Kapitel 9
Als Jonas an diesem Morgen die Augen aufschlug, war es gerade mal sechs. Ein schwacher Lichtschein, der von draußen durch sein Fenster fiel, warf ein viereckiges Kästchen auf den Boden. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her, wobei er sich nur noch mehr mit der Bettdecke verhedderte und mit seinem rechten Fuß im Bettbezug hängen blieb. Stöhnend zog er sich die Decke über den Kopf und versuchte, noch einmal einzuschlafen.
Das seltsame Licht von draußen ließ ihm jedoch keine Ruhe. Wo konnte es herkommen? Er starrte eine Weile vor sich hin, stand schließlich aber doch auf und ging zum Fenster, um die unerwünschte Lichtquelle ausfindig zu machen.
Lange suchen musste er nicht. Das Licht kam aus Jillians Zimmer. Jonas runzelte besorgt die Stirn und warf einen zweiten Blick auf die Uhr. Er wusste nur zu gut, dass seine beste Freundin alles andere als eine Frühaufsteherin war und der Gedanke, dass sie jetzt mit nachdenklicher Miene in ihrem Zimmer saß und mit ihrem Schicksal haderte, gefiel ihm nicht.
Kurzentschlossen griff er nach seinem Handy und wählte ihre Nummer. Das beständige Tuten, was ihm sagte, dass im Moment niemand zu sprechen schien, beunruhigte ihn. Verwirrt legte er das Telefon bei Seite und überlegte. Er wusste genau, dass Jillian wach sein musste und er wusste auch, dass ihr Handy eingeschaltet war. Warum also ging sie nicht ran? Diese Frage ließ ihm keine Ruhe. Rasch zog er sich eine Jeans über die Boxershorts und einen dicken Pullover über den Kopf und ging leise hinunter in den Flur, um sich die Schuhe anzuziehen. Irgendetwas stimmte mit Jillian nicht und er würde herausfinden was es war.
Die Nacht wurde langsam milder, auch wenn die Kälte ihm noch immer die Hände schmerzen ließ, der Winter schien sich endlich seinem Ende zuzuneigen. Der Rasen vor Seiferts Haus war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt und glänzte im fahlen Licht des Mondes. Die Nacht selbst flüsterte von Neuanfang und Frühling. Der Wind und der Geruch von Blumen, die noch nicht waren berührten sein Herz, streichelten seine Seele als wollten sie sich für alle Ungerechtigkeiten des Schicksals bei ihm entschuldigen. Dinge, die ihm sonst magisch vorgekommen wären, doch seine Unruhe nun nur noch mehr vergrößerten.
Vor Jillians Haustür angekommen, überlegte Jonas, wie er sich Zutritt zum Haus verschaffen konnte, ohne dass er bei der Nachbarschaft auffiel. Aus einem Impuls heraus drückte er die Hand auf die Klinke. Als die Tür aufsprang, war er erschrocken und erleichtert zugleich. Jillian musste vergessen haben, sie abzuschließen. Typisch, dachte Jonas.
Im Flur war es stockdunkel und jetzt, da der Wind die Tür hinter ihm zugeschlagen hatte, hatte er Mühe, voranzukommen. „Jillian?“ Seine Stimme hallte im ganzen Haus wider, aber niemand antwortete ihm. „Jill, ist alles in Ordnung?“ Wieder keine Antwort, es regte sich nichts.
„Ah... verdammt.“ Beinahe wäre er ausgerutscht. Auf dem Boden schien irgendwo eine Pfütze zu sein. Vorsichtig tastete er an der Wand nach dem Lichtschalter. Er atmete erleichtert auf, als er ihn gefunden hatte und schaltete das Licht ein. Suchend blickte er nach unten und das Bild, das sich ihm nun bot, ließ ihm alles Blut in den Adern gefrieren. Jillian lag reglos auf dem Fußboden vor der Treppe. Neben ihr lagen tausend glitzernde Glasscherben.
