Kapitel 5
Es war gegen drei Uhr morgens und Jillian, Tim, Jonas, Samantha und Martin Hill saßen zusammen am Küchentisch und hingen ihren Gedanken nach. Seit ein paar Minuten hatte keiner mehr Worte gefunden. Es schien, als hätten sie sich leer geredet. In diesen letzten Stunden hatten sich Jonas´ kühle Eltern als eine Zufluchtsstätte des Friedens und der Wärme entpuppt. Die Welt stand Kopf, war völlig aus den Angeln geraten. Für Jillian fühlten sich Samanthas warme, seltsam ehrfürchtige und dankbare Blicke ihrem Sohn und Mann gegenüber an, wie ein Blick in einen seltsam verzerrten Spiegel. Plötzlich stand sie auf der anderen Seite. Sie hasste sich dafür, was dieser Anblick in ihr auslöste. Wie unfair!, schrie das Monster in ihrer Brust. Welch widernatürliche Harmonie und Liebe angesichts unseres Leides! Müsst ihr denn gerade jetzt aufwachen und sehen, was ihr aneinander habt??
In der Luft hingen tausende von unausgesprochenen Fragen und der Geruch von frischem Kaffee. Für Außenstehende hätten sie das Bild einer kleinen, friedlichen Familie abgegeben, die sich einen gemeinsamen Mitternachtssnack gönnte, sah man aber genauer hin, konnte man die Verzweiflung auf jedem einzelnen Gesicht erkennen.
„Es ist wie ein Traum.“ Als Jillians dünne Stimme die Stille zerriss, sahen sie alle an, vor allem Jonas ließ sie nicht aus den Augen. Äußerlich wirkte sie ruhig, aber wenn er in ihre Augen sah, konnte er das Chaos in ihrem Kopf erkennen. „Wie ein schrecklicher Alptraum. Ich versuche immer und immer wieder aufzuwachen, weil ich zu wissen glaube, dass ich nur träume, aber es geht nicht und wenn dann wieder der Schmerz kommt, so erbarmungslos stark, weiß ich, dass es Wirklichkeit ist.“
Tim griff über den Tisch und nahm ihre Hand. Sie versuchte sich an einem Lächeln und scheiterte kläglich.
Samantha warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, der verständnisvoll nickte, bevor sie sich an Tim und Jillian wandte: „Wir lassen euch beide jetzt allein. Ich denke, das wird euch gut tun.“ Martin und sie erhoben sich und sahen Jonas auffordernd an, der sich nicht von der Stelle rührte. Nicht einen Augenblick lang dachte er daran, Jillian jetzt allein zu lassen.
Doch sie schien seine Gedanken lesen zu können und sah ihm in die Augen. „Tim ist bei mir.“, flüsterte sie dann.
„Gut... dann geh ich jetzt hoch.“
„Wir gehen gleich rüber.“ Tim presste die Worte mühsam heraus. Ihm graute es davor, Jillian in das trostlose, tote Haus bringen zu müssen, das er so fluchtartig verlassen hatte, aber es musste irgendwie weitergehen. „Danke, dass Sie uns geholfen haben. Wir wollten Sie nicht stören...“
„So ein Unsinn!“, widersprach Martin Hill sanft und bedeutete seinem Sohn mitzukommen. „Ihr könnt jederzeit zu uns kommen, du und Jillian. Wir... werden euch bei allem helfen, was jetzt zu tun sein wird und...“
„Martin!“, flüsterte Samantha energisch und legte ihrem Mann eine Hand auf den Arm. Sie wusste, dass Jillian und Tim bald Dinge würden erledigen müssen, die mit dem Tod ihrer Eltern zu tun haben würden, und sie wusste auch, dass dies noch mehr schmerzen würde, als diese Nacht. „Wenn ihr Hilfe braucht, sind wir immer für euch da.“
Als Jonas und seine Eltern sich zum Gehen wandten, sprang Jillian abrupt auf und fiel ihrem besten Freund um den Hals. Sie atmete die Vertrautheit zwischen ihnen ein wie eine Ertrinkende Sauerstoff und füllte die Leere in sich auf. Sie wollte alles vergessen, den Schmerz aus ihren Haaren reißen. Sie wollte sich auf den Boden werfen und weinen und fluchen wie ein Kind.
