In der Unterwelt- Die Flut
Tatsächlich gelangten die Geschwister unbeschadet in unmittelbare Nähe des finsteren Palastes und hier war die Atmosphäre noch um einiges schwerer, als sie auf der Mauer gewesen war. Sie keuchten beinahe auf, als sie dort ankamen und gingen sofort zwischen den vielen Trümmern, die hier herumlagen, in Deckung. Um sie herum wütete ein schrecklicher Krieg. Geister der verschiedensten Herkunft, gingen wie Berserker aufeinander los und Dämonen trieben hier, in grosser Zahl, ihr Unwesen. Einige waren geflügelt, einige nicht. Es herrschte ein heilloses, beängstigenden Durcheinander und überall brannten dämonische Feuer. Doch tatsächlich wurden die Geschwister von niemandem beachtet. Der Rachegeist hatte, zumindest in diesem Punkt, die Wahrheit gesagt. Ja, wo war der Geist eigentlich? Er hatte sie nur kurz abgeladen und war dann sogleich wieder davongeflogen. Nun waren sie also auf sich gestellt.
«Wir müssen nochmals mit Malek Kontakt aufnehmen und ihn informieren, dass wir schon sehr nahe beim Herrn der Finsternis sind. Unser Freund sollte sich mit der Verstärkung, die er scheinbar gefunden hat, beeilen, bevor uns der finstere Herrscher noch entdeckt.» sprach Ben.
Sie konzentrierten sich so gut es, bei diesem schrecklichen Lärm, eben ging und riefen im Geiste nach ihrem Freund.
«Malek! Wir sind bereits beim Palast des finsteren Herrschers. Einer der Rachegeister hat uns runtergebracht.
«Was ihr seid schon dort!» antwortete ihnen Maleks beunruhigte Stimme, auf telepathischem Wege.
«Ja, es war leichter als wir dachten. Wusstest du, dass die Geister und Dämonen uns hier gar nicht sehen können. Scheinbar ist unsere Schwingung zu hoch und entzieht sich ihrer Wahrnehmung.» Eine Weile gab Malek keine Antwort, als ob er nachdenken würde. Dann sprach er:
«Ja! Das macht eigentlich Sinn. Die Geister in den innersten Höllenkreisen sind so niedrig schwingend, dass sie höher schwingende Wesen, gar nicht mehr wahrnehmen können. Das bietet uns einen grossen Vorteil. Allerdings gibt es da einen Haken. Ich dachte eigentlich, ihr wärt auf der Mauer besser aufgehoben, denn es wird bald eine ungewöhnliche Flut über die Teufels- Stadt hereinbrechen und ihr seid jetzt ausgerechnet am tiefsten Punkt selbiger.»
«Verdammt!» fluchte Benjamin «jetzt ist der Rachegeist schon wieder weg. Sonst hätten wir ihn bitten können, uns an einem erhöhten Punkt abzusetzen.»
«Was sollen wir jetzt machen?» fragte Pia betroffen. Benjamin überlegte angestrengt und blickte sich um. Es wollte ihm einfach keine gescheite Lösung einfallen.
«Könnt ihr euch vielleicht in irgendeinen abgeschirmten Raum begeben?» fragte Malek und sie spürten seine tiefe Besorgnis.
«Nein, ich wüsste ehrlich gesagt nicht wo. Der Herr der Finsternis, darf uns nicht zu früh entdecken.»
«Das ist gar nicht gut, dann kann ich das mit der Flut wohl vergessen.»
«Nein!» sprach Pia «es muss irgendwie anders gehen…»
Ohne Vorwarnung lief das Mädchen aus ihrer Deckung und winkte wild, in Richtung der Mauern, die den Palast umgaben. Dort oben hielten gleich mehrere Rachegeister Wache.
«Nein Pia!» sprach Benjamin entsetzt «sie hat ihre Deckung verlassen!»
«Wie bitte? Was um alles in der Welt tut sie da?»
«Sie scheint die anderen Rachegeister auf sich aufmerksam machen zu wollen. Oh, oh wenn das nur gutgeht! Ich muss zu ihr! Halte deine Verstärkung bereit, bis ich mich wieder melde! Ich sage dir, wann es losgehen kann!»
Der Junge lief nun seiner Schwester hinterher, währende er instinktiv versuchte, den Waffen der kämpfenden Heere, auszuweichen. Tatsächlich nahm ihn aber niemand wahr und auch die Waffen glitten einfach durch ihn hindurch. Er war wie ein Geist, der unsichtbar für die Augen dieser niedrigen Seelen blieb und von ihren Waffen auch nicht verletzt werden konnte.
Pia winkte noch immer wild und tatsächlich wurden die Rachegeister jetzt auf sie aufmerksam. Einer von ihnen kreischte laut und flog, in rasend schnellem Tempo, zu ihnen herunter. Den Geschwistern blieb nichts anderes übrig, als ihre Armen zu erheben, um sich zu ergeben. Der furchterregende, ebenfalls weibliche Rachegeist, baute sich mit bedrohlich, funkelnden Augen vor ihnen auf und seine Dolch-bewehrten Schwingen, schlugen wild. Er trug ein Schwert bei sich und hielt dessen Klinge nun den Geschwistern an die Kehle. Diese aber bekämpften ihre Furcht und Benjamin sprach in Gedanken zu der Wächterin.
