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Kapitel 6
Jonas saß im Klassenzimmer und kritzelte lustlos das Tafelbild ab. Jillians Platz war seit vier Tagen leer geblieben, was seine Sorgen um sie nicht gerade minderte. Seit der schrecklichen Nacht von Samstag zu Sonntag hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Ab und zu hatte er sie von seinem Fenster aus rastlos durch ihr Zimmer laufen sehen. Er wusste nicht, wie er sich ihr wieder nähern sollte, was er sagen könnte, um all das auszudrücken, was ihm auf der Seele brannte. Plötzlich wusste er nichts mehr mit dem Mädchen anzufangen, das seit Kindertagen seine beste Freundin war. Die immer für ihn da gewesen ist… Er wollte nicht, dass Jillian glaubte, er hätte sie vergessen oder ließe sie in der schwersten Zeit ihres Lebens im Stich, doch er fühlte sich ihr seltsam fremd. So als würde sie auf einem anderen Planeten leben. Und er schämte sich schrecklich dafür.
Er konnte sich in seinen Lieblingsfächern nicht mehr konzentrieren, kam nicht mehr mit und schrieb nur noch miserable Noten. Alles, was ihm immer so überlebenswichtig vorgekommen war, schien ihm nun schrecklich banal zu sein.
Auch Jonas’ Mitschüler wurden langsam neugierig. Da die Lehrer auf alle Fragen zu Jillians Fehlen mit beharrlichem Schweigen antworteten, wurde ihnen schnell klar, dass die beliebte Klassenkameradin nicht nur einen einfachen Schnupfen zu haben schien. Jonas war ihren Fragen bis jetzt geschickt aus dem Weg gegangen, aber er war sich nicht sicher, ob seine Klassenkameraden sich weiter so eiskalt würden abservieren lassen.
„Jonas Hill!“ Die Stimme des Biologielehrers flog scharf durch den Raum und Jonas sah erschrocken auf.
„Was?“ Die Klasse lachte.
Ernst stemmte Herr Kant die Hände in die Seiten und funkelte den sonst immer so aufmerksamen Schüler wütend an. „Ich habe dir jetzt ein und dieselbe Frage ganze drei Mal gestellt. Vielleicht wärst du so freundlich, sie mir jetzt zu beantworten!“
„Es tut mir Leid, ich hab leider nicht aufgepasst.“, antwortete Jonas kleinlaut, während auf seine Wangen ein Hauch von rosa trat. Er hasste Situationen wie diese, in denen seine Klassenkameraden alle mit spöttischen Blicken zu ihm hinter starrten und endlich einen Grund hatten, sich mal wieder so richtig über ihn lustig zu machen.
Herr Kant seufzte. „Jonas, was ist denn los? Du hast sonst immer so gut mitgearbeitet, aber seit Montag geht bei dir gar nichts mehr. Was soll ich denn mit dir machen?“
„Er vermisst sicher Jillian.“, rief Elena, eines der Mädchen, mit denen Jillian oft die Pausen verbrachte, gehässig durch den Raum und hatte damit die Lacher auf ihrer Seite. Jonas’ Miene verfinsterte sich.
„Ruhe!“, rief Herr Kant wütend und warf dann wieder einen besorgten Blick zu Jonas, der sich immer mehr in sich zurückzuziehen schien. Er hatte auch die Vermutung, dass Jonas’ seltsames Benehmen etwas mit den Tod von Jillian Seiferts Eltern zu tun haben musste. Es war einfach grauenhaft. Die kleine verrückte Jillian hatte er besonders gern, obwohl sie seinen Unterricht oft durch ihr Gelächter oder mangelnde Aufmerksamkeit störte. Er hoffte, dass sie ihr Lachen nicht verlor.
Als es langsam begann, unruhig in dem Klassenzimmer zu werden, holte der Lehrer seine Gedanken in den Unterricht zurück. „Du kommst nach dieser Stunde bitte zu mir.“, sagte er an Jonas gewandt, bevor er sich wieder zurück an seinen Schreibtisch setzte und die Klasse aufforderte, sich wieder ihren Notizen zuzuwenden.
