Grübelnd sass Nia in ihrem Zimmer. Am Laptop schaute sie sich die Karte der USA an. Die Verkäuferin hatte ihr nur eine ungefähre geographische Angabe zum Wohnort des Indianers machen können. Allerdings war sie sich ihrer Sache nicht sicher gewesen.
Seufzend fuhr Nia den PC herunter und schloss ihn. Sie spürte, dass dies nicht der richtige Weg war für sie. Sie stand auf und betrachtete ihre Flöte. Wie immer schien ein sanftes Licht von ihr auszugehen. Nia strich mit ihrer Hand darüber und ging dann in ihr Atelier. Sie schloss die Augen und liess die Bilder noch einmal aufsteigen, die zu ihr gekommen waren, als sie mit Hilfe der Flöte ihren Spaziergang gemacht hatte in jenem Wald, der so weit weg war von hier. Dann begann sie zu malen.
Wie von selbst glitt der Pinsel über die Leinwand und bald schon fand sich Nia wieder zwischen den Bäumen und Sträuchern, die sie erkundet hatte. Nia malte und malte. Der Pinsel führte den Weg weiter, den sie damals gegangen war und sie folgte ihm ohne zu zögern. Auf einmal stand wieder das Reh mit seinen eindrucksvollen Augen vor ihr. Nia verstand, dass sie ihm folgen solle. Leichter Schwindel ergriff sie, während sie hinter ihm durch Gebüsche und Sträucher - ja, was denn? - nicht ging, sondern schwebte. Ab und zu stand das Reh still und versicherte sich, dass sie ihm immer noch folgte.
Langsam wurde es dunkel. Auf einmal bemerkte Nia, dass das Reh verschwunden war. Sie schwebte auch nicht mehr, sondern stand fest mit beiden Füssen auf dem weichen Waldboden.
Suchend blickte sich Nia um. Da entdeckte sie ein helles Licht hinter den Bäumen. Langsam ging sie darauf zu.
Als Nia aus dem Wald trat, bot sich ihr ein wunderschöner Anblick: Eine grosse Gruppe von Indianern sass um ein Feuer herum und schien ganz offensichtlich jemandem zuzuhören, denn alle Blicke richteten sich auf einen Mann. Nia stockte der Atem vor Freude: Es war der Mann mit dem Hut, der auf seiner Flöte spielte! Ihr Herz hüpfte und pochte. Aufmerksam schaute sie ihm zu und versuchte seine Erzählung zu verstehen. Auch diesmal merkte sie bald, dass von den Tönen seiner Flöte, die sie ja immer noch nicht hören konnte, Farben ausgingen, die Figuren und Formen bildeten. Sie erfuhr, dass er von ihr sprach, von seiner Sehnsucht, sie zu sehen, sie kennenzulernen. Auch sie spürte, wie alle anderen, dass er sein Herz öffnete.
Kurz entschlossen ging Nia auf das Feuer zu. Offenbar schien niemand sie zu sehen. Nur eine alten Frau musterte sie aufmerksam und nickte kaum merklich mit dem Kopf. Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen. Nia wandte sich wieder dem Mann mit dem Hut zu, welcher in diesem Moment seine Augen öffnete. Strahlend fanden sich ihre Blicke und tauchten ineinander ein.
In ihrem Atelier liess Nia den Pinsel sinken. Ein Aufruhr von Gefühlen und Gedanken überrollte sie und liess sie zittern. Atemlos liess sie sich auf einen Stuhl sinken.
Dann war er einfach da, ihr Entschluss.
Sie rief Thea an.
"Ich fliege nach Amerika! Ich muss ihn finden!"
"Du wirst ihn finden!" meinte Thea zuversichtlich.