Jonas warf seinen Eltern hilflose Blicke zu. „Soll ich hier bleiben?“, fragte er dann an Jillian gewandt, die ihn nun ansah und sanft mit dem Kopf schüttelte.
„Danke, dass du da warst, Jonny.“ Nach diesen Worten brach sie ganz unverhofft in Tränen aus und ließ sich einfach auf die Knie fallen, Jonas fing sie auf und umarmte sie. Ihr Schluchzen erfüllte das ganze Haus. Die letzten beiden Stunden war sie ganz ruhig und beherrscht gewesen, jetzt brach alles aus ihr heraus.
Tim war aufgesprungen und zu ihr geeilt, mit einem Handzeichen bedeutete er Jonas und seinen Eltern, dass sie lieber gehen sollten. Jonas’ Vater zerrte seinen unwilligen Sohn aus der Küche und schloss die Tür hinter den zwei Geschwistern.
In dieser Sekunde merkte Jonas, dass er an Jillians Seite gehörte. Nicht nur in der Schule oder Nachbarschaft, sondern auch in Freud und Leid. Und auch wenn Tim in der Küche bei ihr war, fühlte es sich für ihn so an, als würde er Jillian allein zurücklassen, als die Küchentür mit einem endgültigem Knall vor seiner Nase zuschlug. Es hatte etwas so Widernatürliches an sich, jetzt nicht bei ihr zu sein.
„Ich kann sie doch jetzt nicht alleine lassen!“, sagte er aufgeregt.
„Sie ist nicht allein.“, entgegnete seine Mutter erschöpft und strich ihrem Sohn liebevoll über die Wange. Eine Geste, die er nur von Katrin Seifert kannte. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen und er wischte sich schnell mit dem Handrücken über die Wange.
„Du musst dich nicht schämen. Es ist schrecklich.“, sagte sein Vater und schüttelte immer wieder ungläubig mit dem Kopf.
„Es ist so ungerecht.“, brach es aus Jonas heraus. „Warum gerade sie? Warum ist das passiert?“
Hilflos sah Samantha ihren Mann an und antwortete dann: „Jonny... bei so etwas kann man nicht nach dem Warum fragen. Solche Dinge geschehen nun mal und sie lassen sich nicht wieder rückgängig machen.“
„Nichts wird wieder so sein, wie es war.“ Jonas fuhr sich aufgebracht durchs Haar.
„Nein, da hast du Recht.“, entgegnete sein Vater ruhig. „Aber wir alle müssen versuchen, mit dieser Situation umzugehen und vor allem müssen wir jetzt für Jillian da sein. Sie wird bald ganz auf sich allein gestellt sein.“
Jonas sah erschrocken auf. „Was? Wieso? Sie hat doch Tim.“
„Wirklich? Der Junge hat sich, so weit ich weiß, in New York beworben. Nächste Woche wird er nicht mehr hier sein.“
Jonas fuhr der Schrecken durch alle Glieder bei dem Gedanken daran, dass Jillian bald ganz allein sein würde. „Das kann er doch nicht machen. Was wird aus Jillian?“
„Was wird aus ihm?“, stellte Martin Hill seinem Sohn die Gegenfrage. „Tim ist dreiundzwanzig Jahre alt und hat keinen Job. Er muss sein Leben weiter leben. Es gibt jetzt keine Mutter und keinen Vater mehr für ihn, die ihm mit Geld aushelfen könnten. Jillian ist volljährig und kann damit laut Gesetz für sich selbst sorgen. Tim muss also nicht hier bleiben und das kann er auch nicht, er muss sich einen Job besorgen.“
„Jillian geht noch zur Schule und verdient deswegen nichts, sie wird also von dem leben müssen, was ihr ihre Eltern zurückgelassen haben, da bleibt für Tim nicht viel übrig.“, fuhr Samantha ruhig fort.
