„Siehst du die Frau da drüben?“ Mit ihren dürren Fingern zeigte die Frau zur Garagenauffahrt auf der anderen Straßenseite.
„Die mit der Sonnenbrille?“ So dünn wie die Finger der einen waren, war die Stimme der anderen.
„Ja, genau die. Luisa van Thalen. Jede Nacht ist ein Gezeter in dem dem Haus, das glaubst du nicht!“ Kopfschüttelnd stützte die Frau beide Hände auf ihren Gehstock. „Und dabei hat sie so einen netten Mann! Anwalt. Sehr patent, zuvorkommend und äußerst höflich.“ Der sanfte Sommerwind spielte mit den dünnen grauen Strähnen, die unter dem bunten Kopftuch heraushingen. „Und schau dir erst das Haus an. Alles vom Feinsten!“
„Ja“, stimmte ihr die andere nickend zu. „Aber die jungen Dinger sind mit nichts zufrieden!“ Sie drehte das Hörgerät lauter, damit sie ihre Freundin trotz des Kindergeschreis besser hören konnte. So ein Spielplatz war ja eine feine Sache, aber so nah an den Wohnhäusern? Doch daran würde sie nichts mehr ändern können. Und immerhin konnte sie ihr Hörgerät einfach ausschalten, tröstete sie sich. Wieder schaute sie zu der jungen Frau, die gerade schwungvoll eine Tennistasche auf die Rückbank ihres Sportwagens warf. Die Metallicfarbe strahlte mit der Sonne um die Wette. „Als wir so jung waren, mussten wir auf dem Feld arbeiten. Keine schicken Autos, keine Freizeit und schon gar kein Geld. Dafür einen Drachen als Schwiegermutter und einen Sack voll Kinder.“ Sie liebte jedes einzelne, obwohl sie insgeheim froh war, dass sie schon lang nicht mehr daheim wohnten.
„Von so einem Leben hätten wir nicht einmal zu träumen gewagt“, seufzte ihre Freundin. Mürrisch sahen die beiden Alten dem silbernen Flitzer nach, der röhrend durch das Wohngebiet raste.
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„Luisa! Mein Gott, komm rein!“ Tanja zog ihre Freundin in die Wohnung und riss ihr die Brille herunter. „Wieder mal!“ Sie ballte die Fäuste und spürte ihren Blutdruck steigen. Der sanfte Luftzug des Ventilators konnte ihre Wut nicht abkühlen.
Hastig schubste Tanja ein paar Zeitungen vom Küchenstuhl und drückte Luisa auf den freien Sitz. Dann holte sie eine Packung Tiefkühlerbsen aus dem Gefrierfach. „Leg dir das auf dein Auge!“, kommandierte sie. „Brauchst du noch mehr?“ Tanja wünschte sich ein Nein, doch sie wusste, dass sie diese Antwort nicht kommen würde. „Was war es diesmal?“
Luisa stützte sich mit beiden Händen auf dem Küchentisch und drückte die Erbsenpackung fest gegen das hämmernde Auge. Tränen hatte sie schon lange nicht mehr. „Nachdem er gegessen hatte. Der Sauerbraten war zu heiß und nicht sauer genug.“ Achselzuckend schaute sie zu Tanja auf. „Hätte ich die Tollkirschen besser in den Nachtisch geben sollen?“