Sie waren tief in ihre Beratung versunken, als Onatah mit ihren Packpferden die Lichtung betrat. Sie stieß einen hellen Eulenruf aus, mit dem sie sich vor den Kriegern zu erkennen gab. Dann brach sie in ein Gelächter aus.
»Na, das ist ja kaum zu fassen, da habe ich meine Söhne beide zusammen und immer noch ist keiner von euch in der Lage, mich rechtzeitig ankommen zu hören.«
Es war ein Scherz, den sie sich hin und wieder gestatteten. Alle drei wussten, dass die Wölfe Onatah nicht wahrnehmen konnten, wenn sie es nicht wollte und Onatah wandte bei jeder Ankunft gezielt ihre Magie an, damit das auch so blieb.
»Wir hätten dich gehört, wenn du nicht wie eine Eule geflogen wärst«, grinste Tahatan und eilte auf die alte Medizinfrau zu, um sie sogleich in die Arme zu schließen. »Knorrig wie ein Baum und duftend wie eine ganze Kräuterhütte, Onatah, daran würde ich dich schon auf Meilen erkennen.«
»Genau, und wenn wir sie nicht daran erkennen könnten, dann würde sie sich uns spätestens durch ihre spitze Zunge verraten«, meinte nun auch Nashoba lachend und Onatah wurde von einem Krieger zum nächsten weitergereicht.
Sie waren Freunde, Weggefährten, Seelenverwandte auf ihrem Lebensweg und jedes Treffen genossen sie, als wären sie eine Familie, wobei sich Onatah ihnen wie eine Mutter verbunden fühlte. Dem hohen Alter nach konnte sie es auch sein.
»Nun, was lockst du mich kurz vor Beginn des Winters noch einmal in diese Einöde, Nashoba? Willst du auf Bärenjagd gehen und hast keinen Jagdzauber mehr?«, scherzte die Alte.
»Wenn es nur das wäre …«. Nashoba schüttelte den Kopf, nun plötzlich wieder ernst geworden. »Am Strand unterhalb der Klippen ist ein Boot gestrandet, das vermutlich von Dakoros kam. Jedenfalls war eine ihrer Heilerinnen an Bord, halb verdurstet und mit fast erloschener Aura. Ich wollte sie nicht ins Dorf bringen. Das kam mir nicht sicher genug vor. Deshalb haben wir sie jetzt hier und ich möchte dich bitten, deine Heilkunst für sie einzusetzen.«
Nashoba wandte seinen offenen Blick Onatah zu. »Du weißt, dass wir immer viel Unterstützung von den Dakoranern bekommen haben. Das sind wir ihnen schuldig.«
»Natürlich, Nashoba, natürlich«, pflichtete Onatah ihm bei. »Ich werde mich sogleich ans Werk machen. Bringt mein Medizinbündel hinein und versorgt uns mit genügend Wasser. Dann schlagt bitte auch mein Tipi auf, damit wir ausreichend Platz haben und kümmert euch um die Ponys.«
Tahatan lachte. »Was für eine Rede! Du bist immer noch ganz die Alte, nur keine Zeit verschwenden und an alle Aufgaben verteilen. Aber du sollst zufrieden sein.«
Mit diesen Worten nahm er das erste Bündel vom Pferd und ging voran, um die Schamanin ins Tipi zu geleiten. Onatah schob das Leder zurück, das den Eingang des Zeltes verschloss und warf einen Blick in das Innere.
»Gut, gut. Damit kann ich erst einmal zurechtkommen. Bringt alles hier herein und dann macht, dass ihr mich in Ruhe lasst. Dies hier ist eine Frauensache!«
Tahatan stöhnte gespielt auf, aber er grinste, als er nickte. Onatah mochte ruppig und respektlos erscheinen, doch er kannte keine bessere Medizinfrau als sie und seit Jahrzehnten hatte sie ihnen zuverlässig bei ihrem Kampf gegen das Dunkle von jenseits der Grenzen geholfen. Hätte er jemals den Wunsch gehabt, sich seine längst verstorbene Mutter gealtert vorzustellen, hätte sie wohl so wie Onatah ausgesehen.