Jonas erschrak, als er einsah, dass seine Eltern Recht hatten. „Aber Jillian kommt alleine nicht zurecht.“, erwiderte er verzweifelt.
Beruhigend strich sein Vater ihm über den Kopf und drückte ihn dann an sich. „Sie ist nicht allein. Sie hat dich und auch wir werden alles für sie tun, was uns möglich ist, damit ihre Wunden schneller heilen. Aber mit der Zeit wird sie damit zurecht kommen müssen. Sie wird sich an die neue Situation gewöhnen müssen.“
„Ich will allein sein.“, murmelte Jonas erschöpft, ohne noch etwas aus seinem Umfeld wahrzunehmen und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Er dachte an Jillian und er hörte sie schreien. Er hörte, wie sie weinte und er sah sie vor seinem geistigen Auge zusammenbrechen. Immer und immer wieder.
Aber in Wirklichkeit war sie wieder ganz still. Sie und Tim saßen immer noch nebeneinander, auf den kalten Fliesen in der Küche, und schwiegen. „Alles ist so undeutlich.“ Jillians Stimme klang weinerlich und Tim drückte ihre Hand. „Alle Bilder rasen so verschwommen durch meinen Kopf. Wie lange ist es her, dass die beiden mit uns in deinem Zimmer waren?“
Sie schlang beide Arme um ihren bebenden Körper und schloss die Augen, als sie sich an die letzte Umarmung ihrer Mutter erinnerte. Wie sehr sehnte sie sich schon jetzt nach ihr!
„Jill... wir müssen rüber gehen.“ Tims Stimme klang leise und beruhigend, obwohl er genauso zitterte wie seine kleine Schwester, aber sie wirkte im Moment so zerbrechlich, dass er es sich nicht wagte, ihr seine Schwäche zu zeigen. Sie brauchte jetzt Halt und er musste wenigstens versuchen, ihn ihr zu geben.
Er versuchte, nicht an die Stunden, Tage, Wochen und Monate zu denken, die folgen würden. Sie würden beide vollkommen auf sich allein gestellt sein. Sie würden in diesen Stunden erwachsen werden müssen. Er stand auf und zog auch seine Schwester sanft auf die Beine. Mit einer einfachen Handbewegung wischte er die Tränen von ihren Wangen, die aber sofort durch Neue ersetzt wurden.
Sie ließ sich wie ein kleines Kind bei der Hand nehmen und in den Flur führen. Stumm legte er ihr die Jacke um die Schultern, bevor sie gemeinsam das Haus der Hills verließen. Draußen schlug ihnen eine trügerische Stille entgegen. Der Wind hatte nachgelassen und die Nachtluft war nun so lau, als hätte es die dicken Schneeflocken nie gegeben. Im Licht einer aufflackernden Straßenlampe konnte Tim sehen, wie die Eiszapfen an seinem Fenster zu tauen begannen. Vorsichtig führte er seine Schwester über den noch immer spiegelglatten Gehweg bis zu ihrem Hoftor und zusammen betraten sie das fremdgewordene Grundstück.
Jillian hatte das Gefühl, sich nicht mehr in ihrem Körper zu befinden, sondern als unbeteiligte Zuschauerin neben Tim und sich selbst herzugehen, um alles aus einiger Distanz erleben zu können.
Als Tim den Schlüssel im Schloss umgedreht hatte, wartete er noch eine Weile, bevor er die Tür öffnete. Jillian beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Seine Hand, die den Schlüssel hielt, zitterte unaufhörlich, seine Augen glänzten, sein Blick war entschlossen. Er atmete tief durch, bevor er es endlich fertig brachte, die Tür zu öffnen.
Jillian trat ein und wurde von einer gähnenden Leere empfangen, die sie so noch niemals erlebt hatte. Völlig überwältigt von dem Moment, hielt sie sich erschrocken die Hand vor den zitternden Mund. Es schien sich einfach nichts verändert zu haben, obwohl sich doch alles verändert hatte.
