Pia und Benjamin waren beinahe etwas überfordert, von der ausführlichen Ansprache der Windfrau, doch es berührte sie sehr, dass sie scheinbar bereits so viele Dinge gelernt hatten. Tatsächlich standen sie heute an einem ganz anderen Punkt, als noch vor einigen Wochen, als sie damals ihre Reise, in ihrem heimatlichen Haus, angetreten hatten und das machte sie schon etwas stolz. Trotzdem… noch immer wussten sie nicht genau, wohin sie ihre Reise schlussendlich noch führen würde. Es war ihnen erneut, als gäbe es noch so viel mehr zu lernen, bevor sie ihre wirkliche Aufgabe, in ihrem ganzen Ausmass, zu erfassen vermochten. Benjamin fragte schliesslich. «Kannst du uns nicht etwas mehr zu dem sagen, was noch vor uns liegt, darüber was wir noch alles lernen müssen, bevor wir weitergehen können? Wo genau wird das enden? Was sind das für Dinge, die wir noch bewirken sollen? Man sagte uns schon so oft, dass es nicht allein darum geht, die Verbannten zurück zu holen und das Medaillon zusammenzusetzen. Es gibt alte Schriften, die scheinbar über uns berichten und darüber, dass wir einst dem Omniversum Frieden und Einheit bringen werden. Doch… wir wissen gar nicht wie das gehen soll. Bitte gibt uns einen Rat!»
«Ich kann euch nicht mehr offenbaren,» erwiderte die Windfrau knapp. «Aber das hilft uns überhaupt nichts!» rief Ben ungehalten. «Alle sagen das immer, aber wir haben keinen Plan, wie wir all das bewältigen sollen und zweifeln ehrlich gesagt wirklich daran, dass wir die sind, wovon die Schriften sprechen.» «Auch darüber kann ich euch leider nichts sagen.» «Das darf doch einfach nicht wahr sein!» begehrte nun auch Pia auf. Die Stimme der Mutter der Vier Winde wurde strenger: «Es ist nicht meine Aufgabe, euch eure Zukunft vorauszusagen und auch nicht meine Aufgabe, euch irgendwelche Lösungen oder Wahrheiten zu offenbaren. Konzentriert euch auf euren Weg und lernt erst einmal Geduld!
Bleibt einfach in der Nähe, ich werde euch im richtigen Moment erneut zu mir rufen!» «Aber… wollten die Geschwister protestieren, doch es war bereits zu spät. Ihr Geist wurde mit einer unglaublichen Macht vom Winde hinfort getragen und kurz darauf, fanden sich die Geschwister in ihren Körpern wieder.
Es war wie ein Schock! Eine Weile konnten sie sich kaum rühren. Ihre Körper fühlten sich unglaublich schwer an und waren von der Kälte und dem langen sitzen, ganz steif geworden.
«Ihr seid zurück. Dem Schöpfer sei Dank!» rief Malek, der ganz nahe bei ihnen sass und sie stellten fest, dass er sie in die Decken gewickelt und eine Art magische Schutzglocke über sie gebreitet hatte, welche aussah wie eine durchsichtig, schimmernde Kuppel. «Ich hätte diesen Zauber nicht mehr lange aufrechterhalten können,» meinte der Zauberer besorgt. «Ihr wart wirklich lange weg. Ich musste euch aber irgendwie warm halten. Darum sitze ich auch so nahe bei euch, damit ihr etwas von meiner Körperwärme abkriegt und die Decken auch wirklich ihren Zweck erfüllen. Ohne die Kuppel jedoch… ich weiss nicht, ob wir hier oben durchgehalten hätten. Wir sollten uns unbedingt einen besseren Unterschlupf suchen. Wenn es noch länger gegangen wäre, hätte ich eure Körper sowieso an einen sicheren Ort schaffen müssen. Vielleicht schauen wir uns mal die Höhle an, welche wir beim Aufstieg entdeckt haben. Dort könnten wir auch ein Feuer machen, das ging hier wegen dem starken Wind nicht. Ihr müsst bestimmt sehr hungrig sein. Wir können dann in der Höhle etwas Kleines kochen.» «Wie lange waren wir denn weg?» « Ungefähr anderthalb Tage und eine Nacht.» «Ach du meine Güte, so lange?» Die Geschwister reckten und streckten sich. Ihre irdischen Hüllen kamen ihnen, nach den herrlichen Erlebnissen im Reich der vier Winde, auf einmal wie ein Gefängnis vor. Sie spürten jeden Knochen und jeden Muskel, mit besonderer Intensität und tatsächlich hatten sie einen unglaublichen Hunger.