„Bitte nicht! Jill??“ Jonas wurde schlecht vor Angst. Er kniete sich zu seiner besten Freundin hinunter und fühlte ihren Puls. Als er das schwache Schlagen vernahm, atmete er erleichtert aus. Sacht klopfte er gegen ihre Wangen. „Jill! Jill! Komm schon, wach auf! Bitte! Jill!“
Vorsichtig richtete er sie auf und stützte sie, da bemerkte er, dass sie am Hinterkopf blutete. Erschrocken lehnte er sie gegen sich und umfasste sie an der Taille, damit sie nicht wieder zurück auf die kalten Fliesen rutschte. Er drückte sie fest an sich, während er mit zitternden Händen die Wunde an ihrem Kopf berührte. Was war denn nur passiert? Mit fahrigen Fingern kramte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte sofort die Nummer seines Vaters, der das Telefon immer in Reichweite haben musste, falls ein Notfall eintrat. So wie jetzt.
Das war das einzige, das er momentan für sie tun konnte. Er fühlte sich macht –und nutzlos und ekelte sich vor sich selbst. Wieso hatte er nie einen Erste-Hilfe-Kurs belegt? Er wusste nicht einmal, ob er sie irgendwo in ein Bett legen konnte, ohne noch größeren Schaden anzurichten. Dieses Warten hier mit ihrem leblosen Körper trieb ihn beinahe in den Wahnsinn.
„Jonas? Sag mal, hast du mal zur Uhr gesehen? Wieso um alles in der Welt...“, meldete sich endlich die Stimme seines Vaters am anderen Ende und noch nie war Jonas so erleichtert gewesen, sie zu hören.
„Ruhe!“ Jonas unterbrach seinen verschlafenen Vater mit energischer Stimme. „Ihr müsst sofort einen Krankenwagen rufen! Jillian ist bewusstlos!“
Jonas und seine Eltern saßen im Warteraum des dritten Stocks des St.-Matthew-Krankenhauses. Der sterile Raum mit den weißen Wänden roch unangenehm nach Desinfektionsmittel, was nicht gerade dazu beitrug, die Gemüter der Wartenden zu beruhigen.
„Ich verstehe immer noch nicht, wie das passieren konnte, Jonas. Warum warst du überhaupt bei ihr?“, fragte Samantha Hill erschöpft und massierte sich mit der rechten Hand ihre schmerzende Schläfe.
„Ich habe Licht in ihrem Zimmer gesehen und wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist. Dann hab ich sie gefunden. Sie lag auf dem Boden und...“ Jonas brach mitten im Satz ab und atmete tief durch.
Martin Hill legte seinem Sohn beruhigend den Arm um die Schultern. „Was glaubst du, ist passiert?“, fragte er dann.
„Ich weiß es einfach nicht. Sie muss die Treppe runter gefallen sein.“, antwortete Jonas seinem Vater, der nun besorgt den Kopf schüttelte.
„Jillian ist zwar achtzehn, aber in gewisser Hinsicht sind wir jetzt auch verantwortlich für sie. Wir haben ihrem Bruder versprochen, auf die Kleine aufzupassen und kaum ist er weg, passiert so etwas.“
„Weiß Tim schon Bescheid, Jonas?“, fragte seine Mutter nun.
Er schüttelte betrübt mit dem Kopf. „Auf seinem Handy ist er in den Staaten nicht zu erreichen und die Telefonnummer seiner Wohnung habe ich nicht.“
„Vielleicht ist es besser, ihn erst einmal nicht mit dieser Sache zu beunruhigen. Das ist sicher auch in Jillians Interesse. Wir sollten jetzt abwarten, was die Untersuchungen der Ärzte ergeben. Tim können wir später auch noch benachrichtigen.“, sagte Samantha mit ruhiger Stimme.
„Da hast du sicherlich Recht. Hoffen wir, dass es Jillian bald wieder besser geht.“, stimmte ihr nun auch ihr Mann zu.