Tim legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter, aber Jillian wehrte ihren Bruder ab. „Jill...“
„Lass mich!“, sagte sie heftiger, als beabsichtigt. Entschuldigend drehte sie sich zu ihm um und sagte mit ruhigerer Stimme: „Ich muss kurz allein sein. Du hattest deine Zeit, um dich hier schon umsehen zu können. Ich will jeden Raum dieses Hauses sehen. Wie sieht es aus, ohne die zwei Bewohner, die es zu dem gemacht haben, was es war – nämlich: unser zu Hause?! Ich muss mir all dem bewusst werden, Tim. Wenn nicht jetzt, wann denn dann?“
Nach kurzem Zögern, ließ er Jillian endlich los. Er wusste genau, welches Chaos gerade im Inneren seiner Schwester wütete und es quälte ihn, dass er rein gar nichts tun konnte, damit sie sich besser fühlte.
Jillian ging den langen Gang, der von der Garderobe zu drei verschiedenen Zimmern führte entlang und betrat zuerst die Küche. Das Geräusch des unaufhörlich tropfenden Wasserhahns war unnatürlich laut und passte sich ihrem raschen Herzschlag an. Für eine Sekunde schloss sie die Augen und das unregelmäßige Tropfen verwandelte sich in einen gleichmäßigen Strom. Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie, mit dem Rücken zu ihr gewandt, an der Spüle stand und das Geschirr für das nächste Essen abwusch. Wie immer trug sie ausgewaschene Jeans und ein bequemes Top, das ihrer schönen Figur sehr schmeichelte. Ihr langes, schwarzes Haar hatte sie in ihrem Nacken zu einem lockeren Knoten zusammen gebunden, sodass es sie nicht bei der Arbeit behinderte. Sie wandte ihr Gesicht zu Jillian um und lächelte nachsichtig und tröstend.
Als Jillian die Augen wieder aufschlug, tat es mehr weh, als vor dem kurzen Ausflug in die Vergangenheit, die Küche leer und im dunklen Schatten der Nacht vorzufinden. Schnell machte sie Kehrt und betrat das Wohnzimmer.
Schon von weitem sah sie das Handy ihres Vaters auf dem Wohnzimmertisch liegen, so als warte es auf seinen verloren gegangenen Besitzer. An dem Tisch hatten sie zu Weihnachten oft gesessen und viele verschiedene Brettspiele gespielt, jedes Jahr. Die Stube war an diesen Tagen mehr denn je von Liebe und Lachen ausgefüllt gewesen.
Kopfschüttelnd wandte sie auch diesem Raum den Rücken zu und betrat das Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie ging zu dem großen, weichen Bett hinüber und setze sich kurz. Sanft strich sie über die Laken und erinnerte sich wehmütig an die Nächte, in denen sie sich noch hier verkrochen hatte, wenn es draußen gestürmt oder gewittert hatte. Sie erinnerte sich an den warmen, weichen Körper ihrer Mutter, die ihre kleinen Glieder immer gewärmt und gestreichelt hatte, sodass sie sich in einer trügerischen Sicherheit gewogen hatte – so als würde es nie anders sein, als könnte sie sich immer hier bei ihr in diesem Bett verkriechen, wenn die Welt da draußen zu beängstigend wurde. So eine Lüge!
Sie erhob sich so schnell, als wäre das Bett, auf dem sie saß, mit glühenden Eisen ausgelegt und rannte fluchtartig aus dem Raum. Atemlos stieg sie die Stufen zu ihrem und Tims Zimmer hinauf und betrat zuerst das ihres Bruders. Vor ungefähr zehn Jahren hatte sich auf dem Teppichboden, den sie nun vor sich sah, eine kleine Eisenbahnstrecke ausgebreitet. Noch heute sah sie Tim, Jonas und ihren Vater, der sich wie ein Kind für das Spielzeug begeistert hatte, davor sitzen.
Nach kurzem Zögern betrat sie schließlich ihr eigenes kleines Reich und bemerkte, wie überflüssig es nun geworden ist. Sie schaltete das Licht ein und betrachtete feindselig den ihr so liebgewonnenen Raum. Wie froh war sie in manchen Stunden gewesen, hier Schutz vor ihrer Familie finden zu können, wenn sie sich unverstanden oder ungerecht behandelt gefühlt hatte.