Pia erhob sich als Erste und sprach: «Das mit der Höhle scheint mir eine gute Idee zu sein! Herzlichen Dank Malek, dass du auf uns aufgepasst hast!» «Das ist gerne geschehen. Aber dafür konnte ich leider nicht mit euch kommen. Ich hätte das Luft- Reich auch sehr gerne gesehen. Aber ich dachte mir schon, dass ich vermutlich nicht die Voraussetzungen dafür erfülle.» Seine Augen blickten etwas betrübt. «Irgendwann wirst du das Reich der Windfrau bestimmt auch sehen,» tröstete ihn Pia. «Tja, wer weiss… Ihr müsst mir aber unbedingt erzählen, was ihr alles erlebt habt!» «Das machen wir, sobald wir an einem sicheren Ort sind,» gab Benjamin fröstelnd zur Antwort. «So wie es aussieht, müssen wir sowieso noch eine Weile hier in der Gegend bleiben. Die Windfrau meinte, wir müssen Geduld lernen und dass sie uns wieder kontaktieren werde, wenn sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen hält.» Die Stimme des Jungen klang bitter, als er das sagte und Malek sah in seinen Augen und den Augen seiner Schwester, dass sie ziemlich betrübt und enttäuscht waren. Er legte tröstend die Arme um die beiden Jugendlichen und zusammen machten sie sich auf den Weg hinunter zur Höhle, während die Sonne bereits wieder tief am Horizont stand.
Die Höhle erwies sich als ziemlich komfortabel und sogleich entzündeten die Freunde ein Feuer und assen etwas von ihrem Proviant.
Als die Geschwister satt und ihre Glieder wieder aufgewärmt waren, fühlten sie sich wieder einiges wohler und sie gewöhnten sich auch langsam wieder daran, in ihrem Körper zu stecken. Und doch… die Wunder des Luftreiches, ihre Herrlichkeit und Schönheit, klang noch immer tief in ihren Herzen nach. Nur etwas trübte die Freude, nämlich die letzten Worte der Windfrau…
«Ihr wirkt etwas traurig,» sprach Malek. «Warum ist das so? War es doch nicht so schön im Windreich, wie es in so manchen Erzählungen berichtet wird?» «Doch es war wunderschön, einfach unbeschreiblich…» erwiderte Pia verträumt und dann wieder bekümmert: «Aber die Alte Windfrau wollte uns die Gewänder der Klarheit nicht geben. Sie meinte, wie bereits Benjamin erzählte, wir müssten zuerst Geduld lernen…»
Die Kinder erzählten nun alles, was sich zugetragen hatte und auch das, was ihnen die Mutter der Vier Winde gesagt hatte. Malek hörte gebannt zu und meinte dann mitfühlend: «Ich kann mir gut vorstellen, dass euch diese Unklarheit, die noch immer über allem liegt, sehr belastet. Ich kann euch auch nicht mehr sagen, als dass ich auf jeden Fall an eurer Seite bleiben werde, bis die Windfrau ein Einsehen hat und uns die Gewänder überlässt. Ich bin sicher sie wird es tun, nur eben… es braucht wohl einfach etwas Geduld. Geduld war auch noch nie meine Stärke. Aber wir schaffen das schon!
