Beide lachten nun fröhlich und Onatah, die soeben am Feuer erwacht war, ließ sich von ihrer heiteren Stimmung anstecken. Später am Tag sollte Solinacea ihr mehr von diesem morgendlichen Erlebnis erzählen: Wie sicher sie sich in Nashobas Nähe gefühlt hatte, wie strahlend seine Augen auch als Wolf gewesen waren, wie sehr sie von der Verwandlung beeindruckt gewesen sei. Onatah betrachtete sie still, dachte sich das Ungesagte zu dem Gehörten hinzu und wünschte dem Minági, dass er genauso empfinden möge. Mit dieser Frau an seiner Seite wäre er sicher ein glücklicher Mann und da sie beide Magier waren, würde auch die Zeit sie nicht trennen. Sie wusste, dass der frühe Tod der Menschen Nashoba von einer wahren Bindung mit einer der Stammesfrauen abgehalten hatte. Er wollte sich nicht verlieben, um dann nach kürzester Zeit loslassen zu müssen. Bei dieser Frau brauchte er solche Vorbehalte nicht zu haben.
Onatah wechselte schließlich das Thema, indem sie Solinacea von den Bewohnern ihres Dorfes erzählte, von ihrer Lebensweise, ihren Ritualen und den Regeln ihres Zusammenlebens. Gewitzt flocht sie ein, dass der Minági allein lebte und sein Haus und Tipi von der Familie Tahatans bestellt würden und sie war sich sicher, dass die Dakoranerin das nicht ungern hörte. Aber sie verweilte nicht dabei, sondern begann eine lange und ernsthafte Diskussion mit ihr über Heilmethoden von Wunden und Knochenbrüchen.
Das hatte zur Folge, dass sie für den größten Teil des Tages in einer Fachsimpelei der Heilkunst versanken, von der sie beide profitierten. Sie beschlossen, den Winter dazu zu nutzen, ihr Wissen weiter auszutauschen und alles Neue schriftlich festzuhalten, sodass Solinacea ihren Plan der Verbreitung der Heilkunst schneller und einfacher würde umsetzen können, indem sie die Bücher weiterreichte.
So überraschte es die beiden Frauen fast, als sie am späten Nachmittag Tsiigehtchic erreichten. Der Minági war sehr zufrieden, dass sich die beiden Heilerinnen zusammengefunden hatten. Onatah war eine der besten Medizinfrauen seines Stammes und wenn sie ihr Wissen mit Solinacea austauschte, konnte sich nur Gutes daraus entwickeln. Im Gegenzug konnte Onatah sicher auch Solinaceas Kenntnisse am besten einschätzen und nutzen. Der Winter versprach für die Heilerinnen interessant zu werden.
Das Dorf Tsiigehtchic lag auf einer geschützten Klippe oberhalb der Steilküste am Meer. Die nördlichen Inokté lebten zwar im Sommer als Halbnomaden in ihren Tipis, die restlichen Jahreszeiten verbrachten sie jedoch in den traditionellen Langhäusern des Stammes. Diese waren massiv aus Holz gebaut und jede Familie bewohnte ein Haus für sich. Innerhalb des Hauses waren für jedes Paar und die Kinder der Familie durch Trennwände abgegrenzte Bereiche geschaffen, sodass den Bewohnern genügend Privatsphäre zur Verfügung stand. Alle Häuser richteten sich mit dem Giebel zum Meer hin aus und hier befanden sich auch die Eingänge, die mit kunstvoll geschnitzten Holztüren versehen waren. Vor den Häusern standen die Totempfähle der jeweiligen Familien und wiesen Abstammung und Clan der Bewohner aus. Auch sie waren kunstvoll geschnitzt und teilweise leuchtend bunt bemalt, was dem Dorf ein heiteres und unbeschwertes Aussehen gab. Am Strand unterhalb der Steilküste lagen die allwettertauglichen Kanus, auch sie mit farbenfroher Bemalung. Die Männer waren geschickte Fischer und Jäger und so reihten sich einige Dutzend Boote Seite an Seite auf dem Strand aneinander.
Normalerweise waren die Inokté ein zurückhaltendes, stilles Volk. Doch die Ankunft des Minágis und ihrer Medizinfrau war Anlass, auf alte Gewohnheiten zu verzichten und so wurden Nashoba und seine Begleiterinnen vom ganzen Dorf überschwänglich begrüßt. Solinacea nahm die verstohlenen Blicke der Dorfbewohner wahr, fühlte sich aber von der zurückhaltenden Neugier nicht gestört.
Nachdem Nashoba die Begrüßung seines Stammes erwidert und Solinacea mit wenigen Worten vorgestellt hatte, zogen sich die Dorfbewohner rücksichtsvoll in ihre Häuser oder zu ihren Arbeiten zurück und das Leben an der Küste nahm seinen Gang, als sei nichts geschehen. Sie vertrauten Nashoba so vollkommen, dass sie sich nicht an einer fremden Magierin störten, wenn er ihre Anwesenheit für gerechtfertigt hielt.
Nashoba und Solinacea blieben nicht lange in dem stillen Dorf an der Küste. Nashoba zog es zu seinen Freunden an die Grenze und Solinacea schloss sich seinen Wünschen an, da sie ihn so wenig wie möglich in seiner Freiheit behindern wollte. Vom ersten Tag an war ihr Umgang von gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung geprägt, die ihnen die Anfangszeit ihrer Bekanntschaft wesentlich vereinfachten.
Solinacea passte sich an Nashoba an und der Minági nahm alle Rücksicht, die er aufbringen konnte, um ihr den Beginn in Ipioca zu erleichtern. Er brachte sie zu Utina, damit sie sehen konnte, dass ihre Heilpflanzen in guten Händen waren. Er gab ihr die besten und stillsten Räumlichkeiten seines Heims für die Tage im Dorf und ließ nicht zu, dass vorlaute oder neugierige Witzbolde sie belästigten. An den Abenden, wenn Nashoba im Rat saß, mit den Stammesführern Pläne für den kommenden Winter machte und sich mit ihnen zu den Grenzproblemen beriet, zog es Solinacea oft zu Onatah und die Freundschaft der beiden Frauen vertiefte sich. Sie beschlossen, im Winter, wenn Solinacea von ihrer Reise durch Ipioca zurückgekehrt war, miteinander zu arbeiten.
Sie besuchten Utina und die Heilerin gab ihr einen ersten Überblick über die Wirkungen der Heilpflanzen, welche sie aus Dakoros mitgebracht hatte. Im Stillen genoss Solinacea den Umgang mit den beiden begabten Frauen und freute sich auf die gemeinsame Zeit des Austauschs. Nashoba wiederum beobachtete Solinacea insgeheim genau und war zufrieden, dass sie schlicht und selbstverständlich ihren Platz im Gefüge des Dorfes eingenommen hatte. Er hatte zunächst befürchtet, dass sich die weisen Frauen des Stammes von ihrem Eintreffen gestört fühlen könnten oder sie sogar offen ablehnen würden. Deshalb war er erleichtert, als er sah, dass die von ihm erwarteten Diskussionen ausblieben und Solinacea offenbar mit ihrer natürlichen Art Akzeptanz gefunden hatte.