Als sie unseren Pferden ihre Magie übertrug, glaubte ich sie kaum wiederzuerkennen. Onatahs Amulett hatte so viel von ihrer Persönlichkeit verborgen! Eine leuchtende Aura umgab sie und die Magie, die von ihr auf die Tiere abstrahlte, schien in der Luft zu knistern. Hätte ich Muse gehabt, darüber nachzudenken, hätte ich dieses hübsche Stück fraulicher Zauberei gewiss bewundert. Die Sage vom Pegasus war wiedererwacht. Sie war so fantasievoll! So etwas würde einem Krieger nie einfallen.
Aber in diesem Moment sah ich nur die Möglichkeit unseres schnellen Fortkommens und ich fürchte, ich habe ihr zu jener Zeit nicht einmal für ihre Hilfe gedankt. Wir griffen nach unseren Schwertern, und erhoben uns auf unseren geflügelten Reittieren in die Lüfte. Auch der Flug war die pure Magie. Wie ein leuchtender Blitz durchdrangen wir die zurückweichende Dunkelheit und waren in kurzer Zeit über den Grenzgipfeln. Es dämmerte kaum der herannahende Morgen, als wir das Grenztal erreichten. Wir landeten zunächst auf höherem Terrain und verschafften uns einen Überblick. Schattenkrieger waren in das Tal eingedrungen und standen den Wölfen der Inokté gegenüber. Noch schien das Kräfteverhältnis relativ ausgeglichen, aber wir sahen, dass sich hinter dem Pass weitere Krieger auf ein Eindringen in unser Land vorbereiteten. Solina überblickte die Lage ebenso klar wie ich.
»Der Zugang über den Pass muss geschlossen werden. Das kann ich übernehmen. Hilf deinen Freunden. Wenn ich die Lücke geschlossen habe, komme ich zu euch.«
Sie wartete meine Zustimmung nicht ab, sondern stieß ihrem Flügelpferd die Fersen in die Seiten und erhob sich wieder in die Lüfte. Ich erlaubte mir nicht zu beobachten, wie sie die Gebirgsschlucht schließen würde, sondern flog ebenfalls weiter talwärts, wo ich absprang, um meine Gefährten im Kampf zu unterstützen. Durch meine Anwesenheit war es uns nun möglich, eine höhere Stufe der Magie zu erreichen, indem wir unsere magischen Fähigkeiten bündelten und sie als Ganzes gegen die Schattenkämpfer einsetzten. Magie ist schwer zu erklären. Aber vielleicht kommt dieser Zauber einer Art Lawine gleich, einer Lawine aus zusätzlicher Kraft und Schnelligkeit, die durch die Einheit des Rudels, wie wir es nennen, und die Anwesenheit des Minági hervorgerufen wird.
Wir kämpften als Krieger und als Wölfe und schließlich gelang es uns, die Schattenkrieger langsam zurückzudrängen. Aus der Schlucht im Gebirge hallte ein Donnern zu uns herüber und als sich eine Gesteinslawine ins Grenztal ergoss, wusste ich, dass es Solina gelungen war, den Zugang zum Pass zu schließen. Eingehüllt in ihre leuchtende Aura flog der Pegasus auf uns zu. Nun von beiden Seiten bedroht, griffen die Schattenkrieger uns erneut mit aller Gewalt an. Keiner von ihnen und auch keiner von uns hatte damit gerechnet, was dieser Angriff bei der Dakoranerin auslöste. Später gestand sie mir ein, dass nur heftiger Zorn die dakoranische Kriegsmagie bei ihr hervorbringen könne. Wir hätten vermutlich auch ohne ihre Hilfe den Sieg erringen können, doch gewiss zu einem viel höheren Preis.
Was sie uns nun zeigte, war alles andere als erwartet. Während der Pegasus im Rücken der Schattenkämpfer zur Landung ansetzte, sammelte sie das magische Licht ihrer Aura wie eine Kugel in ihren Händen. Dann schleuderte sie diese mit einem wilden Schrei gegen die Angreifer. Als das Geschoss vor der dunklen Schar aufschlug, verwandelte es sich in einen Ring aus gleißend blauem Licht, dem offensichtlich eine gewaltige Macht innewohnte, denn als der Glanz erlosch, waren die Kämpfer, die in dem Ring eingeschlossen waren, zu Boden gesunken.
