Nia genoss den Fahrtwind, der durch die geöffneten Fenster hereinströmte. Seit einigen Stunden fuhren sie nun schon durch weite, karge Hochebenen, die menschenleer wirkten. Ab und zu zeigte ein Wegweiser zu einer Siedlung, welche aber von der Strasse aus, die sie befuhren, nicht sichtbar war. Sie und Sally, so kam es ihr vor, waren alleine auf der Welt - oder zumindest alleine unterwegs.
Die beiden Frauen sprachen nicht viel miteinander. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, war jede in ihre eigene innere Welt zurückgekehrt. Das Schweigen zwischen ihnen war jedoch angenehm, gewährte Raum zum Sein.
Nia erinnerte sich an den intensiven Traum, den sie im Flugzeug gehabt hatte. An die wunderbaren Farben, die der Mann mit dem Hut aus seiner Flöte gezaubert hatte. Sie versetzte sich in Gedanken noch einmal zurück vor die Hütte, las gewissermassen noch einmal die Nachricht, die er ihr übermittelt hatte. Nia war sich sicher, dass dieser Traum kein gewöhnlicher Traum gewesen war, sondern eine echte Begegnung mit einer wichtigen Botschaft. Ihr Herz klopfte schneller vor Freude, als sie daran dachte, dass er sie darum gebeten hatte, in Kontakt zu bleiben, ihm aber noch etwas Zeit zu geben. Sie nahm sich vor, dem Mann mit dem Hut heute Abend, wenn sie in ihrem Hotelzimmer sein würde, mit ihrer eigenen Flöte zu antworten.
Zufrieden kuschelte sich Nia in ihren Beifahrersitz und liess die weite Landschaft weiter an sich vorbeiziehen. Das Leben erschien ihr wieder bunt, farbenfroh und voller Möglichkeiten.
Nia merkte nicht, dass Sally sie aufmerksam beobachtete und leise lächelte.
Patric stand am Feuer und bewachte den lecker riechenden Eintopf, den seine Mutter darüber gehängt hatte. Er fühlte sich wohl hier mit seiner Familie, mit seinem Volk. Seit er der unbekannten Frau sein Herz geöffnet hatte, fühlte er sich entspannt. Eine ruhige, innere Gewissheit sagte ihm, dass er auf gutem Wege war - dass sie beide auf guten Wegen waren.
Er schlenderte zu seinem Vater, der vor seiner Hütte sass und an einem Pfeifenkopf schnitzte. Er setzte sich zu ihm und genoss das stille Einvernehmen, welches ihre Beziehung schon immer geprägt hatte. Weder er noch sein Vater waren Männer von grossen Worten. Sie drückten sich auf ihre ganz eigene Art aus. Patric hatte seinen Weg dazu über die Musik, das Flötenspiel, gefunden. Sein Vater schnitzte wundervolle Figuren aus Holz.
"Warum bist du gekommen?"
Aufmerksam betrachtete Patrics Vater seinen Sohn.
Dieser fühlte sich etwas ertappt über diese für seinen Vater ungewöhnlich offene Frage und schwieg eine Weile.
"Das Leben stellt manchmal Fragen", begann er dann zögernd. Mehr wollte er seinem Vater eigentlich nicht sagen. Von der unbekannten, schönen Frau, deren Flötenspiel er hören, sie selbst aber nicht sehen konnte, schon gar nicht.
Sein Vater nickte jedoch verständnisvoll.
"Es ist gut, sich den Fragen des Lebens und, vor allem, seinen eigenen zu stellen," meinte er ruhig. "Hier, im Kreis unseres Volkes, ist der beste Platz dafür. Ich bin sicher, du wirst deine Antworten finden!"
Er nahm die die Arbeit an seinem Pfeifenkopf wieder auf und Patric entfernte sich in der Zuversicht, hier immer willkommen und getragen zu sein.
Während er an einen Baum gelehnt das Treiben seines Volkes beobachtete, stieg sie wieder auf, diese Frage: "Wer bin ich?" Und, einer Zwillingsfrage gleich, drängte eine weitere Frage an die Oberfläche: "Was will ich eigentlich im Leben?"
Ja, er war Mitglied dieses Volkes. Aus ihm war er hervorgegangen. Die Lebensanschauungen, die Rituale, welche von tiefer Ehrfurcht allem Lebedigen gegenüber geprägt waren, hatten ihn geformt. Es gab auch Ereignisse in seinem Leben, welche ihn zu dem Mann hatten werden lassen, der er jetzt war.
Aber wer war er wirklich?