Die Zwerge
Die Geschwister schwammen zurück ans Ufer und suchten sich sogleich einen schönen Platz zum Meditieren. Sie konzentrierten sich auf den Zwerg Sturmius, den sie ja schon einmal gesehen hatten und kurz darauf fanden sie sich wieder in einem geheimnisvollen, versteckten Bereich des Waldes, der umgeben war mit dichtem Unterholz. Als sie erschienen, ertönten erschrockene Schreie. Einige in Erd- oder Steinfarben gekleidete Männer, alle um die zwei Ellen gross, ein jeder mit einer vorwiegend roten Zipfelmütze auf dem Kopf, liefen nach allen Seiten davon. «Habt keine Angst!» rief Benjamin schnell. «Wir wollen euch nichts Böses. Wir sind Pia und Benjamin Turner und kommen aus dem Menschenreich. Wir sind mit Sturmius eurem Botschafter verabredet.» «Alles in Ordnung! Sie sprechen die Wahrheit!» rief eine, ihnen bereits aus dem Gasthaus zum Goldenen Gral bekannte, Stimme. Sturmius, diesmal in ein braunes Gewand gekleidet, trat aus einem der vielen pilzförmigen Häuser, die alle rote Dächer besassen. Er wurde von einem etwas älteren Zwerg begleitet. Er war, mit etwas mehr als zwei Ellen (eine Elle ist hier ca. 50cm), etwas grösser gewachsen, als für Angehörige seines Volkes üblich. Auf seinem Kopf trug er eine rote Mütze, mit einem schwarzen, samtenen Band verziert. Seine restliche Kleidung war von hellgrauer Fabe und wie jene von Sturmius, ziemlich unauffällig; abgesehen von einem roten Mantel, den er über der Schulter mit zwei silbernen Fibeln befestigt hatte. Ausserdem trug er, als Zeichen seines hohen Standes ein silbernes, mit feinen Gravuren verziertes Medaillon um den Hals, in dessen Mitte sich ein kreisrunder, goldbrauner Stein befand. «Da sind sie ja!» rief er voller Freude und schüttelte den Kindern warm die Hand. «Ich habe eure Ankunft schon sehr früh vorausgesehen. Mein Name ist Sebius. Ich bin Seher und Häuptling des Stammes der Waldkinder. Seid herzlich willkommen!» «Vielen Dank! Wir hörten von Lumniuz dem Waldgnomen, dass ihr etwas über einen Teil des Medaillons der vier Gewalten wisst.» «Das stimmt,» meinte nun Sturmius. Als wir, vor einiger Zeit mit den Riesen verhandeln wollten, haben sie uns bedroht und eine Weile gefangen gehalten. Damals entdeckten wir, in einem ihrer Räume den Medaillonsviertel.» «Und du bist ganz sicher, dass es das Original ist?» «Ja. Ich habe nähere Recherchen darüber angestellt, später, als wir wieder fliehen konnten. Sogar eine Zeichnung habe ich davon angefertigt. Schaut hier!» Er holte ein zusammengerolltes Pergament hervor und darauf war tatsächlich der Medaillons Teil, mit dem Erd- Symbol darauf, zu sehen. «Das hat uns Ululala auch einmal gezeigt, das muss der Viertel sein!» rief Pia «auch die Gravuren, alles stimmt.» «Leider ist es aber nicht einfach zu diesem Artefakt zu kommen,» gab Sturmius zu bedenken. «Die Riesen sind sehr gefährlich. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um sie abzulenken und am besten überlegen wir uns auch gleich noch einen Plan, wie wir sie möglichst schnell wieder loswerden. Unser Dasein wird immer unerträglicher. Wir sind gezwungen hier in diesem dichten Wald zu leben, der zwar vielerlei Nahrung bietet, aber es lässt sich hier weder richtige Landwirtschaft noch Viehzucht betreiben. Das erschwert sehr unser Leben. Ausserdem ist es jedes Mal ein Risiko den Wald zu verlassen. Dabei müssten wir jetzt bald wieder zum Geburtshügel, dieser liegt ein ganzes Stück ausserhalb unseres Terrains. «Geburtshügel, was meint ihr damit?» «fragte Ben. «Es ist eine heilige Stätte, ein grosser Erdhügel, wo uns jeweils die Erdmutter erscheint, wenn wir ihr unser Blut opfern.» «Ich opfert euer Blut!» rief Pia erschrocken. «Nur ein paar Tropfen und dann gebärt uns die Erdmutter unsere Nachkommen. Es sind immer männliche Nachkommen. Unter den Zwergen gibt es keine Frauen und somit auch keine Möglichkeit, Kinder zu zeugen.» «Aber das ist ja schrecklich traurig!» rief Pia. «Wir leben schon seit Jahrhunderten so. Bisher war dies auch nie ein Problem. Aber jetzt, wo alles so gefährlich geworden ist, wissen wir nicht, ob wir den Geburtshügel jemals wiedersehen.» «Kommt gar nicht in Frage! Uns fällt sicher etwas ein!» rief Benjamin aus. «Wir werden uns jetzt einen Plan ausdenken, um diese Riesen loszuwerden.»
Sebius lächelte: «Ich habe von eurem Mut und eurer Entschlossenheit gehört. Eure Aufgabe ist sehr wichtig für das ganze Omniversum, nicht nur für die Verbannten. Das Medaillon ist ein viel mächtigeres Artefakt, als man sich vorstellen kann. Doch seine Kraft wird sich euch nach und nach erschliessen, wenn ihr es erst mal in euren Händen haltet.»
