Während Nia langsam ihren Kaffee trank, spürte sie, wie zwischen ihr und Sally ein Raum entstand. Es fühlte sich an, als würden unsichtbare Grenzen zurückweichen und den Blick in unbekannte Weiten freigeben. Im Gegensatz zu den Weiten, welche Nia in der vergangenen Nacht geängstigt hatten, fühlte sie sich jetzt aber geborgen und sicher.
Sallys Blick war offen und warmherzig.
Wie hatte Nia nur einen Moment an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln können? Tief atmete sie auf und lächelte dann etwas unsicher.
Sally schmunzelte. "Ich bin keine Hexe, Nia! Höchstens etwas - aussergewöhnlich. Doch das wirst du wohl selbst noch merken. Die Fragen aber, die du dir stellst", Sally nahm Nias Hand in die ihre, "diese Fragen werden dich an dein Ziel führen!" Aufmunternd lächelte die ältere die jüngere Frau an, bevor sie auf einmal kurz entschlossen aufstand. "Komm mit!"
Sally führte Nia an eine Quelle unweit ihres Lagerplatzes, welche einen kleinen See speiste. Nia verspürte grosse Lust, hineinzuspringen, sich den Staub der Reise vom Vortag abzuwaschen. Doch Sally hielt sie zurück.
"Tritt zuerst mit dem See in Kontakt. Frage ihn, ob er dich aufnehmen will, ob du sein Gast sein darfst."
Nia staunte. Wie sollte sie denn mit einem See in Kontakt treten?
"Versuche, ihn zu spüren, Nia, sein Wesen wahrzunehmen. Er hat, wie alles Lebendige, eine Seele."
Sally lächelte, während sie der jungen Frau eine Hand auf die Schulter legte. "Nimm dir Zeit, Nia. Am besten setzt du dich an einen ruhigen Ort. Versuche, innerlich ganz ruhig zu werden. Und dann beobachte, was geschieht."
Unter einem ausladenden Busch fand Nia einen flachen Stein, der bis an den See reichte. Sanft fuhr sie mit der Hand über seine glatte Oberfläche. Einer Eingebung folgend versuchte sie den Stein zu fragen, ob sie sich auf ihn setzen dürfe. Schien es ihr nur so, oder begann er wirklich in einem hellen Licht zu schimmern?
Nia empfand dies als Einladung und setzte sich mit einem leisem Danke hin.
Lange sass sie so da, am Ufer des kleinen Sees. Sie fand es schwierig, innerlich zur Ruhe zu kommen. Wie machte man das eigentlich?
Kleine Wellen kräuselten die Oberfläche, ab und zu sprang ein Fisch. Sein Bauch glitzerte hell im Sonnenlicht, bevor er wieder eintauchte ins kühle Nass. Vorüberziehende Wolken spiegelten sich im Wasser, dessen Farbe unergründlich war und immer wieder wechselte.
Während Nia so dasass und schaute, schien sich die Farbe des Sees zu verändern. Genauer gesagt: über dem Wasser nahm sie Lichter wahr, welche verschiedenste Formen bildeten. Unaufhörlich bewegten sie sich auf und nieder, hin und her, bildeten Kreise.
Nia zögerte. War das bereits die Antwort des Sees?
Langsam stand Nia auf und näherte sich behutsam dem Ufer. Sie ging in die Knie und legte ihre eine, dann beide Handflächen aufs Wasser. Glücksgefühle durchströmten sie, als sie das weiche, kühle Nass auf ihrer Haut spürte.
Stück für Stück entledigte sie sich ihrer Kleider und setzte dann behutsam einen Fuss nach dem andern in den einladenden See.
Perlen gleich glitzerten die Wassertropfen auf ihrem Körper, während sie eintauchte, die Oberfläche des Wassers sanft und achtsam zugleich teilte. Dann schwamm Nia mit kräftigen Zügen hinaus in die Mitte des Sees. Noch nie, so dünkte es sie, war sie so sehr eins gewesen mit dem Wasser, noch nie so sehr im Einklang mit allem, das sie umgab und gleichzeitig mit sich selbst. Der See selbst schien sie zu umarmen.
Nia fühlte sich bedingungslos glücklich.