So bereiteten sie zügig ihre Reise an die Grenze vor und lediglich einmal verblüffte Solinacea ihren Mentor, als sie ihn darum bat, zu dem Boot gebracht zu werden, mit dem sie an die Küste Ipiocas gelangt war. Nashoba mit der lang trainierten Beherrschung seines Volkes, stellte ihr keine Fragen, auch wenn er nicht verstand, was sie zu dem leergeräumten Wrack hinziehen konnte. Er brachte sie auf dem Küstenpfad an den Strand und bald gelangten sie an die Planken und Holzbohlen des Bootes, mit dem die Heilerin gestrandet war.
Sie schritt ganz gezielt auf die Reste des einsamen Mastbaumes zu und versuchte, ihn aus der Verankerung zu lösen. Als ihr das nicht allein gelang, lächelte sie Nashoba bittend an und er kam und unterstützte sie, sodass sie das widerspenstige Holz lösen konnten. Erstaunt sah er dann seiner Begleiterin zu, wie sie aus dem Inneren des hohlen Mastes zwei ölgetränkte längliche Pakete zog. Als sie die Tücher von den beiden meisterhaften Schwertern löste, atmete er scharf ein. Er trat näher und Solinacea reichte ihm lächelnd eine der exzellenten Klingen, die sie aus Dakoros mitgebracht hatte. Die Schmiedearbeit war von einer hervorragenden Qualität und die Lagerung in der Nähe des Salzwassers hatte der Schärfe der Klingen nicht geschadet. Zarte Muster aus ineinander verschlungenen Runen gaben den Waffen zusätzliche Stärke und der damaszierte Stahl glänzte gefährlich in der hochstehenden Sonne.
»Auch eine Heilerin muss sich verteidigen können«, erklärte sie ihm lächelnd, während ihr Blick prüfend über das funkelnde Metall glitt und sie mit dem Daumen die Schärfe der Schneiden nachprüfte.
Auf Dakoros wurde nicht nur magischer Zweikampf trainiert. Die meisten höhergestellten Heilerinnen hatten ihre eigenen Schwertmeister, die sie im Umgang mit Waffen und in der Kriegskunst unterrichteten. Auch wenn sich die Dakoranerinnen einer friedlichen Magie verschrieben hatten, lebte doch das Land Art-Arien in einer ungewissen Waffenruhe, die jederzeit gebrochen werden konnte. Aus diesem Grund standen Kampftechniken und Körperbeherrschung neben der Kriegsmagie in Ansehen bei den Priesterinnen.
»Sicher bin ich im Kampf weit weniger erfahren als deine Wolfsmagier und du, doch sollten mich meine Waffen bis zu einem bestimmten Grad schützen können.« Sie lächelte und schob die beiden Schwerter in die kunstvoll bestickten Schwertscheiden zurück, die sie sich gekonnt über den Rücken warf. Verschmitzt schaute Solinacea den sprachlosen Minági an. Dann lachte sie laut auf, stieß einen Kampfschrei aus und zog in Sekundenschnelle die Waffen, wirbelte herum und hatte Nashoba im Bruchteil einer Sekunde beide Klingen an den Hals gelegt.
Der Minági erstarrte unter dem plötzlichen Angriff. Nur unter Aufbietung seines ganzen Willens gelang es ihm, die Kräfte der Wolfsmagie in seinem Körper zurückzuhalten, die förmlich danach brüllten, sich zu verteidigen und jeden Angreifer zu töten. Seine Muskeln spannten sich schmerzhaft, während er mit Mühe das mentale Angriffsmuster seiner Magie durchbrach und sich darauf konzentrierte, Solinacea nicht zu verletzen.
Doch so schnell sie ihn bedroht hatte, so schnell hatte sie ihre Waffen auch wieder friedlich auf ihrem Rücken platziert. Wieder lachte sie fröhlich. Als sie jedoch in sein eisiges Gesicht blickte, erstarb ihr Lachen und sie wusste, dass sie ihm gegenüber zu weit gegangen war. Seine Augen glühten bedrohlich, sein Atem ging schnell und angespannt und in eiserner Selbstbeherrschung hatte er die Fäuste geballt und zwang sich zur Reglosigkeit. In diesem Moment sah Solinacea zum ersten Mal den wirklichen Minági vor sich – einen mächtigen Kriegsmagier, der sein Volk seit Jahrzehnten in den Kampf führte und die geheime Macht des Stammes in sich trug. Diese Macht schien ihn nun förmlich auszufüllen und machte ihn bedrohlich und dunkel. Entsetzt wich Solinacea vor ihm zurück.
Der Minági sah sie zurücktreten und sog erleichtert die Luft ein. In ihrem Blick lag Erschrecken und in diesem Moment schien sie sich tatsächlich vor ihm zu fürchten. ›Zu Recht‹, dachte Nashoba, auch wenn er mit der Situation unzufrieden war.
Wenn er auch nur versucht hätte, sich zu verteidigen, könnte sie bereits schwer verletzt oder tot sein. Wieso ging sie ein solches Risiko ein? Kannte sie das Ausmaß der Wolfsmagie im Kampf nicht? Oder traute sie ihm nicht zu, sich im Ernstfall gegen sie zu wenden?
