In der Unterwelt- Das Zentrum
Während Malek sich mit der alten Gottheit Balorion auseinandersetzen musste, waren Pia und Benjamin tatsächlich an ein finsteres Ufer angeschwemmt worden. Als sie wieder zu sich kamen, schauten sie als erstes in einen flammend roten Himmel, der von schwarzen Rauchwolken durchzogen war. Laute Schreie und Kriegsgeräusche, drangen an ihre Ohren und unnatürliche Blitze, zuckten über das Firmament. Sie richteten sich auf und stellten mit Erleichterung fest, dass sie nicht weit voneinander entfernt, angeschwemmt worden waren. Ihr Kopf dröhnte noch und sie schaute zuerst, ob alles an ihnen heil geblieben war. Es schien aber ganz so, als hätten die Gewänder ihren Zweck erfüllt. Überall lagen Teile von Schiffswracks herum, einige gehörten zu ihrem Schiff, doch da waren noch viele mehr. Es musste wohl schon so manchen Kahn an diesen gefährlichen Untiefen gescheitert sein. Kein Wunder, denn überall gab es im Wasser scharfe eng, beieinander liegende Riffe und auch der Uferbereich selbst, war mit seinen steilen Klippen, nicht etwa einladender.
Die Geschwister erhoben sich und während sie sich gegenseitig leicht stützten, blickten sie den steilen Felsen entlang, nach oben. Dort erkannten sie eine Art Stadtmauer, aus pechschwarzem Gestein, die durchzogen war mit Adern aus dem grellen Feuer, welches schon im Inneren des Infernos, das sie vor kurzem durchquert hatten, gelodert hatte.
Die Atmosphäre hier war unglaublich schwer und man konnte die Verderbnis, richtig körperlich spüren. «Es sieht ganz so aus, als ob wir tatsächlich im Zentrum der Unterwelt angelangt wären,» sprach Benjamin, vorsichtshalber in Gedanken, zu seiner Schwester und merkte dabei, wie ihm das Atmen schwer fiel. «Wenn wir nur wüssten, was mit Malek passiert ist. Wir könnten ihn jetzt wirklich gut gebrauchen. Ich habe nur noch gesehen wie er… gegen dieses schreckliche, quallenartige… Ding gekämpft hat, aber dann traf mich der Mast und seitdem weiss ich nichts mehr.»
«Mir erging es ebenso.»
«Wir müssen versuchen, Malek mit unserem Geiste aufzuspüren. Wenn er… noch lebt, dann sollte das möglich sein. Aber gerade sitzen wir etwas zu sehr auf dem Präsentierteller. Wir sollten uns aufmachen, und einen Weg nach oben suchen.»
«Meinst du, es gibt überhaupt einen Weg?» «Irgendwo muss es einfach einen Zugang geben. Schauen wir doch mal nach.»
«Aber…, wenn man uns entdeckt?»
«Wir müssen einfach sehr vorsichtig sein. Vielleicht reiben wir uns noch etwas mit dieser verkohlten Erde hier ein, dann fallen wir möglicherweise weniger auf.»
Als die Geschwister sich Gesicht und Hände, mit dem aschenartigen Dreck, der hier überall herumlang, eingerieben hatten, machten sie sich vorsichtig, von Deckung zu Deckung schleichend, auf den Weg.
Schreckliches, dämonisches Kreischen, war nun über ihren Köpfen zu vernehmen. Sie duckten sich und beobachteten, wie hunderte von dunklen, transparenten Geistern, aus allen Himmelrichtungen, zum Zentrum der Unterwelt strömten: Verdorbene Seelen, die von dieser tiefsten Schwingung im Omniversum angezogen wurden, weil sie entweder sehr boshaft oder sehr verblendet waren.
Es gab auch schreckliche, schwarze Vögel, wie sie einstmals um Maleks und Skarions Schlosszinnen gekreist waren und andere, teils drachenartige, monströse Kreaturen, welche ebenfalls ihre Kreise über der verderbten Festung der Unterwelt zogen.
«Wir müssen schauen, dass diese fliegenden Schrecken, uns nicht entdecken!» meinte Benjamin. «Sonst ist der Herr der Unterwelt schon vorgewarnt, dass wir kommen.»
«Ich denke, das ist er sowieso. Wir mussten unsere Tarnung schon oft aufgeben, um uns in diesen Elendsgefilden zu behaupten.»
«Dennoch… er weiss nicht genau wo wir sind. Wir sollten uns möglichst weit von unserem Strandungsort entfernen und versuchen, uns irgendwie in diese Stadt hinein zu schleichen.» «Ich hoffe, es gelingt uns.»
«Wir müssen es einfach versuchen, möge uns das Göttliche beistehen!»
Sie gingen noch ein Stück über die kahlen, hier wahrlich leblosen Steine und schliesslich erblickten sie einen sehr schmalen, steilen Pfad, der nach oben führte. Es war eigentlich nur ein Trampelpfad. Doch das kam ihnen gerade recht, so wurde sie weniger schnell entdeckt. Erstaunlicherweise begegneten sie auf diesem Pfad niemandem, was sie schon etwas erstaunte.