Jetzt stand sie genau hier und hätte mehr als nur diesen Raum gegeben, um ihre Eltern nie wieder missen zu müssen. Sie brauchte kein eigenes Zimmer mehr, um ungestört zu sein. Nie wieder würde ihr Vater unverhofft herein kommen und sie dabei erwischen, wie sie wild tanzend durch den Raum sprang. Sie konnte das Schild an ihrer Tür, auf dem die Worte „Bitte anklopfen“ zu lesen waren, getrost abreißen, niemand würde ihr Zimmer je wieder unverhofft betreten.
Als ihr plötzlich wieder Tränen das Gesicht herunterliefen, bedeckte sie es mit ihren Händen und weinte still vor sich hin.
Jonas hatte seine Hände auf sein Fensterbrett gestützt und starrte zu Jillian hinüber. Durch den dünnen Vorhang an ihrem Fenster konnte er sie gut erkennen. Sie stand mitten im Raum und schien zu weinen. Seine Hand wollte nach ihr greifen, um sie zu trösten, aber er traf nur auf das Glas seiner Fensterscheibe. Jillian musste in diesen Stunden ohne ihn auskommen und er wusste nicht, wem diese Tatsache mehr zu schaffen machte – ihm oder ihr?
Resigniert wandte er sich wieder von ihr ab, er konnte diesen Anblick einfach nicht ertragen. Unentschlossen blieb er mitten in seinem Zimmer stehen. Er war kurz davor, einfach zu ihr rüber zu gehen, doch dann erinnerte er sich an Tim, der seiner Schwester jetzt sicher einiges zu sagen hatte.
Jonas konnte einfach nicht glauben, dass er sie so einfach im Stich lassen wollte und ganz egal, was seine Eltern noch für Gründe anbrachten, es musste eine andere Möglichkeit für Tim geben. Er könnte sich hier einen Job suchen, Jillian wäre das sicher auch viel lieber, aber diese ahnte ja noch nicht einmal etwas davon, dass ihr großer Bruder trotz allem, was in dieser Nacht geschehen ist, noch immer vorhatte, nach Amerika zu gehen. Wütend ballte Jonas seine rechte Hand zur Faust. Er hätte Tim gern einmal gehörig die Meinung gesagt, aber das musste warten, denn im Moment teilten sie beide die Sorge um Jillian.
Um sich abzulenken räumte er das Geschirr zusammen, was noch von dem gemeinsamen Abendessen mit Jillian in seinem Zimmer herumstand. Auch sein Bett wies noch immer die Abdrücke auf, wo sie beide zusammen eingeschlafen waren. Schnell strich er die Decke glatt. Die Erinnerung, dass sie hier seelenruhig geschlafen hatten, während Katrin und René Seifert diesen schlimmen Autounfall gehabt hatten, lag schwer auf seiner Brust. Auch der süße Vanilleduft, den die vielen Teelichter vor Stunden verströmt hatten, hatte nichts Angenehmes mehr an sich. Jonas öffnete das Fenster, damit die Nachtluft alle unerwünschten Gerüche und Erinnerungen mit sich nehmen konnte.
In diesem Moment wandte Jillian den Kopf und sah, dass auch Jonas noch lange nicht an Schlaf denken konnte. Sein Fenster stand weit offen und er lehnte sich mit geschlossenen Augen hinaus. Vielleicht versuchte er ja, alle Bilder und Gedanken in seinem Kopf klarer werden zu lassen oder er hoffte, und daran glaubte Jillian eher, der kalte Nachtwind würde sie alle mit sich nehmen. Gedanklich dankte sie ihm nochmals, dass er für sie da gewesen ist, als sie ihn am aller meisten gebraucht hat und dabei kann es ihm selbst nicht leicht gefallen sein. Sie erinnerte sich, wie sehr seine Worte gewackelt und seine Hände gezittert hatten.