Solinacea war selbst über die Wirkung erschrocken, die ihr Scheinangriff auf den Minági gehabt hatte. Sie trat zwei Schritte zurück und faltete die Hände zu einem traditionellen Friedensgruß. Während sie vor ihm den Kopf senkte, versuchte sie sich zu entschuldigen.
»Es tut mir leid, dich bedroht zu haben. Das war kein Ernst, … nur die Freude, meine Waffen nach all den Tagen unversehrt hier vorzufinden. Bitte! Ich wollte dich nicht verletzen!«
Nashoba hob die Hände und verbarg für einen Moment seine Augen. »Du kannst mich wahrscheinlich gar nicht verletzen, nicht einmal mit einer solchen Waffe. Aber du kannst meine Abwehrinstinkte wecken und in einem Kampf mit mir hättest du keine Chance zu überleben. Du hast offenbar keine Ahnung von unserer Schnelligkeit und der Stärke der Wolfsmagie. So etwas darf nie wieder passieren, hörst du? In einem Kampf kann ich die Magie nur bedingt kontrollieren. Wäre dir deine Herausforderung gelungen, hätte mich nichts abgehalten, dich zu verletzen oder zu töten.«
Er schauderte bei dem Gedanken. Die Anspannung fiel nur langsam von ihm ab und Nashoba kniete sich schließlich in den warmen Sand und senkte seinen Kopf wieder auf die Hände. Sie zitterten und er war sich bewusst, wie nahe sie einer Katastrophe gekommen waren.
Solinacea betrachtete ihn. Hatte sie ihn gerade noch als furchteinflößenden Kriegsmagier vor sich gesehen, der ihr einen gehörigen Respekt eingeflößt hatte, so war er jetzt wieder der ruhige, freundliche Stammesführer, dessen Freundschaft sie gewonnen hatte und den sie niemals laut oder wütend hatte sprechen hören. Sie sah ihm an, dass auch er über das Geschehene erschrocken war und nur mit Mühe wieder zu seiner alten Selbstbeherrschung zurückfinden konnte. Einmal mehr war sie von ihm zutiefst beeindruckt.
Solinacea ließ sich langsam neben ihm nieder und ergriff ihn schüchtern am Arm. »Bitte, es tut mir wirklich leid! Aber es ist nichts passiert ... Es kommt nie wieder vor ... Bitte ... Nashoba ... sieh mich an!«
Nashoba hob den Blick und sah, dass ihre Augen vor Furcht heller waren als jemals zuvor.
»Ich wollte dir doch nur zeigen, dass ich nicht schutzlos bin, dass du dich nicht auf unserer Reise ständig um meine Sicherheit sorgen musst ... Bitte, sprich mit mir!« Alles an ihr bat um Verzeihung, ihre Worte, aber auch ihr Blick, die Körperhaltung, ihre Hände. Was aber hätte er sagen können? Dass er kurz davor gewesen war, sie anzugreifen, weil sie den Wolf in ihm geweckt hatte? Dass seine Verteidigungsreflexe stärker waren als sein bedachter Wille und er im Ernstfall vermutlich mehr als doppelt so schnell sein konnte wie sie? Dass er reflexartig die Kräfte seiner Kriegsmagie eingesetzt hätte, wenn sie ihm auch nur die kleinste Verletzung zugefügt hätte? Er war ein Krieger und sie musste verstehen, dass der Kampf seine zweite Natur war, dass er sich immer zuerst verteidigen und erst dann nach dem Angreifer fragen würde. Das alles würde er ihr erklären müssen, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Jetzt war nur die richtige Zeit für Erleichterung – Erleichterung darüber, sie unverletzt zu sehen.
Nashoba ergriff ihre Hand und zog sie sanft in eine erste Umarmung. Vorsichtig hielt er ihren Kopf und ihren Oberkörper umfasst, und während seine Hände durch ihr seidiges Haar fuhren und er ihre Wärme auf seinem Körper fühlte, beruhigte er sich wieder. Sein Herzschlag wurde langsamer und das brodelnde Verlangen nach Verwandlung klang ab.
Während der Minági in ihrer Umarmung zur Ruhe fand, spürte auch Solinacea, wie sie sich entspannte. Sie fühlte die Geborgenheit an Nashobas starkem Körper und für einen langen Augenblick barg sie ihren Kopf und alle ihre Unsicherheiten und Sorgen in seinen starken Armen. Für beide war es ein zutiefst friedlicher und erfüllender Moment und sie hielten einander fest und wünschten auch die Zeit festzuhalten und die Umarmung noch länger hinauszuzögern.
»Solina«, flüsterte er ihr zu, »Ich möchte dir niemals wehtun.«
Sanft legte sie ihre Wange an seine und strich ihm über das tintenschwarze lange Haar. »Du hast mir nicht wehgetan. Alles ist gut.«
Schließlich lösten sie sich voneinander und er reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Sie würden ins Dorf zurückkehren und sich auf den Weg an die Grenze machen. Dennoch hatte der Nachmittag etwas verändert. Auf dem Rückweg nahm sie schüchtern seine Hand und er hielt sie fest und ließ sie nicht mehr los, bis sie das Dorf erreicht hatten. Sie waren sich über ihre Gefühle klarer geworden.