In diesem Moment sah Jonas eine junge Ärztin mit ernster Miene aus dem Zimmer kommen, in dem Jillian behandelt wurde. Sofort sprang er auf und eilte auf sie zu. „Entschuldigung!?“
Mit gehetztem Gesichtsausdruck drehte sich die Frau zu ihm um und sah ihn fragend an. „Kann ich Ihnen helfen?“
Inzwischen waren auch seine Eltern an seiner Seite erschienen. „Ja, wir würden gern wissen, wie es Jillian Seifert geht.“
Suchend blätterte die Ärztin in ihren Unterlagen, wobei sie fragte: „Sind Sie mit ihr verwandt?“
„Nein, aber... hören Sie, das Mädchen hat keine Verwandten mehr. Ihr Bruder ist in Amerika. Wir sind ihre Nachbarn.“, erzählte Samantha Hill, wobei sie die Ärztin flehend ansah.
„Mein Sohn hat das Mädchen gefunden.“, fügte Martin Hill noch hinzu.
Und genau das schien das entscheidende Argument zu sein. „Na schön. Kommen Sie mit!“, seufzte die Ärztin und hielt die Tür zu Jillians Krankenzimmer auf, damit Jonas und seine Eltern hinein gehen konnten, ehe sie selbst eintrat.
Jonas konnte Jillian nicht sehen, die Vorhänge ihres Bettes waren zugezogen und ein Kloß stieg seinen Hals empor. Wieso hatten Krankenhäuser immer etwas so Bedrückendes an sich? Fast so, als wollten die Ärzte die Kranken dadurch ständig daran erinnern, wie schlecht es ihnen ging.
„Sie braucht noch Ruhe.“, sagte die Ärztin, als sie Jonas’ ängstlichem Blick begegnete.
„Was ist mit ihr?“, fragte er dann.
„Nun, offensichtlich hatte sie einen kleinen Schwächeanfall. Die Untersuchungen haben ergeben, dass sie an großem Flüssigkeitsmangel leidet. Anscheinend hat sie schon lange nichts mehr gegessen oder getrunken. Der plötzliche Schwindelanfall kann allerdings auch psychische Ursachen haben. Vielleicht können Sie mir dazu etwas sagen?“ Auffordernd schaute die Ärztin zu Samantha Hill, die sofort alles erklärte: „Vor einer Woche hat sie ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Ihr Bruder befindet sich wie gesagt in den Staaten und folglich war sie auf sich allein gestellt.“
„Wir wollten sie bei uns übernachten lassen, aber das wollte sie nicht. Sie wollte wohl Zeit, um sich an all das zu gewöhnen.“, fügte Martin Hill noch hinzu. „Sie kam uns so stark vor. Wir dachten, sie kommt klar.“
„Hm-hm.“ Die Ärztin nickte verständnisvoll. „Ich mache Ihnen auch gar keine Vorwürfe. Das Mädchen ist volljährig und kann all seine Entscheidungen allein treffen, das wird sie sich sicher auch gedacht haben. Dabei hat sie aber nicht an ihren Körper gedacht.“
„Als ich sie gefunden habe...“, unterbrach Jonas die Frau. „...hat sie am Hinterkopf geblutet.“
„Das ist nur eine kleine Platzwunde von dem Aufprall auf den Fliesen, die von allein wieder verheilt, keine Sorge. Jillian geht es gut. Sie braucht nur etwas Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen.“
„Kann ich sie sehen?“, bat Jonas. „Nur ganz kurz?“
Die Ärztin seufzte tief und zog dann den Vorhang zurück, damit Jonas zu Jillians Bett gelangen konnte. Als er sie sah, biss er sich auf die Lippe. Er hätte sie nie gehen lassen dürfen. Er hätte wissen müssen, dass ihr Zustand noch zu labil war. Er trat näher und legte seine Hand auf ihre, sie war eiskalt. Ihr Gesicht war leichenblass. An ihrem linken Arm war eine Kanüle befestigt, die zu einem Tropf führte, der ihrem Körper langsam wieder Flüssigkeit zuführte. Jonas strich ihr sanft durchs Haar. „Jill?“
Nebel! Süßer Nebel und Schmerzlosigkeit. Wundervolles Vergessen. Sie irrte durch den Dunst, wusste gerade noch, wer sie war. Doch hinter dem Schleier erahnte sie das Grauen. Ein Grauen, dem sie lieber fernbliebe. Sie würde einfach für immer hier im Nebel bleiben und zuhören, wie ihr Herz laut und rhythmisch schlug, während irgendjemand da draußen leise ihren Namen sagte. Bei jedem Klang dieser Stimme, schlug ihr Herz noch etwas höher bis die Unruhe, die dadurch in ihr aufkam, sie schließlich aufweckte.