Wütend sah Jonas zu Justin, der sichtlichen Spaß daran hatte, dass er sich nach der Stunde eine gewaltige Standpauke würde anhören müssen. Um sich abzulenken und damit seine Wut etwas abklang, sah er zum Fenster hinaus. Die Sonne blendete ihn, sodass er einige Male blinzeln musste, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Durch die immer dünner werdende Schneeschicht auf dem Schulhof, sah man nun schon wieder die ersten Grashalme sprießen.
Dieses offenkundige Zeichen von Leben tat ihm mehr weh, als er hätte beschreiben können, wo doch die beiden lebendigsten Menschen, die er je kennen lernen durfte, tot waren. Katrin Seifert hatte auf dem Weg zum Krankenhaus noch gelebt… ob sie Schmerzen gelitten hatte? Ob man sie hätte retten können? Hätte ein anderer Arzt mehr gewusst, als der, der zu dem entscheidenden Zeitpunkt mit Katrin hinten im Wagen gewesen ist? Jonas wünschte unsinnigerweise, es hätte in seinen eigenen Händen gelegen, obwohl er natürlich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von Medizin hatte. Verwirrende Gedanken und Sehnsüchte brandeten in ihm auf.
Als es endlich zur Pause klingelte, atmete er hörbar aus. Er sah zu, wie seine Klassenkameraden lachend und schwatzend aus dem Zimmer, hinunter auf den Hof gingen, dann erhob er sich und ging mit erhobenem Kopf auf den Schreibtisch zu, hinter dem sein Biologielehrer über ihren letzen Klassenarbeiten brütete. „Herr Kant?!“
Verwirrt blinzelte der junge Mann den Schüler durch seine Brillengläser an. Er überlegte einen Augenblick lang, was der Junge von ihm wollen könnte, dann fiel es ihm wieder ein. „Jonas.“ Er deutete auf einen Stuhl in der ersten Reihe, damit er sich setzte.
Jonas folgte seiner Anordnung nur widerwillig und starrte seinen Lehrer missmutig an. Markus Kant überlegte, wie er das Gespräch am besten aufnehmen könne, ohne dass der Junge sich ihm verschloss, aber als er dann seine angespannte Haltung sah, wurde dem Lehrer klar, dass es schon zu spät war. „Also... was hast du auf dem Herzen?“
Jonas lachte freudlos auf, antwortete aber nicht.
Der Lehrer nahm seine Brille ab und schaute seinem Schüler besorgt ins Gesicht, so kannte er den schüchternen und netten Jungen nicht. „Weißt du, wie es Jillian geht? Hast du sie in den letzten Tagen gesehen?“ Er versuchte, auf eine andere Weise an ihn heranzukommen, womit er auch sofort mit Erfolg belohnt wurde.
„Nein.“ Jonas’ Stimme klang beherrscht, aber seinen Augen sah man genau an, was er fühlte. „Sie war seit Montag nicht mehr in der Schule.“
„Ich dachte, ihr wohnt direkt neben einander?“, hakte der Lehrer nach.
„Ja, aber... ich weiß nicht.“ Hilflos zuckte Jonas mit den Schultern.
„Jillian würde sich bestimmt über deinen Besuch freuen. Ihr weicht euch doch sonst nicht von der Seite. Warum gerade jetzt?“
Jonas hörte einen leichten Vorwurf aus der Stimme seines Lehrers klingen und verteidigte sich sofort: „Ich hab nicht vor, Jillian jetzt allein zu lassen. Das würde ich nie tun!“
Herr Kant überlegte und sagte dann: „Tut mir Leid, aber genau das tust du doch jetzt.“
Jonas erschrak und erkannte, dass sein Lehrer Recht hatte. Wut gegen ihn und sich selbst erstickte alle Worte in seiner Kehle.
