Wütend warf Nia den Pinsel in eine Ecke. Seit Tagen schon versuchte sie zu malen, was ihre inneren Augen gesehen hatten. Aber der Pinsel gehorchte ihr nicht. Wie von selbst entstanden auf der Staffelei zwar die Waldlichtung und die Hütte mit der Bank davor, aber die lustigen Sonnenkringel auf dem Dach, die ihr gleich zu Beginn aufgefallen waren, wollten ihr einfach nicht gelingen. Im Gegenteil. Dichte Wolken legten sich wie von Zauberhand über die Gegend und Regen schien zu fallen.
Nia seufzte, hob den Pinsel wieder auf und wusch ihn aus. Sie meinte zu verstehen, warum ihr das Bild nicht gelingen wollte. Seit dem Blick des Mannes mit dem Hut hatte sie zwar regelmässig ihre Flöte hervorgeholt und sie gespielt. Die Waldlichtung erschien auch jedesmal vor ihrem inneren Auge, nicht aber er selbst. Er schien wie vom Erdboden verschluckt. Nia war tief enttäuscht. Hatte sie sich denn alles nur eingebildet? War das seltsame Gefühl von Vertrautheit nichts anderes als ein Hirngespinst gewesen? Warum nur hatte sie denn solches Herzklopfen gehabt, wenn sie ihn sah? Noch vor kurzem hatte sie ja zu Thea gesagt, sie wisse, dass sie sich selbst vertrauen könne. Alles war ihr ganz einfach vorgekommen. Nia wischte sich die Farbe von den Händen und überlegte. Was denn eigentlich war ihr "einfach" vorgekommen?
Sie hatte das Gefühl, als würde sich ihr Hirn zusammenknoten. Kein klarer Gedanke hatte mehr Durchlass. Und ihre Gefühle lagen irgendwo tief im dunklen Keller. Nia löschte das Licht in ihrem Atelier und ging in ihr Zimmer. Lange blieb sie vor ihrer Flöte stehen. Ein seltsames Licht schien von ihr auszugehen, welches Nia magisch anzog. Sanft strich sie mit der Hand über das fein polierte Holz und befühlte die Papageienfedern, die etwas müde dazuliegen schienen. Der Gedanke, dass der Mann mit dem grossen Hut diese Flöte in seinen Händen gehalten hatte, bewegte sie.
"Gib nicht auf!" riet ihr Thea, die auch diesmal ein offenes Ohr für Nias Sorgen hatte. "Hast du dir übrigens schon überlegt, ob der Regen auf deinem Bild und das Nichterscheinen des Mannes einen Zusammenhang haben könnten?"
Einen Moment lang verschlug es Nia die Sprache. Dann lachte sie erleichtert auf.
Wie schon so oft hatte ihre Freundin ihr gezeigt, dass es oft ganz simple Gründe waren, die ihr vermeintlich das Leben schwer machten.
Sie holte ihre Flöte und begann zu spielen. Langsam entlockte sie ihr Ton für Ton, erzählte ihr von ihrem Kummer, ihrer Niedergeschlagenheit. Sie erzählte ihr von ihren Gefühlen der Vertrautheit, wenn sie sich auf der Waldlichtung wähnte, vor allem aber, wenn sie den Mann mit dem grossen Hut sah. Die Flöte schien leise zu lachen. Auf einmal fand sich Nia in einem Raum wieder, in dem ein riesiger Tisch stand. Da sass er, der Mann! Er trug keinen Hut mehr, sondern hatte eine Tasse in der Hand. Und er schien sie zu hören, denn er blickte genau in ihre Richtung. Nias Herz pochte laut, während sie allen Mut zusammennahm und weiterspielte.