kam schon nach einer halben Stunde mit verheultem Gesicht wieder zurück. Anklagend zeigte sie auf ein „braunes Mädchen“ ,das ihre Lieblingspuppe gestohlen hatte. Die Puppe lag in einer Pfütze und war mitsamt ihrem lila Blumenkleid voller Matsch. Seufzend nahm ich die Puppe und überlegte mir, ob ich das freche Kind zurechtweisen sollte. Ich sah mich um, doch schon war das Mädchen verschwunden. Mit tröstenden Worten versprach ich meiner Tochter, die Puppe wieder ganz sauber zu machen, und bei nächster Gelegenheit ein ernstes Wörtchen mit dem „braunen Mädchen“ zu reden. Na hoffentlich ging das nicht so weiter. Plötzlich klingelte es an der Tür … und überrascht sah ich die kleine, afrikanische Dame vor mir. Sie hatte gebrauchte Kleidung aus dem Secondhandladen an und war voller Matsch, genau wie die Puppe. In ihren Händen hielt sie jeweils ein Eis am Stiel und streckte Kira auffordernd eines entgegen. Nach einer halben Minute beleidigten Schmollens nahm sie schließlich das Eis und grinste mich an. Ich weiß nicht wie es geschah, aber eine Stunde später standen zwei Matschmonster vor mir, die glücklicher aussahen als Alles, was ich in meinem Leben je gesehen hatte. Kira kuschelte sich am Abend an mich und flüsterte in mein Ohr: „Darf Anahita morgen wieder kommen?“.
Und obwohl es am Anfang ihrer Freundschaft kein Wort gab, das beide verstanden, konnten sie viele Stunden miteinander verbringen und mit ihrem Lachen den Himmel auf die Erde holen. Ein halbes Jahr lang waren die Mädchen in eine Klasse gegangen und mittlerweile konnte Kira sich so gut mit ihrer Freundin auf arabisch unterhalten, dass ich manchmal neidisch neben den Beiden am Mittagstisch saß und den Mund nicht mehr zubekam. Kira wollte Anahita von Anfang an ihre eigenen Kleider schenken, weil sie sah, dass ihre beste Freundin nie hübsche Sachen zum Anziehen bekam. Mit der Zeit veränderte sich unser ganzes Leben durch das Mädchen aus dem alten Gasthof. Wir luden die ganze Familie regelmäßig zum Essen ein, machten Ausflüge und sahen die Welt der Flüchtenden aus einer anderen Perspektive. Anahita zeigte uns auch wie man schnell vergibt und lieber lacht als weint, wie man Sachen weiterschenkt , obwohl man selbst kaum etwas hat, wie man Grenzen vergisst und einfach wild ist und liebt und lebt ohne auf die Umstände zu schauen. Sie wurde wie eine zweite Tochter für mich.
Und die erste Träne kullert mir die Wange herunter. Noch immer umklammern sich schwarz und blond, deutsch und libysch, Mädchen und Mädchen. Die Familie muss nach Libyen zurück, da es als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde. Die schreckliche Nachricht erhielten wir vor zwei Wochen und sie traf mich wie ein Steinschlag. Wie würde Kira ohne ihre beste Freundin zurecht kommen ? Durch das vorlaute und zugleich anmutige Mädchen aus Lybien war meine Tochter so viel selbstbewusster und lebensfroher geworden. Und jetzt? Warum müssen sie zurück? Wir hätten ihnen geholfen eine eigene Wohnung zu finden und... einfach immer... geholfen, doch Gesetz ist Gesetz und es war einfach vorbei. Kira und Anahita lassen sich los und ich schnappe nach Luft und presse meine Lippen noch stärker aufeinander. Kira wischt sich die Tränen aus den Augen und murmelt wohl das arabische Wort für „Auf Wiedersehen“ vor sich hin. Es ist Zeit für Anahita in den Bus zu steigen und auch ich drücke sie ein letztes Mal an mich. Die Puppe mit dem lila Kleid wechselt noch die Besitzerin und ich fühle, wie sich die Mädchen stillschweigend versprechen für alle Ewigkeiten verbunden zu bleiben. „Du bist meine beste Freundin auf der ganzen Welt!“ , sagt Anahita mit einem Lächeln bevor sie sich zum Gehen wendet. Wir winken ihr noch lange nach und in Gedanken plane ich unseren nächsten Urlaub in Libyen, egal wie gefährlich es dort noch sein mochte. Denn jetzt weiß ich, dass Freundschaft keine Grenzen kennt.