„Jonas, ich wette, Jillian wartet nur darauf, dass du dich bei ihr meldest. Soll sie etwa zu dir kommen? Was soll sie dann sagen? Hallo, hier bin ich, ich brauche Trost?!“
Jonas fuhr sich erschöpft durchs Haar und antwortete: „Nein, aber...“
„Aber was?“, unterbrach ihn sein Lehrer heftig und fuhr etwas ruhiger fort: „Stell dich nicht so an. Warum fällt es dir so schwer, für deine gute Freundin da zu sein?“
„Weil ich Jillians Eltern genauso geliebt habe, wie sie es getan hat!“, brach es nun endlich aus ihm heraus. Erstaunt starrte Markus Kant ihn an und wartete, bis Jonas allein mit Erzählen fortfuhr. „Sie können sich das nicht vorstellen. Katrin und René Seifert standen mir näher, als meine eigenen Eltern es je könnten. Bei uns zu Hause ist immer dieser Zwang nach Ordnung, immer! Und überall diese Kälte und die förmlichen Begrüßungen meiner Eltern. Morgens gibt mir meine Mutter zum Abschied die Hand. Stellen Sie sich das mal vor! Ich habe gesehen, wie Katrin Seifert Jillian an sich gedrückt und sie geküsst hat. Ich habe gesehen, wie sie vor Stolz fast geplatzt wäre, als Jillians Bruder von seinem Praktikumsplatz in New York erzählt hat. Ich habe gesehen, wie René Seifert seine Kinder angesehen hat, als sie ihm zum Geburtstag das Auto lackiert haben. In metallicblau, das war seine Lieblingsfarbe. Ich habe ihnen dabei geholfen. Wir kennen uns jetzt sicher schon dreizehn Jahre. Ich habe zur Familie gehört. Sie waren auch ein Teil von mir.“
Jetzt begriff der Lehrer, warum Jonas plötzlich nicht mehr sofort zur Stelle war, wenn Jillian ihn brauchte und dabei brauchte sie ihn jetzt mehr als jemals zuvor. Der Junge litt selbst, das sah er jetzt. Er wusste nicht, ob er es fertig bringen würde, für Jillian stark zu sein, während es in ihm so chaotisch zuging. Mitgefühl regte sich in ihm. Er stand auf und ließ sich auf dem Platz neben Jonas nieder, damit der Junge ihm endlich sein Herz öffnete. „Das ist sicher schwer für dich, aber du musst jetzt als Außenstehender, und genau das bist du, einen kühlen Kopf bewahren und sei es Jillian zuliebe. Wenn du nicht für sie stark sein kannst, Jonas, so kannst du doch wenigstens zusammen mit ihr schwach sein. Wenn du etwas so Dramatisches in dich hineinfrisst, geht das auf Dauer nicht gut. Wer verstünde dich besser als Jillian? Und vielleicht hilft es ihr sogar zu wissen, dass da jemand ist, der genauso leidet und ihren Schmerz versteht.“
„Sie waren auch meine Familie.“, flüsterte Jonas wieder und schluckte schwer.
Die Worte brachen Markus Kant beinah das Herz. Noch nie war ihm das Schicksal eines oder wie in diesem Fall zweier Schüler so nahe gegangen. „Richtig.“, sagte er darum. „Sie waren auch deine Familie und du warst ein Teil von ihnen. Das bist du immer noch, Jonas. Und darum frage ich dich noch einmal: findest du es gerecht, dass Jillian das Schicksal ihrer Eltern allein verkraften muss, wenn es sich dabei doch auch um deine Familie gehandelt hat?“
Schuldgefühle stiegen in Jonas hoch und er machte sich Vorwürfe. Er hätte Jillian niemals so lange allein lassen dürfen. „Meinen Sie, sie ist mir böse?“
„Nein.“, antwortete Markus Kant nachsichtig. Er kannte Jillian. Und er kannte Jonas. „Du kannst jetzt in die Pause gehen.“ Er wusste, dass Jonas ihn verstanden hatte – das verriet ihm die Entschlossenheit in seinem Blick.