Während diese die Heilerin versorgte, richteten Nashoba und Tahatan das Lager ein. Sie bauten das Tipi der alten Medizinfrau auf, was eigentlich eine Frauenarbeit gewesen wäre. Aber da die Schamanin nicht mehr stark genug war und mit anderen Aufgaben beschäftigt, taten sie es ohne einen Kommentar. Sie brachten die Ponys zur Tränke an den nahen Bach und dann in den Korral und sorgten für Futter. Zuletzt dachten sie auch an ihr eigenes leibliches Wohl. Tahatan ging auf die Jagd.
Nashoba blieb nahe beim Lager. Er beschloss, den Brennholzvorrat aufzustocken. Die Lichtung konnte er nur begrenzt verlassen, weil er die Schutzaura weiter aufrechterhalten wollte, mit der er die Heilerin von Dakoros umgeben hatte.
Holz zu sammeln war keine Arbeit, die einem Krieger viel Konzentration abverlangte und so hatte Nashoba reichlich Zeit, um sich Gedanken über den fast vergangenen Tag zu machen.
Die Dakoranerin hatte auf ihn eine seltsame Faszination ausgeübt, obwohl sie so geschwächt war, dass sie nicht einmal mit ihm sprechen konnte. Dennoch spürte er die Ausstrahlung ihrer sanften Aura und die Anziehung ihrer Weiblichkeit. Wie die meisten Magier hatte auch Nashoba die längste Zeit seines Lebens allein verbracht. Es war eine notwendige Sache, die die Geheimnisse der Magie schützte und das Alleinsein wurde zur Gewohnheit, wenn man sehr viel länger lebte als alle Normalsterblichen und die Generationen der Menschen schneller alterten als man selbst.
Noch zu Lebzeiten seiner Eltern wäre es für einen Wolfskrieger selbstverständlich gewesen, eine magische Gefährtin zu finden, doch mit den Jahrzehnten des Krieges war die Zahl der magiebegabten Frauen immer geringer geworden. Viele waren von den Dunkelmagiern in den ersten Jahren des Krieges verschleppt worden und später, als die Allianz die Grenzen zuverlässiger hatte schließen können, waren die Frauen an der Seite der Krieger in den Kampf gezogen – ein Fehler, der nicht wiedergutzumachen war.
Nashoba wusste, dass sich manche Magier, vor allem die Elementezauberer, mit Frauen von Dakoros verbunden hatten. Für sich selbst hatte er das nie in Erwägung gezogen, dazu schien ihm sein Leben an der Grenze viel zu ruhelos und zu gefährlich. Natürlich hatte auch er kurzzeitige Partnerinnen unter den menschlichen Frauen gehabt, aber er hatte sich nie niedergelassen oder gar eine Familie gegründet. Heute jedoch überkam ihn eine Sehnsucht, die er selbst nicht erklären konnte. Das war mehr als nur das Begehren eines schönen Körpers oder eines hübschen Gesichtes. Nashoba konnte selbst nicht begründen, wie er dieses Gefühl entwickelt hatte. Es verunsicherte ihn und versetzte ihn gleichzeitig in eine Hochstimmung, die nicht rational war.
Der Minági beschloss, sich Zurückhaltung aufzuerlegen und abzuwarten, was die kommende Zeit brachte. Er würde Gelegenheit haben, die Dakoranerin kennenzulernen und würde dann sehen, welchen Weg sie gehen wollte. Nashoba war sich sicher, dass die Heilerin nur auf der Durchreise war und dass es für ihn keinen Grund gab, in irgendeine Schwärmerei zu verfallen. Er straffte sich und verschloss seine Seele.