Das Gasthaus zum goldenen Gral
Schließlich war der Wald zu Ende und vor ihnen lag eine hügelige Ebene. Ab und zu kamen sie an eine alte Steinmauer, die sie überkletterten oder umgingen. Immer hielten sie sich Richtung Westen, wo die Sonne nun immer tiefer am Horizont stand. Zurückgehen konnten sie nicht mehr. Jetzt galt es so schnell als möglich eine Unterkunft für die Nacht zu finden. „Worauf haben wir uns da nur eingelassen?“ murmelte Benjamin vor sich hin und blickte etwas ratlos auf das Kaninchen, dass friedlich in seinem Korb saß und ihn mit großen, dunklen Augen musterte. Ab und zu, wenn das Licht in einem besonderen Winkel auf deren Iris fiel, glaubte Benjamin einen smaragdenen Schimmer darin zu entdecken. Es war überhaupt ein seltsames Tier. Irgendwie erschien es dem Jungen, als versuche es ihm etwas zu sagen. Aber was? Er dachte an die Worte der Kräuterfrau: „Wenn ihr der Smaragd Lady helfen wollt, dann hütet dieses Häschen wie euren Augapfel!“ Einfacher gesagt, als getan. Benjamin wusste nicht genau was so ein Tier brauchte. Außerdem war es mit der Zeit etwas umständlich den Korb immer vor sich her zu tragen. Dennoch...er wusste, es war von großer Wichtigkeit, dass er gut zu diesem Geschöpf schaute. „Meinst du wir könnten es etwas zum Grasen in die Wiese setzten?“ fragte er seine Schwester „oder meinst du es läuft dann weg?“ „Ich weiß nicht, doch vielleicht müssen wir es riskieren. Es hat sicher Hunger. Wir müssen einfach gut aufpassen. Dort oben auf dem Hügel hat es einen Baum. Ich bin außerdem auch sehr müde und hungrig. „Aber nur eine kurze Pause, wir sollten das nächste Städtchen noch vor Einbruch der Nacht erreichen.“ „Eigentlich schon verrückt! Jetzt sind wir schon so weit gegangen und...eigentlich wissen wir gar nicht, was uns erwartet. Wir müssten doch Morgen wieder zu Hause sein, sonst machen sich Mum und Dad große Sorgen.“ „Tja, daran habe ich auch schon gedacht, doch irgendein Gefühl sagt mir, dass wir nicht einfach aufgeben dürfen. Du hast ja gehört was die Kräuterfrau sagte. Wenn an dem was sie erzählte wirklich was dran ist...Aber machen wir erst eine Pause! Dieser Baum muss uralt sein, so knorrig wie der aussieht.“
Sie kletterten hinauf auf den Hügel und setzten sich in den kühlenden Schatten des Baumes. Ein leichter Wind blies und ein würziger Duft lag über den frisch ergrünten Auen. Da und dort wuchsen Blumen und Heidekraut bildete großflächige, blühende Kissen.
Sie nahmen das Kaninchen aus dem Korb und setzten es vorsichtig ins Gras. Es schien keineswegs die Absicht zu haben wegzulaufen, senkte seinen Kopf mit den weichen, spitzen Ohren und begann zu grasen.
Die Turner Kinder waren erleichtert und lehnten sich gegen einige Stein- Monolithen, die herumlagen. Es war ein besonderer Ort hier, das fühlten sie sogleich. Ein tiefer Frieden kehrte in sie ein und auf einmal wurden sie immer müder und müder. Es war als lege sich der Schlaf, wie eine samtene Decke über sie. Nach einigen vergeblichen Versuchen die Augen offen zu halten, fielen ihnen dies zu und sie glitten hinüber in einen seltsamen Dämmerschlaf...
Auf einmal drang ein eigenartiges Licht durch ihre geschlossenen Lider! Mittlerweile war es dunkel geworden und sie öffneten erstaunt die Augen. Zuerst erschraken sie und schauten sich nach dem Kaninchen um. Dieses saß immer noch an derselben Stelle, doch auch seine tiefgründigen Augen, waren auf das Licht gerichtet, dass nun an Intensität zunahm. Es wirkte wie ein gleißend weißer Wirbel, der aus dem Baum heraus zu strömen schien. Sie sprangen auf und starrten fassungslos auf diesen Wirbel, der nun immer mehr eine humanoide Form annahm.