Jonas warf seinem Lehrer einen dankbaren Blick zu, bevor er aufstand und das Klassenzimmer verließ. Nachdenklich streifte er durch die ausgestorbenen Gänge der Schule, in Gedanken war er bei Jillian. Er fragte sich, was sie wohl gerade tat oder wie es ihr ging. Er konnte nur hoffen, dass sie ihm verzeihen würde, dass er in den Tagen, als sie ihn am aller meisten gebraucht hätte, nicht bei ihr gewesen ist. Er quälte sich mit Selbstvorwürfen. Hätte Herr Kant ihn nicht auf die Wahrheit gestoßen, dann hätte er das Treffen mit Jillian sicher noch weiter vor sich her geschoben.
Während er also seinen Gedanken nachhing, merkte er nicht, wie ihn die Schüler auf dem Schulhof mit neugierigen Blicken fixierten. Auch Justin und die Jungs aus seiner Clique ließen ihn nicht aus den Augen.
„Was meint ihr? Liegt das an der Standpauke, die er gerade bekommen hat, dass er aussieht als könne er jeden Moment in Tränen ausbrechen?“, fragte Matthias, ein Klassenkamerad, an Justin und Thomas gewandt.
„Ganz sicher nicht. Ich gehe jede Wette ein, dass er sich mit Jill verkracht hat.“, antwortete Justin und musterte Jonas mit bösen Blicken.
„Und wenn schon?“, mischte sich nun auch Thomas, aus der Parallelklasse, mit ein. „Kann dir doch nur recht sein, oder?“
„Und ob!“ Justin lächelte gehässig. „Mir gefällt nur nicht, wie sehr sich die Kleine von ihm einspannen lässt.“
„Wird höchste Zeit, dass du die klar machst.“, stimmte Matthias seinem Kumpel zu.
„Immer mit der Ruhe. Ich hab Samstag ein Date mit ihr.“, gab Justin gelassen zurück.
„Hast du das? Das sehe ich anders. Was, wenn Jillian dann immer noch das Bett hütet und zwar ihr eigenes?“, gab Thomas gehässig lachend zu bedenken. Wenn es um Mädchen ging, konnte er Justin nicht verstehen. Er behandelte sie wie Spielzeuge, darum freute er sich nun umso mehr, dass sein Date mit Jillian zu platzen schien. Er mochte das fröhliche Mädchen und wollte nicht, dass Justin sie ausnutzte.
„Verdammt!“, fluchte dieser nun und schaute seine beiden Kumpels herausfordernd an. „Wird Zeit, dass wir den Langweiler nach ihr fragen.“ Er nickte in Jonas’ Richtung, aber Matthias schüttelte mit dem Kopf.
„Das haben Sofia und Elena gestern schon gemacht. Er weiß nicht, was Jillian hat!“
„Das kann er seinen Kuscheltieren erzählen!“, fauchte Justin. „Er will es uns nicht sagen, fragt sich warum. Jetzt will ich es erstrecht wissen und ich wette, die Mädels auch.“
„Was hast du vor?“, erkundigte sich Thomas, dem nicht ganz wohl bei dem Gesicht war, das Justin zog.
„Wir spannen die Mädchen mit ein. Wenn so viele vor ihm stehen, dann wird er schon mit der Sprache rausrücken.“
„Vielleicht will Jillian ja nicht, dass wir es erfahren.“, sagte Thomas.
„Wieso sollte sie das nicht wollen? Jetzt kommt endlich.“ Justin war schon losgegangen und winkte seinen beiden Freunden nun zu, ihm zu folgen.
Auch in der Mädchengruppe waren Jonas und Jillian das Gesprächsthema Nummer eins. Elena, Sofia, Selina, Carolin und Mandy ließen ihrer Fantasie freien Lauf.
„Jonas weiß auf jeden Fall, was mit Jill los ist.“, flüsterte Mandy so leise wie möglich, damit Jonas, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt ja nichts mitbekam.