Sie fühlte sich müde und betäubt. Jemand strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Als sie die Augen öffnete, um zu sehen, wer bei ihr war, fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Kopf. Sie verzog das Gesicht und schloss die Augen wieder, doch der Schmerz ließ nicht nach.
„Ich glaube, sie wacht auf!“, rief Jonas seinen Eltern und der Ärztin zu, die sofort zu ihnen kamen.
Nun versuchte Jillian erneut, die Augen zu öffnen. Zuerst war alles ganz verschwommen, aber mit der Zeit wurde die Gestalt, die sie vor sich sah immer deutlicher. „Jonny?“
„Gott seid Dank!“, hallte eine erleichterte Frauenstimme bis zu ihr und als Jillian sich umsah, erkannte sie, dass sie sich in einem Krankenhaus befinden musste. Jonas’ Eltern waren auch da.
„Wie geht es dir?“, fragte Martin Hill besorgt, als er den verwirrten Gesichtsausdruck des Mädchens sah.
„Mein Kopf tut so weh. Was ist passiert?“ Jonas und seine Eltern sahen sich erschrocken an, doch die Ärztin wusste sie gleich zu beruhigen: „Keine Sorge, sie weiß nur nicht, warum sie hier ist. Das ist normal nach so einem Sturz.“
„Sturz? Was für ein Sturz?“, fragte Jillian aufgeregt. Wieso antwortete ihr denn niemand?
„Du musst die Treppe runter gefallen sein. Du lagst im Flur, als ich dich gefunden habe.“, antwortete nun Jonas, der sichtlich erleichtert war, dass sie endlich wieder die Augen offen hatte.
Und in diesem Moment fiel ihr alles wieder ein. Sie seufzte und drückte die rechte Hand gegen ihre schmerzende Stirn. „Ich wollte mir ein Glas Wasser holen. Plötzlich wurde alles schwarz.“
„Zum Glück ist nichts schlimmeres passiert.“, sagte Jonas’ Mutter und strich Jillian über die Wange.
Diese wandte sich nun der Ärztin zu. „Warum bin ich gefallen?“
Die junge Frau lächelte ihr ermutigend zu und antwortete in teils belustigtem, teils tadelndem Ton: „Du hast den ganzen Tag nichts gegessen. Wenn das ein neues Diätprogramm sein soll, würde ich dir raten, es dir schnellstens aus dem Kopf zu schlagen, zu mal du das gar nicht nötig hast.“
Jillian lächelte schwach. „Nein, ich war im Stress. Mein Bruder ist gestern nach Amerika geflogen.“ Erschrocken riss sie jetzt die Augen auf und starrte Jonas und seine Eltern alarmiert an. „Ihr habt ihm doch nichts gesagt?!“
„Nein, das haben wir nicht.“, beruhigte Martin Hill das aufgeregt Mädchen. „Wir hatten seine Telefonnummer nicht und wollten ihn auch nicht unnötig beunruhigen.“
Jillian nickte erschöpft. „So wie ich ihn kenne, wäre er sofort hierher gekommen.“
„Wie lange muss sie noch hier bleiben?“, fragte Jonas nun an die Ärztin gewandt, die sich lächelnd zu dem besorgten Jungen umdrehte. „Wir werden sie heute noch einmal gründlich durchchecken, dann können du und deine Eltern sie schon heute Abend wieder mitnehmen. Vorrausgesetzt natürlich, sie fängt wieder an, richtig zu essen.“
Den letzten Satz hatte sie an Jillian gewandt hinzugefügt, diese nickte sofort bekräftigend. Sie hasste Krankenhäuser. Sie hasste die besorgten Gesichtsausdrücke der Ärzte, die weißen Wände, die grellen Halogenlampen, den Geruch nach Desinfektionsmittel. Außerdem wollte sie morgen wieder zur Schule gehen. Es wurde Zeit, dass sie wieder lernte, sich in den ganz normalen Alltag einzufügen.
