Mitten in der Nacht wachte Nia auf. Verwirrt blickte sie sich um und versuchte sich zu orientieren. Über ihr wölbte sich der Sternenhimmel - ein Sternenhimmel, wie sie ihn ihrem Leben noch nie gesehen hatte. Staunend lag sie da, während sich ihr Blick in der Unendlichkeit über ihr verlor.
Angesichts dieser unermesslichen Grösse kam sie sich so klein und unbedeutend vor!
Wer war sie denn? Ein kleiner Mensch auf einem kleinen Planeten, der, wie all diese Planeten und Sterne über ihr, durchs Weltenall trieb. Wer oder was aber trieb diese Gebilde an? Oder, andersrum gefragt: Wer hielt sie? Und wer hielt sie, Nia? Wurde sie überhaupt gehalten? Wer oder was hielt sie am Leben?
In Nia stieg eine Frage nach der andern auf. Es kam ihr vor, als grabe sie in ihrem Innern immer tiefer, als gälte es, verborgene Zugänge zu sich selbst, zum Leben überhaupt, zu finden.
Nia spürte, dass sie mit ihrem Entscheid, in dieses weit entfernte Land zu reisen, einen wichtigen Schritt gemacht hatte. Obwohl ja der ursprüngliche Beweggrund der Mann mit dem Hut gewesen war, erwies sich seine anfänglich abweisende Haltung für sie nun als Geschenk. Dafür war sie ihm dankbar.
Neben sich hörte Nia die tiefen und ruhigen Atemzüge von Sally. Auch sie schien eine wichtige Rolle auf ihrer Entdeckungsreise zu spielen. Nia hatte die fröhliche, unkomplizierte Frau gleich ins Herz geschlossen. Obwohl - Nia schmunzelte bei dieser Erinnerung - die Vorfreude auf ein bequemes Hotelzimmer hatte sich bald als verfrüht erwiesen. Irgendwo im Nirgendwo hielt Sally an und verkündete, hier würden sie übernachten. Als sie Nias wohl fassungslosen Blick sah, brach sie in fröhliches Gelächter aus. "Tja, Nia-Kind, mit mir ist das Leben ein Abenteuer!" prustete sie los. "Hotels der üblichen Art sind nicht meins und so etwas findest du hier auch weit und breit nicht. Aber ich bin mir sicher, ein solches Nachtlager wie hier hast du bestimmt noch nie erlebt!"
Sprachs, kletterte behände aus dem Auto und begann, einen Lagerplatz herzurichten. Bald schon knisterte ein Feuer in dessen Mitte, während sie Nia vielerlei erklärte. Dann begannen die beiden Frauen eine Suppe zuzubereiten, deren Duft Nia schon im Voraus das Wasser im Mund zusammenlaufen liess und sie mit der ungewohnten Situation versöhnte.
Mit dem Einbrechen der Nacht wurde Sally immer stiller. Schweigsam löffelten die beiden ihre Suppe. Dann wickelte sich Sally in eine Wolldecke, zeigte Nia die ihre und beide Frauen schliefen bald darauf ein.
Nun lag Nia da, unter diesem weiten Himmel, und grübelte.
Wer war sie, diese freundliche Frau mit dem warmen Blick? An wen bloss erinnerten sie diese Augen? Hatte sie sich ihr zu recht anvertraut? Da lag sie nun irgendwo im weiten Westen dieses grossen Landes, neben sich eine ältere, schlafende Frau, die behauptete, sich hier auszukennen - aber was, wenn das alles nicht stimmte?
Der Blick in den Himmel begann Nia auf einmal zu verunsichern. Alles war ihr hier zu gross, zu unfassbar. Das Land, aus dem sie kam, war klein und überschaubar. Die Weite hier begann sie auf einmal zu beängstigen.
Nia fiel in einen unruhigen Schlaf.
Kaffeeduft und ein fröhliches "Guten Morgen" weckten Nia auf. Es dauerte eine Weile, bis sie sich aus der Traumwelt befreit hatte. Sie setzte sich auf, schüttelte den Kopf und schälte sich aus ihrer Wolldecke.
Sally musterte sie aufmerksam.
"Wie geht es dir?" fragte sie sanft.
Traumfetzen der vergangenen Nacht tauchten vor Nias inneren Augen auf. Das Reh! Ja, das Reh hatte sie wieder gesehen! Und warme Farben hatten sie erreicht, ihr unruhiges und ängstliches Herz beruhigt. Sie erinnerte sich an ihre Ängste angesichts der Weite dieses Landes. Ihre Skepsis Sally gegenüber. Und all die Fragen, die aufgetaucht waren, während sie den wunderschönen Sternenhimmel betrachtet hatte.
Ein leiser Seufzer entfuhr Nia.
"Es ist gerade etwas viel auf einmal", gab sie dann ehrlich zu.
Sally nickte.
"Das ist mehr als verständlich, Nia. Dein Leben hat eine ungeahnte Wendung genommen, vieles hat sich bereits verändert, noch mehr wird sich verändern. Hier, trink zuerst mal eine Tasse Kaffee. Wenn du magst, wirst du heute etwas lernen, das meinem Volk wichtig ist."