Elena dagegen machte sich nichts aus dem Jungen und legte lauthals los: „Ich weiß! Die Frage ist: Warum erzählt sie es diesem Strebertypen und uns nicht?“
„Er ist ihr bester Freund!“, erinnerte Selina ihre Freundin und schenkte Jonas, der durch Elenas lauten Tonfall auf sie aufmerksam geworden war,ein nettes Lächeln. Sie mochte ihn genau wie Jillian, aber die Gruppe dachte anders.
„Oh, ihr bester Freund!“, sagte Sofia spöttisch. „Und was sind wir? Die Deppen vom Dienst?“
„Jillian ist auch unsere Freundin. Wir haben ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihr ist!“, mischte sich nun auch Mandy wieder ein.
Selina und Carolin warfen sich unsichere Blicke zu. „Hört mal. Ich mache mir auch Sorgen, aber wenn uns nicht mal die Lehrer sagen wollen, was mit Jill los ist, dann wird das sicher auch seine Gründe haben!“, versuchte Carolin nun, die Gemüter zu beruhigen, doch Elena brauste sofort auf: „Was interessieren uns die Lehrer?! Wir...“
„Die Jungs kommen.“, informierte Selina ihre tobende Freundin. Die Mädchen wandten sich um.
„Na? Was gibt es denn hier für Heimlichkeiten?“, fragte Thomas lachend und lächelte Selina an, die fröhlich zurück zwinkerte. Die anderen waren weniger locker und Elena fuhr sofort wieder auf: „Es regt mich auf, dass Jonas uns nicht verraten will, was mit Jillian ist. Der will sich doch nur ein bisschen wichtig machen!“
„Gönn ihm den Spaß!“, lästerte Matthias.
Justin freute sich, dass er genau im richtigen Moment zu den Mädchen gegangen ist und suchte Elenas Blick: „Mich stört das genauso wie dich, glaub mir. Wenn wir es wirklich rausfinden wollen, wäre jetzt die passende Gelegenheit.“ Er zeigte auf Jonas, der etwas abseits von allen auf einer Bank saß und etwas auf einen seiner Notizblöcke kritzelte.
„Willst du ihm Angst machen?“, fragte Thomas barsch. Auch Selina hielt es für ungerecht, Jonas durch so viele Schüler einschüchtern zu wollen, sagte jedoch nichts.
Justin zuckte über Thomas’ Kommentar nur gleichgültig mit den Schultern, ehe er sich wieder den anderen zuwandte: „Kommt ihr, oder kommt ihr nicht?“
Jonas saß auf seinem üblichen Platz und schrieb an einem neuen Song. Den ganzen Tag schon hatte er eine Melodie im Kopf, nun reihte er Wort für Wort aneinander. Als er Schritte und aufgeregtes Gemurmel hörte, sah er auf. Sein Blick verfinsterte sich, als er seine Mitschüler auf sich zukommen sah. Justin musterte ihn abschätzend.
„Wie war das Gespräch mit Kant?“, fragte er ihn dann.
„Ich hab es überlebt.“, antwortete Jonas nur. „Ist irgendwas passiert?“
„Das würden wir gern von dir wissen!“, antwortete ihm Sofia.
Irritiert sah er sie an. „Von mir?“, wiederholte er dann.
„Warum sagt uns hier keiner, was mit Jillian ist?“, fragte Elena bissig.
Jonas’ Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Hätte er doch nur schon eher mit Jillian gesprochen. Nun wusste er nicht, ob er es ihren Klassenkameraden erzählen sollte oder nicht. Er dachte nach und versuchte sich in ihre Lage hinein zu versetzen. Vielleicht wäre es ja wirklich besser, wenn alle Bescheid wüssten. Vielleicht würden sie dann mehr Rücksicht auf sie nehmen. Er war sich dennoch nicht sicher. Sollte er lügen?
„Also?“, fragte Matthias voller Ungeduld.
