"Warum bist du hier?"
Mit dieser Frage im Kopf wachte Nia am nächsten Morgen auf. Nachdenklich musterte sie die Decke ihres Hotelzimmers. Immer noch hatte sie keine Antwort auf diese Frage gefunden.
Ja, natürlich, sie war hergekommen, um diesen Mann mit dem Hut zu suchen. Sie hatte sich vorgestellt, ihn in Kürze zu finden und mit ihm eine Liebesbeziehung einzugehen. Nia ging auf, wie naiv sie gewesen war. Beinahe musste sie über sich selbst lachen. Offenbar hatte sie zu viele billige Liebesromane gelesen. Einfach so in ein riesiges, unbekanntes Land zu fliegen und sich vor das Zuhause eines Unbekannten stellen - so simpel war das Leben nicht, das gab es doch nur im Märchen! Zumal sie sich ja eigentlich bereits vor einigen Jahren vorgenommen hatte, sich auf keine Beziehung mehr einzulasssen. Umso mehr hatte sie sich der Kunst gewidmet, dem Malen und der Musik. Bis diese merkwürdigen Bilder aufgestiegen waren beim Spielen der Flöte. Auf eine für sie nun unerklärliche Art und Weise hatte sie eine tiefe Verbundenheit mit diesem Mann mit dem Hut gespürt. Allerdings, sinnierte sie weiter, war es nicht nur er, der sie anzog. Sie erinnerte sich an die erste Begegnung mit dem Reh im Wald hinter der Hütte und an die Sehnsucht, die sie danach erfüllte.
Auf einmal wusste Nia, warum sie auch hier war: Sie wollte dieses Gefühl wieder spüren, welches das Reh in ihr ausgelöst hatte!
Schwungvoll stand sie auf. Heute, so war sie sich sicher, würde sie herausfinden, wie die Reise weitergehen würde.
Auf dem Weg zum Flughafen fiel Nia ein, dass man die Frage "Warum bist du hier?" noch viel tiefer verstehen konnte. Sie konnte auch bedeuten: "Wozu lebst du eigentlich? Was willst oder was erwartest du vom Leben?" Nia verfiel in tiefes Grübeln. Ja, wozu lebte sie eigentlich? Bis jetzt hätte sie jedem, der ihr diese Frage stellte, gesagt, sie lebe für ihre Kunst, die Musik und die Malerei. Zugegeben, irgendwo in ihr lebte trotz allem immer noch die Hoffnung, einen Partner zu finden. Aber war das alles? Gab es dahinter oder besser gesagt darunter nicht noch mehr? Was genau war eigentlich der Sinn ihres Lebens? Nias Blick ging hinaus, schweifte über die Wolkenkratzer der riesigen Stadt, hinauf zum Himmel, der sich heute freundlich präsentierte und verlor sich dann im Gewimmel des Strassenverkehrs. War das hier das Leben? Was genau bedeutete eigentlich "Leben?"
Der Flughafen war riesengross. Trotzdem bewegte sich Nia heute sicher auf die Schalter jener Fluggesellschaft zu, welche sie in den Westen fliegen würde. Während Nia in der Schlange anstand und wartete, fiel ihr Blick auf eine Postkarte, die auf dem Boden lag. Darauf war ein Reh abgebildet. Nia bückte sich und hob die Karte auf.
"Achte auf die Zeichen!" hatte das Reh im Traum damals zu ihr gesagt. Ob dies ein solches Zeichen war? Mutig buchte Nia ihren Flug.
Als sie wenig später das Flugzeug betrachtete, welches sie in die Indianergebiete fliegen sollte, fiel ihr auf, dass es von warmen Farben umgeben war. Nia atmete auf. Sie spürte, wie ihr Vertrauen zu sich selbst wuchs.
Als sie ins Flugzeug stieg, beschloss sie, der Frage nach dem Sinn ihres Lebens nachzugehen.
Patric war immer noch mit den Arbeiten an seiner Hütte beschäftigt. Innerlich verspürte er aber eine grosse Unruhe. Das schlechte Gewissen plagte ihn. Er wusste, dass er die unbekannten Frau tief enttäuscht hatte. Immer wieder fragte er sich, wo sie wohl jetzt war in seinem grossen Heimatland. Er nahm an, dass sie nicht wusste, wo genau er lebte. Ihre Flöte hatte er nicht mehr gehört seit jenem Abend, an dem sie ihm mitgeteilt hatte, sie sei angekommen und möchte ihn besuchen. Und doch - er musste damals ehrlich sein. Er hatte sich überrumpelt gefühlt. Die Vorstellung, dass sie auf einmal auf der Waldlichtung vor seiner Hütte stehen würde, hat ihn tief verwirrt. Verwirrt und verunsichert. Patric fragte sich, warum er sich denn so sehr verunsichert gefühlt hatte. Wenn er früher eine - zugegebenermassen oberflächliche - Beziehung eingegangen war, war er nie verunsichert gewesen. Ihm fiel auf, dass er sich stets eine Art "Ausgang", eine Hintertür, offen gehalten hatte. Vermutlich dauerten deshalb seine Bekanntschaften nie sehr lange und blieben im Grunde genommen unbefriedigt. Denn sie hatten ihn nie in seinem Innersten berührt. Oder hatte er sich gar nicht berühren lassen?
Diese Frau aber weckte in ihm Gefühle, die er nicht gekannt hatte. Sie rührte an Ebenen, welche ihm selbst bisher nur teilweise erschlossen waren. Patric stellte erstaunt und etwas erschrocken fest, dass er sich selbst gar nicht richtig kannte.
Er beschloss, sich selbst genauer kennenzulernen. Gleichzeitig wollte er aber den Kontakt zu dieser Frau nicht abbrechen lassen.
Er holte seine Flöte.