Jonas konnte seiner besten Freundin genau ansehen, wie unwohl sie sich hier fühlte – zurecht, wie er glaubte zu wissen. War es eigentlich ein geschriebenes Gesetz, dass alle Krankenhäuser weiße Wände und unfreundlich schauende Ärzte haben mussten? Wieso benutzte man für die Zimmerwände keine warmen, sanften Farben, stellte ein paar Blumen hin, hing Bilder an die kahlen Wände? Warum gaben die meisten Ärzte den Patienten das Gefühl, dass sie ihnen zur Last fielen? Man könnte Leute engagieren, die etwas Zeit mit den Kranken verbrachten und sie aufheiterten, wenn diese keine Familienangehörigen hatten, die das tun konnten. Die ganze Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten sollte verbessert werden. Man könnte sich mehr Zeit für die Kranken nehmen und aufhören, ihnen im Fachjargon Fremdbegriffe an den Kopf zu werfen, ihnen einfach gerade heraus sagen, wie es wirklich um sie stand. Mit all diesen Gedanken, stieg wieder diese unbändige Sehnsucht in ihm auf und der Wunsch, es besser zu machen…
„Jonas?“ Er schreckte aus seinen Gedanken hoch und blickte sich suchend um. „Was?“
Sein Vater schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich habe eben gesagt, dass wir nun gehen sollten. Jillians Untersuchungen fangen bald an und heute Abend holen wir sie wohlbehalten wieder von hier ab.“
Jonas sah zu Jillian hinunter. Er dachte ja nicht im Traum daran, sie jetzt schon wieder allein zu lassen. „Kann ich nicht hier warten? Vielleicht dauern die Untersuchungen ja nicht so lange.“
„Jonas.“ Samantha Hill stöhnte genervt auf. „Es nützt Jillian nichts, wenn du draußen im Wartezimmer rumsitzt.“
Jillian wollte schon widersprechen, ließ es dann aber lieber bleiben. Ehrlich gesagt, würde sie es schon beruhigen, Jonny in ihrer Nähe zu wissen. Das schien die Ärztin wohl ganz ähnlich zu sehen. „Zwischen den einzelnen Untersuchungen machen wir immer mal Pause. Ich glaube, das Mädchen würde sich in dieser Zeit über ein wenig Gesellschaft freuen. Wenn ihr Sohn hier bleiben will, dann kann er das gern tun.“
Jillian hob die glühend heiße Tasse Kamillentee an ihre Lippen und nippte kurz daran. Krankenhaustee war fast so schlimm wie der Rest des deprimierenden Szenarios, in dem sie sich gerade befand. Gelangweilt beobachtete sie die Leute im Warteraum, die entweder auf ihre eigenen Untersuchungsergebnisse oder die eines Angehörigen warteten. Ihre eigenen Untersuchungen sind vor einer halben Stunde abgeschlossen worden. Alles im grünen Bereich, hatte ihr die freundliche Ärztin mit dem strahlenden Lächeln mitgeteilt. Jetzt hatte Jillian nur noch einen Wunsch: nichts wie raus hier!