Es ist oft so, dass wir mit aller Macht nach Antworten oder Lösungen, für all unsere drängendsten Fragen suchen und doch muss man manchmal den Dingen einfach ihren Lauf lassen und dann kommen die Antworten nach und nach an den Tag.» «Das hoffe ich!» meinte Benjamin immer noch unzufrieden. «Ich begreife einfach nicht, dass so ein hoher Geist, uns nicht mehr unterstützt, um die armen Seelen, die noch immer verbannt sind, zurück nach Hause zu holen. Wir brauchen einfach diesen Medaillons Teil, warum versteht sie das nicht?» «Ich glaube nicht, dass sie es nicht versteht. Gerade weil sie so ein hoher, alter Geist ist, weiss sie aber um die Macht der Geduld und des Vertrauens. Bestimmt folgt auch sie mit ihren Handlungen, nur ihrer Bestimmung, wie es alle hohen Geister tun. Wir sind manchmal einfach noch nicht bereit, das richtig zu verstehen. Verliert nicht den Mut, meine lieben Kinder. Alles wird sich bestimmt wundervoll fügen. So wie es einst eine Fügung war, dass ihr das Feuer der ewig göttlichen Liebe zu mir gebracht und damit meine Seele gerettet habt.»
Doch Benjamin liess sich gerade nur schwerlich trösten, er war so frustriert, wie schon lange nicht mehr und meinte nach dem Essen: «Ich glaube, ich lege mich jetzt erst mal etwas aufs Ohr, vielleicht geht es mir Morgen dann wieder besser.» «Mach das!» meinte Malek «es wird dir guttun. Pia, auch du solltest bald schlafen gehen! Ich bleibe noch etwas auf und kümmere mich um alles.» Pia nickte, denn sie merkte, wie die Müdigkeit und die schlechte Laune, auch an ihr zehrte und so legte sie sich, wie ihr Bruder auf das in der Höhle hergerichtete, Lager. Auch wenn es nicht sonderlich bequem war, schliefen die Kinder ziemlich schnell ein. Malek lauschte auf die, immer regelmässiger werdenden Atemzüge der Geschwister, dann erhob er sich leise seufzend und verliess die Höhle, um im nahe gelegenen Bergbach das Geschirr abzuwaschen.
Er war auch sehr nachdenklich. Es stimmte ihn traurig, die Kinder so niedergeschlagen zu sehen. Eigentlich hatte er selbst auch etwas mehr vom Besuch bei der Alten Windfrau erwartet. Er verstand die Geschwister gut. Sie hatten schon so viel erlebt, so viele Prüfungen bestanden und Kämpfe ausgefochten und nun schien alles irgendwie zum Stillstand zu kommen. Dennoch tief im Herzen wusste er, dass alles so vermutlich seine Richtigkeit hatte. Denn ein alter Geist wie die Windfrau, tat niemals etwas ohne triftigen Grund. Er schaute hinauf zum Berggipfel, wo noch immer ein starker Wind blies und murmelte:
«Ich hoffe nur, du machst es den Kindern nicht allzu schwer, grosse Windfrau, sie haben das nicht verdient.» In diesem Augenblick wehte ein heftiger Windstoss durch seine Haare und wirbelte diese wild durcheinander. Und dann glaubte Malek auf einmal eine leise Stimme zu vernehmen, die durch den Wind zu ihm sprach:
«Es wird ihnen nur das auferlegt, was sie auch zu tragen vermögen, nur keine Angst! Bleib du einfach an ihrer Seite und höre stets auf den Ruf in deinem Herzen!» Malek lauschte auf die Stimme, die zu ihm sprach und wandte sich dann nach innen. Und… auf einmal liefen Tränen über seine Wangen. Es waren jedoch keine Tränen der Trauer, sondern der Rührung. Seine Bitte war erhört worden. Bestimmt würde jetzt alles gut werden!
Er dachte bei sich: «Ich muss Pia und Benjamin unbedingt Zuversicht vermitteln und ihren Glauben darin stärken, das alles gut ist wie es ist. Dass der Weg oftmals wichtiger ist, als das Ziel und die Antworten, zum richtigen Zeitpunkt, zu ihnen kommen werden!» Zufrieden und immer noch bewegt, erhob er sich, kehrte in die Höhle zurück, versiegelte deren Eingang noch mit einer magischen Schutzbarriere und dann legte er sich auch etwas hin.