An diesem Morgen floss die Zeit in einer anderen Geschwindigkeit. Die Zukunft veränderte sich und mit ihr die Gegenwart. Mit dem Angebot Solinaceas, uns ihre Magie der Heilkunst näherzubringen, stiegen unsere Chancen auf einen Sieg gegen Chromnos zwar nicht direkt an, aber wir würden bedeutend weniger Krieger und Freunde verlieren und der Kampf würde einfacher werden und weniger schmerzhaft. Wir würden möglicherweise überleben.
Sie saß an meinem Feuer und bot mir ihre Hilfe an, als würde sie mich um einen Gefallen bitten. Ich konnte ihre Beweggründe nicht verstehen. Sie war eine Hohepriesterin von Dakoros. Warum sollte gerade sie zu meinem unbedeutenden, kleinen Volk kommen, um die Hilfe der Dakoraner anzubieten? Ich konnte nur an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln, an ihren wirklichen Zielen. Wie hätte man einen derartigen Wandel in der Gesinnung der Heilerinnen sofort glauben können?
Gewiss waren sie unübertroffen in ihrer Kunst und der friedvollen Naturmagie, aber sie wussten auch um ihr Können und hatten sich nie mit dem einfachen Volk auf eine Stufe gestellt. Sie waren unter sich geblieben und wer sie benötigte, musste bittend nach Dakoros kommen …
Wie also hätte ich nicht an der Wahrheit ihrer Geschichte zweifeln sollen? Glaubte ich, dass sie mich unterschätzte? Vorsichtig begann ich, meine Magie für die Erkundung ihrer Beweggründe einzusetzen. Ich erforschte ihre Worte, ihre wahre Bedeutung und nahm schließlich ein letztes und gefährliches Mittel zu Hilfe.
Ich begann, ihre nächstgelegenen Gedanken zu prüfen. Und ich erlebte eine Überraschung, die nicht intensiver hätte sein können. Sie hatte die Wahrheit gesprochen. Sie wollte uns tatsächlich helfen und hatte dabei keinerlei geheimen Pläne, die sie vor mir verheimlichte.
Es war unglaublich! Ihre Gedanken waren so rein, so unverfälscht, dass ich nicht den Mut hatte, allzu lange in ihrem Geist zu verweilen. Nachdem ich mich ihrer Ehrlichkeit versichert hatte, zog ich mich sofort zurück. Sie aber saß mir schweigend gegenüber. Hatte ich geglaubt, dass sie meinen mentalen Angriff nicht wahrgenommen hatte? Spätestens ihr wachsamer Blick, mit dem sie mich nicht ohne leichten Spott musterte, versicherte mir das Gegenteil. Sie war so stark, so faszinierend, so schön – ich hätte in diesem Blick versinken wollen.
Stattdessen senkte ich den Kopf und murmelte ein: »Verzeih mir …«
Was hätte ich auch sonst sagen sollen? Wie entschuldigt man sich für eine solch schamlose Verletzung der Persönlichkeit eines anderen?
Mit einer Handbewegung wischte sie meine Entschuldigung beiseite. »Ich will vor euch nichts verbergen. Schau dir meine Gedanken ruhig an. Auch ich würde vermutlich in fremden Gedanken stöbern, wenn ich es denn könnte.« Dann schenkte sie mir ein scherzendes Lachen.
Hätte sie mich bisher noch nicht überzeugt, dann hätte dieses Lachen ausgereicht. Noch nie hatte mich eine Frau so sehr in ihren Bann gezogen. Sie lockte mich mit jeder Bewegung, die sie machte, mit jedem Wort, mit ihrem Lachen. Es war fast schmerzhaft, wie sehr sie mich anzog. Doch mit knapp fünfhundert Jahren Lebenserfahrung kannte ich mich gut genug, um mich zu beherrschen. Nur noch einmal konnte ich mein Erstaunen kaum verbergen. Wir waren zu den Details für ihren Aufenthalt in Ipioca übergegangen und ich hatte sie nach der Dauer ihres Bleibens gefragt.
Da antwortete sie mir: »Ich werde bleiben, solange es mir die Inokté gestatten. Eine Rückkehr nach Dakoros ist eigentlich nicht vorgesehen. Wenn ihr meine Anwesenheit hier nicht mehr wünscht, werde ich weiterziehen. Die Position der Hohepriesterin hat eine Vertraute für mich eingenommen. Es gibt keine Verpflichtungen in Dakoros mehr für mich.«
Sie würde bleiben! Die Konsequenzen aus ihrer Absicht ließen sich schwer abschätzen, aber im Inneren fühlte ich ein Wohlbefinden, wie schon lange nicht mehr. Nicht nur, weil sich damit die Lebensbedingungen meiner Inokté sicher um einiges verbessern würden, nicht nur, weil wir Zugriff auf ein uns völlig neues Wissen erlangen würden, sondern weil ich ihr weiter nahe sein würde. Sie würde einen Platz in unserem Stamm einnehmen, sie würde in unseren Dörfern leben. Ich konnte ihr Ipioca zeigen und vielleicht …
Aber darüber wollte ich ein anderes Mal nachdenken.