Jonas stand am Fenster und telefonierte mit seinem Vater. „Ja. Ja, alles klar. Ihr geht es gut. Sie kann morgen auch schon wieder zur Schule... was? Doch. Sie will aber! Das ist doch ihre Sache. Ich bin doch da. Ja. Okay, in einer halben Stunde also. Natürlich. Ja. Okay. Bis dann.“ Genervt schüttelte er mit dem Kopf und ließ das Handy wieder zurück in seine Tasche gleiten.
Jillian lächelte. „Was war denn los?“
„Mein Vater fragt, ob du morgen auch wirklich schon zur Schule gehen willst. Ich glaube, die halten dich hier für todkrank.“
Wieder musste Jillian lächeln. Eigentlich war es Jonas, der sich viel zu sehr um sie sorgte und nicht sein Vater. Sie war froh, dass er sie wenigstens darin unterstützte, morgen wieder zur Schule zu gehen. Wahrscheinlich brauchte er einfach jemanden neben sich, der ihn vom Unterricht ablenkte. „Im Moment hab ich nur einen Wunsch: nichts wie raus aus diesem Krankenhaus!“
Jonas lachte. „Das klang ja richtig poetisch.“ Als er Jillians Gesichtsausdruck sah, wurde er wieder ernster. „So schlimm?“
Sie seufzte und wich seinem Blick. „Immer, wenn ich sehe, wie die Ärzte hier mit einer Trage durch die Gänge eilen, stelle ich mir vor, meine Mama oder mein Papa lägen auf ihr. Wenn ich höre, wie sie darüber sprechen, dass sie jemandem mitteilen müssen, dass der Angehörige gestorben ist, muss ich immer sofort an Tim denken.“
„Daran habe ich nicht gedacht, entschuldige.“ Jonas setzte sich zu ihr und sah sie aufmerksam an.
Sie lachte kurz. „Das ist doch nicht deine Schuld. Wahrscheinlich drehe ich langsam durch. Ich wüsste gern, wie es ihm jetzt geht.“
„Ich bin sicher, er hat dir schon längst eine Sms geschrieben.“, antwortete Jonas zuversichtlich.
„Sein Handy funktioniert dort nicht, Jonny.“, antwortete Jillian missmutig.
„Ach ja...“ Jonas sparte sich weitere Worte zu diesem Thema und versuchte, seine beste Freundin stattdessen etwas abzulenken. „Mein Vater holt uns in einer halben Stunde hier ab.“
„Ich hätte zwar nie gedacht, diesen Satz je aus meinem Mund zu hören, aber ich kann es kaum erwarten, morgen in die Schule zu gehen.“, lachte Jillian. Sie freute sich auf ihre Klassenkameraden, vor allem auf Selina, Carolin und Justin... Und da fiel es ihr wieder ein. „Oh Gott!!“
„Was?“ Jonas sah erschrocken auf.
„Ich hätte doch gestern eigentlich ein Date mit Justin gehabt. Ich habe ihm nicht einmal abgesagt! Er ist sicher schrecklich wütend!“
Jonas schluckte alle Worte, die in ihm hochkamen hinunter und beschloss, lieber gar nichts zu sagen. Jillian machte sich Vorwürfe. „Ich hatte mich so darauf gefreut. Er wird kein Wort mehr mit mir sprechen. Was soll ich nur tun?“ Fragend blickte sie ihren besten Freund an. „Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ja.“ Jonas’ gute Laune war wie weggeblasen. Dass ihn dieser Justin sogar bis hierher verfolgte!! „Du machst dir viel zu viele Gedanken. Deine Eltern sind letzte Woche gestorben. Natürlich hast du da andere Dinge im Kopf als ein Date! Wenn er das nicht versteht, dann hat er dich nicht verdient.“ Er hat dich ganz sicher nicht verdient, fügte er gedanklich noch hinzu.