Währenddessen war Solinacea abgesprungen und hatte ihre beiden Schwerter gezogen, die im Licht ihrer Aura gefährlich glänzten. Sie schien durch ihre Wut gewachsen zu sein. Magie umfloss sie. Sie glich einem Fabelwesen aus alten Legenden, einer Kriegerprinzessin, einer Großmagierin der Altvorderen. Entschlossen ging sie den Feinden entgegen. Furcht machte sich unter den Kämpfern breit. Dakoranische Kriegsmagie war ihnen völlig fremd. Mit Solina im Rücken und der versammelten Kraft der Wolfsmagier vor sich hatten die Schattenkämpfer keine Chance mehr. Der heraufdämmernde Morgen gehörte dem Frieden in Ipioca.
Dennoch machte mich der Kampf nicht glücklich. Wieder einmal war Blut geflossen, Blut auf beiden Seiten der Grenze, und wir hatten wieder nur einen Aufschub bis zum nächsten Angriff erkämpft. Mit diesen ausgeglichenen Machtverhältnissen konnten wir keinen endgültigen Sieg erringen und es würde immer so weitergehen wie bisher, von einem Kampf zum nächsten, über Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte. Der Preis, den wir zu zahlen hatten, war hoch. Wieder waren zwei meiner Wolfsbrüder schwer verwundet worden – Chaska war einer von ihnen. Er würde den Tag wahrscheinlich nicht überleben. Dieser Gedanke machte mir den Morgen bitter und ich zog mich von meinen hochgestimmten Freunden leise zurück und machte mich daran, unsere freilaufenden Pferde einzufangen, die inzwischen ihre Pegasusflügel verloren hatten.
Die Sonne hatte sich eine Handbreit dem Zenit genähert, während ich unterwegs gewesen war und ich kehrte mit meinen beiden Tieren am Zügel in das Lager der Wolfsmagiergruppe zurück, als mir Chaska entgegentrat. Chaska, den ich fast verloren geglaubt hatte. Er lächelte mich mit einem unbeschreiblichen Triumph an.
»Das war die beste Entscheidung deines Lebens, Nashoba!«, begrüßte er mich freudestrahlend. »Mit einer solchen Magierin wird das Überleben an der Grenze ein Kinderspiel. Sieh doch nur!« Fröhlich wie ein Kind drehte er sich vollkommen unversehrt einmal um seine eigene Achse.
»Was hat sie getan?«, fragte ich ungläubig. Vielleicht arbeitete mein Verstand nach dem Kampf langsamer als sonst, aber es wollte mir nicht in den Sinn kommen, dass ihre Magie so weitreichend war, dass sie ein zu Tode verletztes Wesen so schnell … und überhaupt! Chaska wurde ernst.
»Es war ihre Magie. Was sonst! Tahatan hat es mir erzählt. Ich selbst habe nicht viel davon im Gedächtnis behalten. Sie kam zu mir in ihrer herrlichen Aura und betrachtete mich stumm. Dann schnitt sie sich mit einem kleinen Messer den Arm auf und ließ mich ein paar Tropfen von ihrem Blut kosten. Es war unglaublich. Die Wunden heilten in kürzester Zeit und nun fühle ich mich gesünder und stärker als je zuvor. Das war große Magie, Nashoba, ganz große Magie!«
Er grinste mich an wie ein Kind, dem man ein Zuckerwerk geschenkt hatte und ging gutgelaunt davon. Ich blieb stehen, wo ich stand und musste erst einmal verkraften, was ich von Chaska gehört hatte. Sie hatte Blutmagie eingesetzt, für einen Wolfskrieger, den sie nicht einmal kannte. Noch vor ein paar Tagen hatte sie vage von dieser Art Magie gesprochen und davon, dass die Heilerinnen sie nur im schlimmsten Notfall bei für sie wichtigen Personen wie Freunden und Familienmitgliedern einsetzen, weil die Blutmagie die Kraft der Heilerinnen auf längere Zeit schwächen und auch ihre Lebenserwartung verkürzen würde. Und nun hatte sie Chaska mit genau dieser Magie geheilt. Ich verstand es nicht und beschloss, Solinacea zu suchen.