«Zuerst aber, müssen wir den zweiten Teil an uns bringen!» meinte Benjamin, dann wandte er sich erneut an Sturmius: «Du sagst der Viertel ist im Haus dieses Riesen- Paares?» «Ja, doch es ist zu gefährlich es zu holen, wenn sie daheim sind. Sie hätten uns schon mal beinahe getötet, das könnte euch auch passieren. Am Besten wäre, wir locken sie raus. Die Frage ist nur, wie genau. Und wie können wir sie loswerden? Am besten wäre natürlich, sie würden wieder dorthin verschwinden, wo sie hergekommen sind. Jenseits des grossen Meeres…» Er blickte versonnen in den abendlichen Himmel. Es begann bereits einzudunkeln. Dann meinte er: «Aber zuerst, ruht euch etwas aus. Wir können Morgen nochmals darüber nachdenken. Die Nacht bricht herein.» «Ihr dürft in meinem Haus übernachten, wenn ihr wollt!» bot ihnen Sebius an. Es ist das Grösste im Dorf und bietet gerade genug Platz für euch. Ich müsste einfach etwas den Kopf einziehen und die Betten sind etwas kurz geraten.» «Damit kommen wir schon klar!» gaben die Geschwister zur Antwort. «Hauptsache wir haben eine gute Bleibe für die Nacht. Wie ihr seht, sind wir noch immer etwas nass, von unserem Bad im Waldweiher. Wir mussten mit den Kleidern da rein, weil diese von den Schweinen so unglaublich schmutzig waren.» «Es sieht aus als hättet ihr einen anstrengenden Tag gehabt,» lächelte Sebius. «Vielleicht habe ich sogar ein etwas grösseres Nachthemd für euch, damit ihr eure Kleider, über Nacht am Feuer trocknen könnt.» «Das wäre natürlich ganz toll!» freuten sich die Kinder und folgten, nachdem sie Sturmius gute Nacht gewünscht hatten, dem Häuptling dankbar in sein gemütliches Haus. Ein warmes Feuer brannte im Kamin und der Boden war mit Fellen und Teppichen belegt. Die Betten waren weich und kuschlig.
Eine Weile sassen sie noch in ihren frisch gewaschenen Nacht-Hemden, welche vor allem Benjamin nur bis zu den Oberschenkeln reichten, am wärmenden Feuer und Sebius reicht ihnen einen nahrhafte Suppe aus Pilzen und Waldkräutern. Dazu assen sie frisch gebackenes Brot und tranken etwas Holundersirup. Sebius trug nun einen langen, gemütlichen Rock aus feinem, naturfarbenem Leinengewebe, welches mit einem breiten, roten Stoffgurt zusammengehalten wurde. Den roten Mantel trug er noch lose darüber. Die Mütze hatte er abgelegt, so dass man seine hell-silbernen Haare nun gut sehen konnte. Er besass ausserdem einen ziemlich langen Bart, der ihm bis über die Brust reichte. Seine Augen waren samt-braun und er war ein sehr freundlicher Mann.
«Es ist wirklich etwas ganz Besonderes, dass ihr hier bei uns seid,» sprach er an die Kinder gewandt. «Vor allem, weil ihr Menschen seid und bereits in so jungen Jahren die Gabe erlernt habt, durch die Welten zu reisen.» «Das haben wir zum grossen Teil unserem Meister Ululala aus dem Kristallreich zu verdanken. Doch auch sonst hatten wir immer viel Hilfe von den verschiedensten, wundervollen Wesen. Unter anderem auch von den Naturgeistern, aus fast allen Elementen.» «Ululala ist über die Grenzen aller Welten hinaus eine Legende,» sprach Sebius. «Dass ihr bei ihm lernen durfte ist eine grosse Ehre.» «Lumniuz war auch bei ihm in der Lehre.» «Ich weiss. Ich traf ihn einst im Gasthaus zum Goldenen Gral an und wir wurden Freunde, ebenso wie er und Sturmius. Wir Naturgeister treffen uns dort öfters. Daraus entstehen oft wundervolle Begegnungen.» «Das kann ich mir vorstellen.» meinte Pia bewegt. «Schade, dass die Welten noch immer getrennt sind.»
«Vielleicht werden sie das eines Tages nicht mehr sein,» meinte Sebius ernst. «Vielleicht wird sich alles bald ändern.» «Meinst du?» Benjamin horchte neugierig auf. «Hast du denn mal etwas, in die Richtung, in einer Vision oder so, gesehen?» «Tatsächlich hatte ich einst eine Art Vision der Zukunft. Doch wie es mit der Zukunft oft ist, wird sie jeden Tag, jede Minute, jeder Sekunde wieder neu geschrieben. Sie bleibt deshalb irgendwie immer etwas verschwommen, präsentiert sich oft in vagen, schwer deutbaren Bildern. Es sind die Gefühle, die mit diesen Bildern einhergehen. Es ist, wie ein Wissen, bei dem man jedoch nicht erkennt, woher es genau kommt, ob es überhaupt erst zu nehmen ist. In die Zukunft zu schauen, ist darum schwierig und… unberechenbar. Es gibt jedoch viele Aussagen in den Alten Schriften, dass eines Tages die Trennung der Welten nicht mehr sein wird. Ob dies jedoch gut für das Omniversum ist, wer weiss. Aber ich plappere zu viel Unsinn, vermutlich bin ich einfach müde. Ich sollte schlafen gehen. Morgen dann besprechen wir, wie mir mit den Riesen- Problem weiter verfahren sollen. Gute Nacht! Ich hoffe ihr schlaft gut!»