Jillian sah ihn dankbar an, verstand seine Worte aber falsch. „Du hast Recht. Er wird es sicher verstehen. Das war dumm von mir. Er macht sich sicher Sorgen.“
Beinahe hätte Jonas laut losgelacht. Das einzige, um das sich Justin Gedanken zu machen schien war, wo er in nächster Zeit einen passenden Ersatz für Jillian auftreiben sollte.
„Meinst du, die anderen werden sich mir gegenüber jetzt irgendwie anders verhalten?“
Jonas sah auf und überlegte. „Na klar, werden sie das. Sie werden bestimmt vorerst gar nicht wissen, wie sie mit dir umgehen sollen. So eine Situation ist ja für alle nicht leicht, aber ich glaube, dass sie dich unterstützen werden, wo sie nur können.“
Jillian seufzte. „Ich hatte gehofft, wenigstens in der Schule das alles vergessen zu können. Ich habe Angst vor den mitleidigen Blicken, sie tun mir weh.“
Jonas bekam ein schlechtes Gewissen. „Hätte ich es ihnen lieber nicht sagen sollen?“
Jillian schüttelte heftig mit dem Kopf. „So war das nicht gemeint. Sie hätten es so oder so erfahren. Sicher hätten sie auch gemerkt, dass ich irgendwie anders bin... manchmal...“ Sie schluckte schwer. „Manchmal habe ich Angst, nie wieder lachen zu können.“
„Du und nie wieder lachen.“, antwortete Jonas. „Es ist klar, dass du jetzt nicht singend durch die Gegend springst. Jillian, das ganze ist erst eine Woche her und du willst, dass jetzt schon alle deine Wunden heilen? So geht das nicht. Du wirst wieder ganz die Alte sein, aber vorher wird noch eine schwere Zeit auf dich zukommen. Wir sind doch trotzdem alle für dich da.“
„Ich will nicht, dass die anderen mich abweisen. Ich will nicht, dass sie mich für einen depressiven Trauerkloß halten.“
Jonas schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Vor einer Woche waren ihre Eltern gestorben. Am Freitag war ihr Bruder für ein halbes Jahr nach Amerika geflogen und hat sie allein in dem großen, leeren Haus zurückgelassen. Gestern war sie vor Erschöpfung zusammengebrochen und sie sorgte sich nur darum, es auch weiterhin allen recht machen zu können. „Jill, du weißt genau, dass dich immer alle mögen. Ich kenne niemanden, der das nicht tut. Das lag doch nicht nur daran, dass du immer fröhlich und gutgelaunt warst. Du warst immer für die anderen da, jetzt ist es an der Zeit, den Spieß umzudrehen.“
Dankbar sah Jillian zu ihm auf. „Du hast Recht. Ich will mir nur sicher sein, dass sich nicht alles in meinem Leben wendet. Noch mehr Veränderung kann ich jetzt wirklich nicht ertragen.“
„Mach dir keinen Kopf... auch nicht, wegen dieser Justin-Sache.“
Jetzt lächelte sie schon wieder. „Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst, Jonny. Aber mir ist er sehr wichtig. Es ist schwer für mich, über ihn zu sprechen, weil ich nie weiß, ob ich dich damit nerve.“
„Mich nervt nicht das Gerede über Justin, sondern das Gerede, dass von Justin kommt.“
Jillian kicherte als sie den verbissenen Gesichtsausdruck ihres besten Freundes sah. „Was habt ihr beiden nur gegen einander? Klar, ihr habt nicht viel gemeinsam, aber...“
„Nicht viel gemeinsam? Soll das ein Scherz sein? Er spielt Fußball, ich spiele Gitarre. Er mag schwarz, ich mag rot. Er hört Hip-hop, ich höre Pop.“
„Na, wenn es sonst nichts ist.“, lachte Jillian.
Doch, da ist noch was, dachte Jonas, während er sie musterte und sich fragte, ob er ihr sagen sollte, was Justin wirklich von ihr wollte. Er benutzt dich nur und ich mag dich wirklich...