«Du kannst uns nichts tun, denn wir sind reinen Herzens.» Der Rachegeist musterte die beiden argwöhnisch, steckte dann jedoch seine Waffe weg.
«Es sieht tatsächlich so aus, als ob ich euch nichts tun könnte. Dennoch will ich sofort erfahren, was ihr hier macht und wie ihr hier heruntergekommen seid.»
Die Geschwister erklärten knapp was sie wollten und wie sie hergekommen waren.
«Eine meinesgleichen, hat euch also geholfen?»
«Ja, sie erkannte wohl, dass wir ein heeres Ziel verfolgen,» sprach Benjamin «Wir brauchen diesen Medaillonsviertel unbedingt! Er ist hier am völlig falschen Ort. Doch bald wird eine Flut kommen und wir müssen uns irgendwo, auf einem erhöhten Punkt, in Sicherheit bringen. Darum bitten wir dich, uns auf die nahe liegende Mauer zurück zu tragen.»
«Eine Flut wird kommen? Was soll das heissen?»
«Nun… wir wissen es auch nicht so genau. Aber wir sollten vorbereitet sein. Es kann auch euch nur dienen, wenn ihr ungefähr wisst, was auf diese Stadt hier zukommt. Vielleicht tut eine Reinigung selbiger, mal ganz gut und ihr habt ja nichts zu befürchten, da ihr Flügel besitzt. Sterben kann hier eh niemand mehr, aber die Flut wird bestimmt für ein Durcheinander sorgen und so können wir den Medaillonsviertel vielleicht besser an uns bringen.»
Der Rachegeist musterte die Geschwister weiterhin mit finsterer, aber auch irgendwie interessierter Miene.
«Nun…» meinte er dann schliesslich: «Ich sehe, dass eure Aufgabe von Wichtigkeit ist. Ich kann jedoch nicht so wirklich nachvollziehen, was euch zu dem Wahnsinn bewegte, hierher an diesen aller- finstersten Ort zu kommen, nur um einige unbedeutende Kreaturen, wieder nach Hause zurück zu bringen,»
«Es sind für uns keine unbedeutende Kreaturen!» sprach Pia. «Jegliches Leben ist wertvoll!»
«Auch wenn ich das etwas anders sehe…, Eure Leidenschaft, Liebe und Entschlossenheit, ehrt euch. Darum werde ich euch nochmals helfen. Aber damit hat sich's dann. Unsere Geduld sollte man nicht überstrapazieren.»
«Vielen Dank!» sprach Pia dankbar und noch während sie und ihr Bruder von der Wächterin in die Lüfte hinauf getragen wurden, sprach Benjamin in Gedanken zu Malek «Es ist gut, du kannst loslegen!»
«Es ist so weit!» rief Malek «Balorion, du kannst nun deine Muskeln etwas spielen lassen! Ruf all deine Getreuen vom ganzen Blut Meer hierher, wir werden für eine Flut sorgen, die der Herr der Finsternis, niemals vergessen wird!» Balorion stiess einen lauten Triumphgeschrei aus, das die ganz Umgebung erzittern liess und dann versammelten sich, auf seinen Befehl hin, all die bleichen, weissen Kreaturen, im näheren Umkreis der Unterwasserhöhle.
Immer mehr wurden es, sie schlossen sich zu verschiedensten Formen zusammen, brachten das blutige Wasser des Meeres, in Wallung. Malek sass auf einer der gallertartigen, aus tausend einzelnen Lebensformen bestehenden Kreatur und schaute beeindruckt zu, wie sich die blutigen Wellen um ihn herum, höher und höher auftürmten.
«Und jetzt los!» schrie er und in diesem Augenblick setzte sich die ganze Masse aus glibbrigen, weissen Leibern und roter Flut, mit rasender Geschwindigkeit, Richtung Teufels-Stadt, in Bewegung! Laut erklang dabei das dröhnende, triumphierende Lachen des uralten Gottes Balorion. «Gut so!» schrie er «Los meine Getreuen, wir ziehen wieder in den Krieg!!»
Benjamin und Pia sahen, noch während sie mit dem Rachegeist über der Stadt kreisten, wie sich unten beim Meer, etwas zusammenbraute. Das blutige Wasser zog sich auf einmal, wie bei einem Tsunami, zurück und dann kam sie: Die grässlichste Springflut, welche ein menschliches Auge jemals gesehen hatte! Auf ihr ritten schreckliche, gallertartige Monster. Selbst die Rachegeister erschraken im ersten Moment, ab deren Anblick.
«Eine Flut nähert sich!» hörten es die Geschwister irgendwo schreien. Die Rachegeister erhoben sich in die Lüfte und schauten den Schrecken, die da auf sie zu kamen entgegen.