Jonas sah hilfesuchend zu Selina und Thomas, doch nun stand auch in deren Gesichtern die Neugier um ihre verschwundene Freundin geschrieben. Er gestand sich ein, dass sie es früher oder später ohnehin erfahren würden. „Samstagnacht sind Jillians Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Oh, wie er diesen Satz verabscheute!
Eine Welle des Entsetzens huschte über die Gesichter. Selina schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund und auch alle anderen sahen betroffen zu Boden. Jonas stand auf und begann, ihnen alles zu erzählen. Alles, angefangen bei der schrecklichen Nacht von Samstag zu Sonntag, bis hin zu der Tatsache, dass Jillian bald ganz auf sich allein gestellt sein würde und nun jede erdenkliche Hilfe brauchte.
Seine Mitschüler nickten stumm, sogar Justin war das Lachen vergangen. Allerdings war von seinem Gesicht nicht abzulesen, was er wirklich dachte. Es war für niemanden ersichtlich, dass ihm die Tatsache, dass sein Date mit Jillian ins Wasser fiel, viel schlimmer erschien, als der Tod ihrer geliebten Eltern.
„Ich weiß jetzt gar nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll.“, ließ Caro verlauten. Die anderen nickten.
„Am besten ganz normal. Mitfühlend, aber nicht bedauernd. Versucht einfach, sie aufzuheitern und etwas abzulenken.“, bat Jonas.
„Weißt du, wann sie wieder kommt?“, wollte nun auch Elena wissen.
„Ich gehe sie heute besuchen und sag euch dann morgen Bescheid.“, antwortete Jonas und Justins Blick sprühte Funken vor lauter Eifersucht.
„Vielleicht würde sie sich über einen Anruf freuen...“, überlegte er dann laut.
„Nein!“ Jonas lehnte sofort ab und erntete damit weitere böse Blicke. Das war ihm egal. Jillian hatte jetzt andere Sorgen, als sich Justins unehrliches Geschwafel anhören zu müssen. „Lasst sie erst einmal wieder zu sich kommen. Sie muss das alles erst einmal realisieren. Versetzt euch in ihre Lage.“
Wieder wurde es still. Die Jugendlichen waren nachdenklich geworden. Sie waren schockiert, dass das Schicksal ausgerechnet der liebenswerten und lebenslustigen Jillian so übel mitgespielt hatte.
Nach und nach wurden die Fragen weniger und das Grüppchen nahm ab. Die meisten von Jonas’ Mitschülern gingen zurück ins Klassenzimmer, da es bald wieder zur Stunde klingeln würde. Jonas blieb allein zurück und starrte missmutig vor sich hin. Er fragte sich, ob es richtig von ihm gewesen ist, seinen Mitschülern alles von Jillians Unglück zu erzählen. Er überlegte auch, ob er die richtigen Worte verwendet hatte. Ihm war wichtig, dass alle verstanden hatten, worum es nun ging. Wenn Jillian zurück in die Klasse käme, dann würde sie nicht mehr die Jillian sein, die sie alle gekannt hatten. Jonas wollte nicht, dass es vorwurfsvolle Blicke, neugierige Fragen oder gemeines Getuschel gab. Seine beste Freundin hatte im Moment ganz andere Sorgen.
Plötzlich fiel ihm Justin auf, der ganz allein zurück ins Schulgebäude ging. Jonas nutzte die Gelegenheit sofort aus. Er packte seinen Schreibblock zurück in seine Schultasche, warf sie sich über die Schultern und eilte dem verhassten Klassenkameraden nach, um ihn davon zu überzeugen, sich in nächster Zeit lieber von Jillian fernzuhalten.
