Nia stand in dem Geschäft, in welchem sie ihre indianische Flöte erstanden hatte. Heute hatte sie aber kein Auge für all die Kostbarkeiten, welche hier ausgestellt waren. Ungeduldig wartete sie darauf, daß die Verkäuferin für sie Zeit hätte. Endlich war sie an der Reihe. "Können Sie mir bitte sagen, wer diese wunderschönen Flöten herstellt?" Die Verkäuferin schüttelte bedauernd den Kopf. "Es tut mir leid, das weiß ich nicht genau. Man hat mir gesagt, es sei ein Indianer, der einem kleinen Stamm angehöre und es sich zur Aufgabe gemacht habe, genau diese Art von Flöten herzustellen und zu verkaufen. Um welchen Stamm es sich handelt und wo er genau lebt, kann ich Ihnen aber beim besten Willen nicht sagen."
Die Enttäuschung stand Nia ins Gesicht geschrieben. Mitfühlend fragte die Verkäuferin: "Ist es denn sehr wichtig für Sie?" Nia nickte, wußte aber nicht recht, was sie der freundlichen Frau sagen sollte. Sie konnte ihr doch schlecht erzählen, warum sie sich so sehr für diesen Indianer interessierte. Es klang ja alles, nun ja, etwas verrückt, und sie hatte nur Thea eingeweiht. Bei Thea waren ihre Geheimnisse gut aufgehoben und sie wusste, dass ihre Freundin sehr gut verstand, was sie gerade erlebte.
Da hatte Nia eine Idee. "Sie haben doch diese Flöten irgendwoher bezogen. Dürfte ich bitte wissen, wer sie Ihnen geliefert hat?"
Die Verkäuferin lächelte in sich hinein. Die Hartnäckigkeit der jungen Frau gefiel ihr. Trotzdem durfte sie keine Auskunft geben. Diese Bitte musste sie ihr leider abschlagen.
Niedergeschlagen wandte sich Nia zum Gehen. Sie hatte bereits die Türklinke in der Hand, da rief die Verkäuferin sie zurück. "Hören Sie, ich darf Ihnen den Händler nicht verraten. Aber ich kann versuchen, für Sie herauszufinden, woher unser Lieferant seine Ware bezieht. Allerdings stelle ich eine Bedingung: Sie verraten mir den Grund ihres Interesses!" Sie lächelte Nia fröhlich an.
Nia erschrak. So freundlich und vertrauenswürdig diese Frau auch wirkte - wie würde sie reagieren, wenn Nia ihr erzählte, dass sie beim Flötenspielen Bilder einer fremden Landschaft, mehr noch, eines Mannes sah, der ihr Herz schneller schlagen liess? Für sie waren diese Erfahrungen ja auch noch sehr neu und ungewohnt, obwohl sie ihnen immer mehr vertraute. Die Begegnung am Vorabend hatte sie mehr als bestärkt, dass es Dinge gab, die mit dem Verstand nicht erfassbar waren.
"Ich will Sie zu nichts zwingen", sagte die Verkäuferin in ihre Gedanken hinein. Nias Reaktion war ihr nicht entgangen und sie hatte eine leise Ahnung... "Wenn Sie aber je das Bedürfnis haben zu reden, bin ich gern für Sie da!"
Nia nickte erleichtert und verliess das Geschäft.
Noch bevor Nia zu Hause ihre Flöte zur Hand nahm, spürte sie, dass heute etwas anders sein würde. Sie fragte sich, ob es klug sei, den Mann bereits wieder zu besuchen. Zögernd begann sie trotzdem zu spielen. Die Waldlichtung erschien und heute malte auch die Sonne wieder Kringel aufs Dach der Hütte. Die Bank davor aber war leer. Suchend blickte sich Nia um. Auf einmal befand sie sich wieder im Inneren der Hütte, aber auch hier war niemand zu sehen. Nia seufzte leise. Sie kam sich vor wie jemand, der unerlaubt in den Räumlichkeiten eines Fremden herumschnüffelt.
Auf einmal fiel ihr Blick auf den grossen Tisch. Zwei Adlerfedern lagen dort drauf. Sie waren wie der Flügelschlag eines Vogels angeordnet. Nia lächelte. Der Mann hatte ihr eine Nachricht hinterlassen.
Nia beschloss, weiterzuspielen, auch wenn der Mann ganz offensichtlich nicht zu Hause war. Sie hatte sich dieses Instrument ja aus Freude am Musik machen angeschafft. Bald schon verlor sie sich in der Welt der Töne. Dann öffnete sich der Blick und sie stand wieder auf der Waldlichtung. "Ich könnte eigentlich versuchen, einen Spaziergang zu machen und die Umgebung auszukundschaften", überlegte sie. Und bereits fand sie sich auf einem Weg wieder, der scheinbar oft begangen wurde. Zu beiden Seiten ragten die Bäume hoch zum Himmel, niedrige Büsche und unbekannte Blumen säumten den Pfad. Genüsslich und aufmerksam um sich schauend spazierte Nia durch den Wald. Es kam ihr vor, als spüre sie die Tannnadeln unter ihren blossen Füssen und als rieche sie den Duft von feuchtem Moos. Auf einmal tauchte ein Reh vor ihr auf. Ueberrascht blieb Nia stehen. Das Reh schaute sie aufmerksam an und verschwand dann wieder ruhig und ohne Eile im Unterholz. Nia setzte die Flöte ab. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Eine tiefe Sehnsucht begann sich in ihr breit zu machen.