Und dann... stand auf einmal eine Dame vor ihnen! Sie war von überirdischer Schönheit. Noch nie zuvor hatten Pia und Benjamin so etwas Wundervolles gesehen. Sie war gekleidet in einen langen, hellblauen Mantel und schien direkt aus der Natur selbst geboren zu sein. In der rechten Hand trug sie einen langen Holzstab, der mit einem himmelblauen Stein geschmückt war. Im Innern dieses Steines, schien noch ein Wiederhall des Lichtes, aus dem die Dame getreten war, zu glimmen. Es umgab auch sie immer noch wie eine leuchtende Aura. Als sie ihre veilchenblauen Augen öffnete und die Jugendlichen ansah, war es, als ströme ihnen dieses Licht entgegen und umfange sie ganz -eine Welle aus Reinheit und Liebe! Wie gelähmt standen die Turner Kinder da und musterten die magische Erscheinung. Ein glitzerndes Band war um deren Haupt geschlungen und goldblonde Locken fielen ihr über Schultern und Rücken.
Mit einer Stimme, die an helle Glocken erinnerte, begann sie zu sprechen: „ Fürchtet euch nicht! Mein Name ist Isobia- die Wandernde. Ich bin eine Fee und gekommen, um euch zu helfen. Euer Vertrauen hat euch bis hierhergeführt und deshalb sollt ihr belohnt werden. Wir werden zusammen eine weite Reise antreten.“ „Aber...widersprach Pia „wir müssen doch bis Morgen wieder zu Hause sein, sonst sterben unsere Eltern vor Sorge!“ Isobia lächelte verständnisvoll und erwiderte: „Keine Angst Pia, es ist für alles gesorgt. Eine wichtige Aufgabe steht euch bevor. Wie ich sehe, habt ihr gut zu eurem neuen Schützling geschaut, “ dabei blickte sie auf das Kaninchen. Benjamin meinte beschämt: „Eben nicht. Wir sind sogar eingeschlafen, einfach so...“ Wieder lächelte die Dame ihr bezauberndes Lächeln: „Nun ja...ich dachte, ihr könntet etwas Ruhe gebrauche, bevor ihr euch auf die große Reise begebt.“ „Du...hast uns einschlafen lassen?“ fragte Pia „aber das Häschen hätte uns davonlaufen können.“ „Es läuft euch nicht davon“, erwiderte Isobia mit geheimnisvoller Stimme. „Bestimmt läuft es nicht davon. Es weiß, dass ihr es beschützt.“ „Also ich weiß nicht so recht...,“ murmelte Benjamin. Die Wandernde überhörte ihn und meinte stattdessen: „Nun setzt euern Schützling aber wieder in den Korb, damit wir aufbrechen können!“ Mit diesen Worten hob sie den Stab- vermutlich einen Zauberstab, in die Höhe und beschrieb mit ihren Armen einen Bogen. Es sah zuerst aus, als würde sich zwischen dem Stab und ihrer linken Hand ein kleines Gewitter entladen, dann leuchtete ein gleißender Lichtstrahl auf, der die Geschwister einen Moment lang so blendete, dass sie die Augen kurz schließen mussten. Als sie sie wieder öffneten, befand sich an der Stelle wo Isobia gestanden hatte, eine riesige, schneeweiße Taube. Sie war so groß, dass die Geschwister beide zwischen ihren Schwingen Platz fanden. „Steigt auf!“ befahl sie. „Es geht los, haltet euch gut fest! Es wird ein weiter Flug.“
Als die Geschwister bereit waren, erhob sich die Taube in den nächtlichen Himmel. Es war ein seltsames und zugleich berauschendes Gefühl. Immer höher stiegen sie...Bald war der Boden nicht mehr zu sehen. Es war, als umfingen sie die nächtlichen Schatten wie ein samtblaues Tuch.