Als er in den Flur des großen Schulhauses kam, trat er sich noch auf dem Abtreter die Schuhe sauber, um auf den, vom Schnee nassen Fliesen nicht auszurutschen. Dabei nahm er Stimmen aus seiner unmittelbaren Umgebung wahr. Als er erkannte, dass eine von ihnen Justin gehörte, verhielt er sich möglichst leise und schaute vorsichtig um die Ecke, die zum Chemielabor führte. Und wirklich: Justin, Matthias und Thomas standen vor der Tür des Zimmers und schienen über irgendetwas angeregt zu diskutieren. Jonas zuckte mit den Schultern. Was interessierten ihn Justins miese Machtspielchen und Intrigen?! Er wollte schon weitergehen, als er plötzlich Jillians Namen hörte. Sofort blieb er hinter der Wand verborgen stehen und lauschte mit finsterer Miene.
„... deswegen wäre das jetzt nicht gerade günstig.“, antwortete er gerade auf eine Frage von Matthias.
„Ich glaub es ja nicht!“, rief Thomas wütend. Er schien vollkommen außer sich zu sein. „Jillian hat vor kurzem erst ihre Eltern verloren und du denkst nur darüber nach, wie du sie am besten herumbekommen könntest!“
„Mach dich locker.“, sagte Justin nur.
„Was willst du denn machen? Ich denke nicht, dass Jillian jetzt in der Stimmung für so etwas ist.“, wollte Matthias von seinem besten Freund wissen. Justin nickte finster.
„Ja, schlechter Zeitpunkt. Aber wofür gibt es Jonny?“ Er grinste breit.
„Jonas Hill? Was hat der denn bitte damit zu tun?“, fragte Matthias abfällig.
„Er kann jetzt den lästigen Job des tröstenden Freundes übernehmen. Wenn die Kleine sich dann wieder beruhigt hat, komm ich und mach ein bisschen auf mitfühlend. Wetten, dass sie mir dann aus der Hand frisst?“ Sichtlich zufrieden mit sich, begann Justin lauthals zu lachen und Matthias stimmte mit ein. Ihnen schien die Vorstellung von der völlig ahnungslosen Jillian sehr gut zu gefallen.
Jonas war außer sich vor Wut. Das war selbst für Justin eine neue Stufe der Gemeinheit. Das erste Mal in seinem Leben spürte er einen Hass in sich aufsteigen, der mit Worten nicht mehr zu beschreiben war. Er hatte es so lange mit angesehen; mit angehört wie ekelhaft Justin zu den Mädchen war, doch dieses Mal ging es ihn etwas an. Damit hatte er ihm den Krieg erklärt. Er wusste, er handelte nicht in Jillians Interesse, während er gleichzeitig wie nie zuvor in seinem Leben zu einhundert Prozent wusste, dass er das Richtige tat.
„Was machst du denn hier?“ Zu mehr Worten kam Justin nicht, denn sofort packte Jonas ihn am Kragen und schlug ihm mitten ins Gesicht.
„Verdammt noch mal!“ Matthias schrie erschrocken auf, traute sich aber nicht, seinem Kumpel zur Hilfe zu eilen, der sich jetzt heftig zu wehren begann. Er und Jonas stürzten zu Boden und schlugen wild auf einander ein.
„Du wirst Jillian in Ruhe lassen!“, sagte Jonas laut. „Sie geht grad durch die Hölle!“
Er durfte das alles nicht zulassen und er fühlte, dass er der einzige war, der das drohende Drama verhindern konnte. Nur wie? Wie??? Alle Gedanken weg. Leere! Nur noch Leere und dieser blinde Hass. Jonas hätte nie geglaubt, zu dieser Art von Gefühlen fähig zu sein und neben dem Hass erblühte zart und neu unbemerkt etwas Sanftes in ihm.
„Jonas! Bist du verrückt geworden? Hör auf!“ Thomas versuchte vergeblich, Jonas von Justin runter zu zerren, mehr um Jonas zu helfen, als Justin, denn dieser war auch in seinen Augen zu weit gegangen. Aber so sehr er sich auch anstrengte, Jonas schien völlig davon besessen zu sein, Justin endlich all seine Gemeinheiten zurück zu zahlen. Er wollte jedoch auch nicht zusehen, wie sich die beiden die Köpfe einschlugen, darum rannte er los, um Jonas’ und Justins Klassenlehrer zu suchen.