Dann dachte sie an ihren Bruder. Wie schwer muss es ihm gefallen sein, die schreckliche Geschichte wieder und wieder erzählen zu müssen – erst Jonas, dann seinen Eltern und schließlich ihr. Wie musste er sich gefühlt haben, als er verschlafen festgestellt hatte, dass ihre Eltern immer noch nicht zu Hause waren? Sie hätte gern seine Hand gehalten, als Dr. Lorenz ihm jedes einzelne Detail über den Tod ihrer Eltern berichtet hatte. Er hatte es, im Gegenzug zu ihr, ganz alleine durchstehen müssen.
Dass Tim gewollt hatte, dass Jonas ihr die schreckliche Nachricht beibrachte und es nicht selbst getan hatte, würde sie ihm ebenfalls niemals vergessen. Sie war froh, es durch Jonas’ ruhige Worte gleich begriffen zu haben, Tim war zu diesem Zeitpunkt noch viel zu aufgeregt gewesen, als dass er ihr die Sache verständlich hätte beibringen zu können.
Jetzt befand er sich allein im dunklen Wohnzimmer und kämpfte gegen die Gefühle in sich an, nun wollte sie für ihn da sein. Sie schloss die Tür leise hinter sich und eilte die Stufen hinunter, als sie auch schon den schwachen Lichtschein sah, der aus dem Wohnzimmer zu ihr drang.
Tim hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Seine Schwester stand in der Tür und wirkte ungewöhnlich ruhig. Jeder Muskel in ihrem Gesicht war angespannt, damit sie ja nicht die Kontrolle über ihre Züge verlor. Stumm deutete er auf den Platz neben sich und sie setzte sich zu ihm auf die Couch. Eine Weile saßen sie nur stumm nebeneinander und er überlegte, wie er ihr sagen sollte, was er zu sagen hatte und ob der Zeitpunkt dafür jetzt nicht noch zu früh wäre.
„Wann fliegst du nach Amerika?“
Überrascht und gleichzeitig froh darüber, dass sie es war, die das Thema angesprochen hatte, sah er seine Schwester an. „Woher weißt du, dass ich...?“
„Dass du trotzdem fliegen willst?“, beendete Jillian seinen Satz. „Tim, das ist schon immer dein Traum gewesen. Du hast so lange dafür gearbeitet und jetzt hast du diese Chance. Eine Chance, bei der du genau weißt, dass du sie so schnell nicht wieder haben wirst. Wenn du nicht freiwillig geflogen wärst, dann hätte ich dich eigenhändig in die Maschine gesetzt.“
Er brachte nur ein ungläubiges Kopfschütteln zustande. „Du bist unbeschreiblich... Jill, ich will dich nicht allein hier zurück lassen. Es ist schon schlimm genug, dass ich jetzt... in diesem Moment darüber nachdenke.“
Jillian lächelte ihren Bruder aufmunternd an. Sie sah, dass er vollkommen hin und her gerissen zu sein schien. „Tim, ich bin nicht allein! Jonas und seine Eltern werden mir helfen, das weiß ich genau.“ Da sie wusste, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen, verlieh sie ihnen mehr Ausdruck.
„Es wird so schwer für dich werden.“
Sie drückte ihren zweifelnden Bruder die Hand. „Das wird es für uns beide... für dich wird es doch noch viel schlimmer. Ich habe Jonas und alles, was mir vertraut ist. Du reist in ein fremdes Land, wohnst bei fremden Menschen. Niemand wird dir helfen können, du hast jetzt so viele Entscheidungen zu treffen und so große Verantwortungen auf dir lasten, weil du der Ältere von uns bist. Glaub mir, ich habe auch Schuldgefühle, nicht mehr bei dir sein zu können.“
Dankbar, weil sie jeden seiner Gedanken zu verstehen schien, umarmte er sie. „Ich werde mich um alles kümmern, was jetzt zu erledigen sein wird. Ich möchte nicht, dass du dich um etwas kümmern musst, was mit dieser Sache zu tun hat. Ich muss am Freitag abreisen, aber ich werde von New York aus alles regeln, hab keine Angst.“
„Hab ich nicht.“, behauptete Jillian flüsternd und umarmte ihren Bruder, der ihr tröstend über den Rücken strich.