Unter ihnen glitten nun die Lichter einer Stadt dahin. Sie schienen wie winzigkleine Glühwürmchen. Alles kam ihnen vor wie ein seltsamer Traum aus dem sie glaubten irgendwann wieder zu erwachen. Doch es war kein Traum. Es war Realität, das spürten sie an dem Wind der ihnen um die Ohren pfiff und dem Rauschen der mächtigen Taubenschwingen, dass sie stets begleitete. Sie flogen über endlos scheinende Felder, Wiesen und Wälder. Ab und zu erschien wieder eine Stadt oder ein Dorf, dass durch seine Lichter zu erkennen war.
Schließlich aber, erschien eine einzige große Fläche unter ihnen, die keinerlei Schattierungen mehr aufwies. Als der Halbmond schließlich hinter den Wolken, die bisher den Himmel bedeckt hatten hervorkam, erkannten sie, was diese Fläche war. „Es ist das Meer!“ schrie Pia. „Wir sind über dem Meer!“ „So ist es“, antwortete die Taube. „Wir fliegen zusammen nach Irland...“
Pia und Benjamin bekamen nicht mehr die ganze Reise mit. Erneut übermannte sie eine wohlige Müdigkeit und wieder fielen sie in einen Schlaf, einen Schlaf voll mit wundervollen Träumen und stets beschützt von der Magie der großen Wanderfee Isobia!
Als sie erwachten, landete diese gerade auf einer weichen, hellgrünen Wiese. Einige Kühe weideten in der Nähe und blickten erstaunt in ihre Richtung. Die Geschwister stiegen mit steifen Gliedern vom Rücken des Riesenvogels, während sie sich noch den letzten Rest Schlaf aus den Augen rieben. Der Korb, mit dem Kaninchen, den sich Benjamin vorsorglich mit seinem Schnürsenkel an die Handgelenke gebunden hatte, war unversehrt. Sie hoben den Deckel, um sich auch vom Wohlbefinden ihres Schützlings zu überzeugen, alles war in Ordnung. Mittlerweile war auch die Taube verschwunden und Isobia stand wieder in ihrer ursprünglichen Gestalt vor ihnen.
Noch bevor die Geschwister sie mit hundert Fragen bestürmen konnten, sprach sie: „Wir sind hier, wie gesagt in Irland, einem Land, dessen Magie mindestens so alt ist wie die eurer Heimat. Das ist erst der Beginn eurer langen Reise. Geht immer weiter mit dem Schein der Morgensonne. Dann werdet ihr schließlich einen kleinen Weiler erreichen, der nur aus wenigen Häusern und aus einem Gasthaus besteht. Dieses Gasthaus heißt Das Gasthaus zum goldenen Gral. Es trägt nicht umsonst diesen Namen. Ihr werdet dort auf seltsame Wesen treffen, die aus einer andern Welt als dieser hier stammen. Dort erwartet euch ein Freund. Sein Name ist Lumniuz. Er ist klein, trägt braune Lederkleider, eine spitzen Hut und um den Hals einen hellblauen, schimmernden Kristall. Er hilft euch weiter, denn die Zeiten sind unsicher geworden. Es treiben sich auch eine Menge finstere Gestalten hier herum. Sie tragen schwarze Kapuzenmäntel, um ihre schreckliche Erscheinung zu verbergen. Doch ihr werdet sie an ihrer düsteren Ausstrahlung sofort erkennen. Hütet euch vor diesen Dienern der Schatten! Sie werden bald überall sein und ihnen wollt ihr nicht begegnen...“ Die Kinder horchten auf. Wo hatten sie diesen Satz schon mal gehört? „Diese Schatten...,“ fuhr Isobia leise fort. „Werden besonders auf euch Jagd machen, denn sie wissen um eure Wichtigkeit.“ „Aber...warum sind wir denn so wichtig?“ fragte Benjamin etwas ungeduldig, angesichts dieser ständigen Geheimniskrämerei. „Das erfahrt ihr noch früh genug. Unsere Wege trennen sich hier. Jedenfalls vorläufig. Ich will euch jedoch noch ein Geschenk machen. Es wird euch irgendwann von Nutzen sein.“ Ein golden glänzendes Säckchen, erschien auf dem Boden vor den Kindern. Benjamin hob es auf. Es war gefüllt mit glitzerndem Staub. Bevor er und Pia jedoch fragen konnten, wozu dieses Geschenk gut sei, leuchtete erneut ein Lichtstrahl auf und Isobia war verschwunden...