Vor einem Jahr, da wurde meine Oma sehr krank. Niemand versteht, wie schlimm das gerade für mich ist, weil meine Oma nicht einfach irgendein Familienmitglied für mich ist. Sie ist nämlich meine Adoptivmutter, weil meine Mama im Gefängnis sitzt. Und das schon seit 7 Jahren. Ich besuche sie jedes Jahr so zweimal, aber das geht nur, wenn Oma genug Geld hat für eine Zugfahrt nach Waldeck im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Dort ist ein Hochsicherheitstrakt für besonders gefährliche Verbrecher. Warum sie dort ist, das weiß ich nicht. Am Anfang war es sehr schlimm für mich, nicht zu wissen was Sache ist, und wann meine Mama wieder freigelassen wird. Auch die Leute in unserem Dorf haben immer mit dem Finger auf mich gezeigt, und sich dann entweder verächtlich abgewendet oder voller Begeisterung mit ihren Tratschkompagnons verrückte Theorien aufgestellt. Meine Nachbarsfreundin Bathil hat mich einmal gefragt, ob meine Mama vom Teufel magische Zauberkräfte bekommen hat.
Das ist jetzt vorbei. Zum einen bin ich zu meiner Oma an den Stadtrand gezogen , von wo aus man nur fünf Minuten zum Bayerischen Wald braucht. Und außerdem sind viele alte Leute gestorben, und andere sind in die Stadt gezogen. Vielleicht fanden die Dorfbewohner es auch irgendwann langweilig immer über die gleiche Familie herzuziehen.
Doch zur Zeit wohne ich alleine in dem kleinen Haus, das mehr einer Hütte gleich, weil Oma vor ein paar Wochen in die Klinik gekommen ist. Das Jugendamt hat seitdem versucht, mich „umzusiedeln“ um mich ausreichend zu schützen. Ohne mich! Ich bin 16 Jahre alt, wo liegt das Problem? Ich war schon immer ein Einzelkämpfer und so oft habe ich gemerkt, dass man sich einfach nicht auf Menschen verlassen kann. Anstatt mit Freunden ins Kino zu gehen oder mit meinen Eltern zu verreisen, streife ich durch den Wald. Und zwar stundenlang, jeden Tag , bei jedem Wetter. Der Wald ist praktisch meine eigene Welt. Dort kann ich ich selbst sein und am meisten liebe ich das Gefühl der Freiheit, wenn ich zum Beispiel eine hohe Tanne erklimme, oder an verborgenen Stellen im Wald nackt in einem Weiher in meiner eigenen privaten Lichtung baden gehe. Anstelle mit Nagellack und Haarspray laufe ich mit Wanderstiefeln und Blütenstaub oder Blättern in den Haaren durch die Gegend. Nur in der Schule muss man brav gekämmt mit gut sitzender Uniform erscheinen, ansonsten erwarten uns zahlreiche Strafen, die noch niemand austesten wollte. Ein Elitegymnasium nur für Mädchen. Ich könnte kotzen, aber mein Vater, den ich noch nie gesehen habe, hatte für mich nur die beste Bildung im Sinn und hat einen Batzen Geld dafür investiert. Ansonsten haben Mama , Oma und ich nie etwas von seinem Geld zu sehen bekommen. An dieser Stelle sollten sich die Ämter mal lieber einschalten.
Ich sitze im Wald , etwa 7 km nördlich von der Hütte auf einem kleinen Felsen und beobachte die Rehkitze von Bass, das heißt Schneeflocke auf Luxemburgisch. Oma hat vor Jahren eine Reise nach Luxemburg gemacht und dort ein angeschossenes Reh mitgenommen. Irgendwie haben wir es zusammen geschafft Bass großzuziehen und auszuwildern, obwohl sie hinkt und eine große Wunde am Bauch hatte. Mehr oder weniger. Sie lässt sich immer noch streicheln und wenn es im Winter nicht genug zum Fressen gibt, bettelt sie an Omas Hütte.
Die Kleinen knabbern sich gegenseitig an den Ohren an und versuchen sich immer wieder im herumspringen, was noch ein wenig unbeholfen wirkt. Ich muss lachen. Wie sehr ich diese Tiere liebe, sie sind meine besten Freunde geworden. Eine Zeit lang wurde ich in der Schule gemobbt, weil ich mich im Winter als unsere Dusche kaputt war, kaum waschen konnte. Damals bin ich direkt von der Schule zu Bass gelaufen und habe ihre Wärme aufgesogen, während sie meine Tränen abgeleckt hat. Ich weiß, Rehe mögen den Salzgeschmack, aber ich weiß auch, dass Bass immer weiß, wie es mir geht.
Gerade kommt sie angehoppelt, sie läuft ein wenig wie ein Hase, und schaut neugierig durchs Gebüsch um zu prüfen, ob es ihren Kitzen gut geht. Freundlich stupst sie mich in den Bauch und ich grinse. Natürlich möchte sie ein paar Leckerlis. Ich hole eine Brotzeitbox aus der Schultasche und gebe ihr selbstgepflückte Brombeeren, eine wahre Delikatesse! Nach drei Stunden Hausaufgaben machen, muss ich mich auf den Rückweg machen, um Omas Post zu beantworten und die Hütte zu putzen. Mir wird ein flau im Magen weil mich die Einsamkeit schon ein wenig auslaugt, auch wenn ich nie im Leben in ein dämliches Wohnheim ziehen würde! Mit einem traurigen Blick nicke ich Bass zu und streichle ein paar anderen Rehen über den Kopf, wovon einige etwas scheuer sind und leicht zusammenschrecken. Nach einer halben Stunde Marsch setze ich mich kurz auf den Boden um meine Schuhe auszuleeren und ich schaue nach oben, in den wolkenbehangenen Himmel. Plötzlich vermisse ich meine Mama, meine Oma und vielleicht sogar meinen Papa fürchterlich. Zu allem Überfluss fängt es auch noch an zu tröpfeln. Der Regen wäscht wenigstens meine Tränen ab sage ich mir und lasse mich auf den Rücken fallen. Ich schließe die Augen und spüre die kalten Tropfen auf meinem Gesicht. Plötzlich spüre ich etwas weiches, gummiartiges über meinem linken Auge. Mein Herz lässt einen Schlag aus und ich schrecke hoch. Hier steht meine persönliche Superheldin, mein Schutzengel und Tränenablecker persönlich: ein hinkendes Reh mit dem Namen Schneeflocke auf Luxemburgisch. Ich falle Bass um den Hals, die es irgendwie geschafft hat, ihre Kinder mitzuschleppen, und lache und weine in ihr weiches Fell. Sie zaust mir durch die Haare und auf einmal ist die Welt ein bisschen mehr in Ordnung.