„Wir stehen das durch, Jill. Es wird eine schwere Zeit, aber wir werden das durchstehen, okay?“
„Okay...“
Den Rest der Nacht verbrachten sie damit, über alles zu reden, sich gegenseitig zu trösten und einfach nur zusammen zu sein. Sie versuchten, nicht daran zu denken, wie es weitergehen sollte, erst mal musste alles verdaut werden. Sie mussten verstehen, dass sie nun keinen Vater mehr hatten, der ihnen kaputte Sachen reparierte und ihre Zimmer neu anstrich. Sie mussten einfach versuchen zu realisieren, dass es in ihrem Leben keine Mutter mehr gab, die ihnen die Wäsche wusch, Brote machte oder ab und zu etwas Kleingeld zusteckte. Mit einem mal waren sie das, was sie schon längst hätten sein sollen: Erwachsene. Wieso fühlten sie sich dann gerade jetzt als hilflose Kinder, die zusehen mussten, wie alles, woran sie je geglaubt hatten, den Bach hinunter geht?
Sie sahen dabei zu, wie draußen langsam die Sonne aufging und die dicke Schneeschicht auf der großen Rasenfläche vor ihrem Haus zum leuchten brachte. Jetzt brach also ein neuer Tag an. Lange würden sie hier nicht mehr sitzen können, um zu versuchen so zu tun, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen.
Von nun an mussten sie akzeptieren, dass sich alles verändern würde, dass es große Familienabende einfach nicht mehr geben würde. Sie würden den neugierigen Nachbarn, die sich mit Klatsch allein nicht zufrieden gaben, die Geschichte erzählen müssen, wieder und wieder und wieder.
Doch von nun an war es ganz egal, was sie taten, ihnen war beiden klar, dass die folgenden Wochen und Monate die schlimmsten ihres Lebens sein würden.
Viel später an diesem Tag – Tim konnte nur vom tiefen Stand der Sonne schätzen, dass es wohl bald fünf Uhr war – saß er im Wohnzimmer zwischen einem Schlachtfeld aus Papier und Tinte und war nahe einem Nervenzusammenbruch. Kontoauszüge, Sparkassenordner, Sparbücher, Geburts – und Heiratsurkunden, Versicherungsunterlagen und so weiter. Es war so viel zu tun, so viel zu erledigen. Da waren seine Eltern nun tot und plötzlich schien ihr ganzes vergangenes Leben ihm ins Gesicht zu schlagen. Er hatte nicht gewusst, dass sie Sparbücher für Jillian und ihn angelegt hatten, sie hatten sogar eine Versicherung abgeschlossen, die die Kosten für ihre Beerdigung decken würde. Sie hatten wirklich an alles gedacht und dabei war er sich immer so sicher gewesen, dass sie nicht eine Sekunde über etwas so Trübes wie den Tod nachgedacht hatten. Hatte er sie wirklich gekannt?
Er hatte sie heute identifiziert. Am frühen Vormittag, während Jillian noch auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen hatte. Sie wusste nichts davon und das sollte auch so bleiben. Er wollte ihr ersparen, sich gedanklich vorstellen zu müssen, was er hautnah gesehen hatte. Leere Hüllen ohne Leben, die auf kalten Tragen in einem sterilen Raum neben einander lagen als hätten sie nie diese unendlich tiefe Liebe für einander empfunden. Sie waren nicht dort gewesen, auch wenn er es unsinnigerweise gehofft hatte. Wie hatte er so dumm sein können, sich einzureden, sie gerade dort spüren zu können? Sie hatten beide dicke Kopfverbände getragen, frisch und weiß, und er wollte nicht wissen, wie sie darunter ausgesehen hätten. Nach dem zweiten ausführlicheren Bericht der Mediziner hatte er es sich ohnehin denken können.
Er raufte sich die Haare. Gott sei Dank verstand Jillian nichts von den Dingen, die nach einem Tod zu tun waren. Sie wusste nichts von einer Identifizierung, von Bestattungsmethoden, von Särgen oder Urnen. Auch das sollte so bleiben. Sie würde das Ergebnis all seiner Bemühungen zur Beerdigung zu ertragen haben. Tim wusste, dass dies bereits mehr als genug Schmerz für sie bedeuten würde.