«Ein wahrlich gewaltiger Anblick!» meinte die Wächterin, welche sie trug, erstaunlich fasziniert.
«So etwas hatten wir seit Äonen nicht mehr. Wir bleiben lieber hier oben.»
«Ja… das ist vermutlich eine ganz gute Idee,» stimmte Pia, mit leicht zitternder Stimme, zu.
«Unglaublich, was Malek da wieder bewerkstelligt hat. Wie ist ihm das nun wieder gelungen.»
«Er hatte vermutlich Hilfe…» meinte der Rachegeist «von einem uralten Gott, der unten im Blut- Meer eingesperrt sein soll.»
Die Geschwister konnten die Unterhaltung nicht mehr weiterführen, denn die gewaltige Springflut, krachte nun gegen die Mauern, des ersten Stadtringes. Sie türmte sich höher und höher auf und schwappte schliesslich, mit unglaublicher Wucht, über die Mauern. Auf ihrem Wege hinterliess sie Zerstörung und Chaos. In Windeseile war alles überschwemmt.
«Da ist Malek!» rief Pia «Schau er reitet auf einem dieser Wesen. Schauerlich sieht es aus. «Malek!» riefen sie «Malek!» Dann wandten sie sich an den Rachegeist und sprachen: «du kannst uns jetzt absetzen, vielen Dank für deine Hilfe.»
Der Rachegeist tat wie ihm geheissen. Malek liess sich nun ebenfalls auf der Mauer, worauf sich die Kinder befanden absetzen, während das blutige Wasser alles bis hinauf zu den höchsten Zinnen der Stadt flutete. Die weisslichen Kreaturen, lösten nun ihre Verbünde immer mehr auf und verteilten sich überall in der verdammten Stadt, deren Feuer und Lavaflüsse nun alle, nach und nach, ausgingen. Sie machten sich über die Wesen her, die hier vorhin noch ihre Schlachten ausgefochten hatten.
«Wir müssen jetzt sofort runter ins Schloss!» rief Benjamin.
«Da können euch meine neuen Verbündeten helfen!» Malek rief einige Worte, in einer fremden, kehligen Sprache und sogleich formierten sich nochmals einige von Balorions Getreuen und bildeten ein quallenartiges Gebilde, um die drei Freunde herum. «Bringt uns runter!» sprach Malek und dann tauchten sie hinab in die Tiefe!
Bald schon erreichten sie die Räumlichkeiten des finsteren Schlosses. Sie schauten sich vorsichtig um, sahen jedoch nichts. Langsam und vorsichtig glitten sie weiter, das blutige Wasser trübte ihre Sicht, aber dann, erblickten sie ein helles, bläuliches Leuchten vor sich. «Der Medaillonsviertel… er ruft nach uns!» flüsterte Pia.
«Ja das muss er sein! Schnell, bevor es der Herr der Finsternis merkt!» Sie schwammen auf das Leuchten zu und erblickten tatsächlich den Medaillonsviertel des Feuers, welcher, wie damals der silberne Pfeilbogen, über einem Art Altar schwebte «Schnell nimm ihn!» rief Ben seiner Schwester zu. Das Mädchen, streckte ihre Hand aus und griff nach dem Viertel. Dieser leuchtete nochmals kurz auf, als wolle er sie begrüssen und Pia steckte ihn sofort in ihre Hosentasche.
«Jetzt aber weg hier!» rief der Junge.
«Nein wartet! Ich brauche hier noch etwas anderes.» hielt sie Malek auf.
«Was denn?»
«Einen mächtigen, goldenen Schlüssel. Er sollte auch hier im Thronsaal sein, in einer schwarzen Truhe. Es ist der Schlüssel zum Abgrund, in dem Balorion eingesperrt ist.» «Balorion? Ist das nicht dieser… finstere Gott, von dem du uns erzählt hast. Der dem die schwarzen Druiden dienen?»
«Ja, er hat mir geholfen. Aber dafür musste ich ihm versprechen, ihn zu befreien.»
«Aber das kannst du doch nicht tun!» entsetzte sich Benjamin.
«Ich muss, ich hab es ihm versprochen. Aber wir haben keine Zeit mehr, lange darüber zu diskutieren. Haltet Ausschau nach dieser Truhe!»
Die Geschwister wollten noch einmal protestieren, doch Malek war fest entschlossen und so suchten sie weiter.
Ihre Anspannung war gross, denn man wussten nie, wann der Herr der Finsternis wieder zurückkehrte. Die Flut hatte ihn wohl aus seinem Palast getrieben, aber er würde bestimmt nicht lange brauchen, um sich seine Gefilde zurück zu erobern.
Endlich fanden sie die Truhe! Sie war jedoch verschlossen. «Wir müssen sie hier rausbringen, schnell!» rief Malek und packte sie.
«Weg hier!» befahl er den Wesen, die die Qualle bildeten und sogleich schwammen diese in rasender Geschwindigkeit, wieder an die Oberfläche zurück.