Der Aufstieg war sehr anstrengend, besonders weil die Atmosphäre hier so vergiftet war. Schliesslich, kamen sie endlich oben an und fanden sich wieder auf einer der breiten, schwarzen Mauern, die sie vorhin erblickt hatten. Sie duckten sich hinter einen überhängenden Felsvorsprung und blickten sich um. Unter ihnen lagen die von Verderbnis und Bosheit brodelnden Tiefen der Teufelsstadt. Sie war anders als die üblichen, königlichen Städte nach abwärts gebaut. Lag also in einem Art Kessel.
Die äussersten Mauern waren die höchsten und je weiter es hineinging, umso tiefer unten lagen die Mauern und Gebäude. Ganz tief unten, befand sich eine kohlrabenschwarze Festung. Dies musste der Sitz des Herrn der Finsternis sein. Zwischen dem äussersten Mauerringt, auf der sich die Geschwister befanden, und dem nächsten Ring, befand sich ein Art Burggraben, mit Lava darin, welche in Kaskaden, hinunter in den nächsten Ring stürzte, sich dort in viele Kanäle aufteilte, welche die ganze Stadt durchzogen. Überall trieben sich schreckliche, dämonischen Kreaturen herum und es gab auch kämpfende Heere, welche sich gegenseitig immer wieder in die Lavaflüsse und Lavafälle schubsten. Es war ein entsetzlicher Anblick. «Alles hier ist erfüllt von Hass und Angst!» sprach Pia. «Ich hoffe nur, wir überstehen das. Wie um alles in der Welt sollen wir an diesen Medaillonsviertel gelangen?»
«Das weiss ich auch noch nicht, doch wir müssen, wohl oder übel, einen Weg finden.» «Aber wie denn bloss? Da stehen wirklich überall Wachen!»
Tatsächlich war es so, wie es die Chroniken beschrieben hatten. Die Stadt war stark befestigt. Es konnte weder etwas Unerwünschtes hinein noch hinausgelangen. Die verschiedensten Dämonen, trieben überall ihr Unwesen. Einige stachelten das Kriegsgeschehen noch an, das sich zu den Füssen der Geschwister abspielte oder begingen sonst allerlei Untaten.
Es gab aber auch noch andere, bleiche Kreaturen, mit sehnigem, menschlichem Körperbau. Sie besassen ausgemergelte Gesichter, strähnige, lange Haare und grossen schwarzen Flügel, welche aus Federn bestanden, die scharf wie Dolche waren.
Diese trugen alle lange Geisseln, teilweise Sicheln, Dolche oder Schwerter in ihren, mit langen Nägeln bewehrten, Händen. Viele von ihnen patrouillierten auf den Mauern, jedoch auch im Inneren der Stadt.
Die Geschwister blickten nach vorne. Ein Stück weiter unten, befand sich eine breite Brücke, die über den Lavagraben führte. Auf dieser Brücke tummelten sich sehr viele Seelen. Auch dort standen die blassen Wächter, vorwiegend Wächterinnen und fielen über einige, der Ankommenden her. Sie schlugen sie mit den Geisseln oder ihren Händen, schrien laut und zogen ihnen an Haaren und Kleidern. «Was sind das nur für Bestien?» fragte Benjamin zornig. «Keine Ahnung! Sie wirken, als ob sie die Neuankömmlinge bestrafen wollten. Sind das vielleicht die Rachegeister, von denen uns Malek erzählte?» Ihr Blick wanderte wieder hinauf zur Mauer, auf der sie sich befanden.
Gerade wollte einer der gehörnten Dämonen, mit glühenden Augen und schwarzer, lederner Haut, den Umkreis der Stadt verlassen. Doch eine der weiblichen Wächterinnen, mit den Dolchflügeln, holte kreischend mit ihrer Geissel aus; diese schlang sich um das Bein des Dämonen. Ruckartig zog die Wächterin an der Geissel und riss den Finsterling wieder auf den Boden hinab. Von dort schleuderte sie ihn, mit einem Fusstritt, zurück in den Abgrund, aus dem er gekommen war.
«Sie lässt auch keine dieser schlimmen Kreaturen hier raus,» meinte Pia, irgendwie beeindruckt von der Kraft und Entschlossenheit der Frau.
«Ja, immerhin etwas. Nur… werden diese Wächter es uns auch umso schwerer machen, in die Stadt hinein zu gelangen. Wir müssen irgendwie versuchen, an ihnen vorbei zu schleichen.»
«Da hinten würde eine Treppe hinunterführen.»
«Aber die Treppe ist streng bewacht. Vielleicht können wir irgendwo an der Mauer hinabklettern.»
«Aber da läuft überall Lava runter.»
«Wir tragen ja die Gewänder der Klarheit, damit können wir, zumindest einer kleinen Menge Lava trotzen.
«Meinst du?» «Ja komm, dort hinten könnte ein guter Platz sein, um hinab zu klettern.» «Nun gut, versuchen wir es!»
Sie wollten sich gerade in geduckter Haltung auf den Weg machen, als in ihrem Bewusstsein auf einmal eine, ihnen nur allzu bekannte Stimme erklang. «Pia, Benjamin! Wo seid ihr?»