Als er wieder nach Hause gekommen war, hatte er mechanisch zum Hörer gegriffen und die nächsten Verwandten verständigt. Er hatte das Entsetzen, den Unglauben und die Tränen gehört, während er sich kalt und teilnahmslos gefühlt hatte und einfach nur noch funktionierte. Ein Teil von ihm war immer noch da unten in der Gerichtsmedizin. Da unten bei den unbewohnten Hüllen der so schrecklich vertrauten Körper.
Zuletzt hatte er seine Großeltern – die Eltern seines Vaters – angerufen. Die Eltern seiner Mutter waren früh verstorben, Jillian erinnerte sich nicht einmal mehr an sie. Ein Fluch, der sich weiter durch den Stammbaum der Familie zu graben schien. Doch so hatte er wenigstens nicht noch einen Anruf tätigen müssen, der zu viel von ihm abverlangte.
Aber nachdem die erste halbe Stunde des Schocks und der Wortkargheit verstrichen war, hatte seine Großmutter ihn erinnert, was sofort zu tun sei. Dinge, die er nie zuvor getan hatte und mit denen er nicht gerechnet hatte, sie tun zu müssen, obwohl sie so offensichtlich schienen. Irgendwie hatte er gehofft, dass irgendjemand ihm das alles abnehmen oder ihm wenigstens dabei helfen würde. Am liebsten hätte er wie ein kleines Kind gejammert und gebettelt: „Warum tut ihr das nicht für mich?“
Aber ganz anders als sein Vater waren dessen Eltern kühle Menschen, für die Tim – in welcher Situation auch immer – mehr ein eigenständiger Erwachsener war als ihr Enkelsohn. Er wollte ihre Hilfe nicht.
Aber warum, verdammt noch mal, gab es kein Personal für so etwas? Einen Allroundservice für Hinterbliebene! Er lachte kläglich und zittrig bei diesem Gedanken. Und dennoch fühlte er sich von Behörden und Beamten verhöhnt und unverstanden. Hatte er denn zurzeit keine anderen Sorgen als darüber nachzudenken, welche Bestattungsart seine Eltern vorgezogen hätten? Als ob sie jemals über so etwas gesprochen hätten! Sie hatten immer nur den Moment gelebt und genossen. Nun saß er hier allein zwischen den Nachweisen zweier halber Leben und wusste absolut nichts damit anzufangen. Er hatte sich im Internet eine Checkliste ausgedruckt, worauf stand, was in den ersten Tagen unbedingt zu erledigen war – damit war er schon haltlos überfordert. Er sollte heute einen Termin für die Beerdigung der zwei Menschen ausmachen, die ihm erst vor sechsunddreißig Stunden genommen worden sind?? Wie? WIE????? Er wollte schreien und Dinge zertrümmern, doch er musste vernünftig, erwachsen und beherrscht sein, weil seine kleine Schwester oben in ihrem Zimmer schlief und einen so labilen Zustand erreicht hatte, dass er jeden Augenblick fürchtete, sie vor seinen Augen zusammenbrechen zu sehen.
„Sind Sie noch dran?“ Er merkte erst jetzt, dass er schon wieder telefonierte. Sein Arm war taub, seine Stimme rau. „Ja, bitte entschuldigen Sie. Was sagten Sie?“
„Sie haben uns heute Morgen immer noch nicht Ihre Entscheidung mitgeteilt. Ich weiß, dass das alles sehr schwer für Sie ist, aber wir müssen das heute wissen. Wünschen Sie eine Erd – oder Feuerbestattung für Ihre Eltern?“
Sechsunddreißig Stunden erst, mein Gott, er wünschte keines davon für seine Eltern!!! Der Hörer flog gegen die nächste Wand und Tim erhob sich – mit einer Ruhe in den Augen wie der Tod selbst – und trat das Telefon am Boden zu einem sinnlosen Metallhaufen zusammen.