In der Unterwelt- Der Rachegeist
«Malek!» entfuhr es Pia «er lebt!»
Unfassbare Freude ergriff die Geschwister und sie setzten ihren Dialog mit Malek, in ihren Gedanken, fort: «Malek! Du hast es also tatsächlich geschafft? Das ist ja wundervoll, das grosse Licht sei gepriesen! Wir sind nun im Zentrum der Unterwelt angekommen und versuchen irgendwie ungesehen zum Herrn der Finsternis zu gelangen. Aber das gestaltet sich ziemlich schwierig. Da hat es so viele Wächter, überall kämpfen irgendwelche Seelen gegeneinander und Monster und Dämonen gibt es ebenfalls in rauen Mengen. Es ist alles so, wie du es in den Chroniken gelesen hast.»
«Ja und da sind auch noch so bleiche Kreaturen, mit schwarzen Flügeln, die allen die Hölle heiss machen.»
«Tragen sie Geisseln bei sich?»
«Ja, aber auch noch andere Waffen.»
«Vermutlich sind das die Rachegeister. Ziemlich ungemütliche Gestalten. Ihr solltet besser auf mich warten, ich habe in den Tiefen des Blut- Meeres, unerwartete Verbündete gefunden. Aber ich erzähle euch alles später. Wir sind auf dem Weg zu euch und werden etwas für Verwirrung sorgen. Dann könnt ihr vielleicht sogar unentdeckt in den Palast des Herrn der Finsternis gelangen und den Medaillonsviertel stehlen.» «Das klingt gut, dann suchen wir uns mal ein einigermassen sicheres Plätzchen und warten auf dich! Es ist so gut, dich wieder an unserer Seite zu wissen!»
Sichere Plätzchen gibt es hier bei uns nicht wirklich!» erklang auf einmal eine unheimliche, heisere Frauenstimme. Die Geschwister drehten sich wie gelähmt um und vor ihnen stand eine der blassen Wächterinnen! Sie schaute die beiden mit einem durchdringenden Blick, aus ihren, in tiefen Höhlen liegenden, schwarzen Augen, an. Ihre dunklen Flügel schlugen bedrohlich. Schwarze Tätowierungen überzogen ihren Körper und sie trug einen schwarzen Kriegs- Wams, der gegen unten in einem kurzen Rock endete. Ihre Beine steckten in hohen Stiefeln, die an der Fussspitze jedoch offen waren und kleine Krallen freilegten. In ihrer knöchernen Hand trug sie eine der üblichen Geisseln und an ihrem Gurt, steckte ein langer Dolch. Sie war eine furchterregende Erscheinung und jagte den Kindern Schauder, um Schauder, über den Rücken. «Woher weiss sie, was wir gerade mit Malek in Gedanken besprochen haben?» fragte Pia auf telepathischem Wege zu ihrem Bruder.
«Ich kann, im Gegensatz zu Dämonen und dem Herrn der Finsternis, eure Gedanken lesen,» sprach die Wächterin. «Die bessere Frage jedoch ist…» ihre Stimme wurde leiser, bedrohlicher «was haben solche wie ihr, hier unten zu suchen?»
Die Geschwister schwiegen jedoch beharrlich, sie wollten keinesfalls ihre Pläne verraten.
Doch dann widerhallte die Stimme der Wächterin in ihrem Kopf: « Soso, ihr wollt also zum Herrn der Finsternis? Ihr wollt ihm… einen Medaillonsviertel stehlen oder etwas in der Art. Ihr lebt aber noch und… ihr habt scheinbar ein reines Herz. Das ist euer Glück. Denn Seelen mit reinem Herzen, fügen ich und meinesgleichen kein Leid zu.»
«Dafür quält und verängstigt ihr die anderen Seelen, die hierherkommen!» erwiderte Ben vorwurfsvoll.
«Glaub mir, sie haben es verdient!»
«Niemand hat so etwas verdient.»
«Doch, denn sie sind freiwillig hergekommen, sei es aus reinster Bosheit oder auch aus Verblendung und wir sind dafür zuständig, sie hier in Schach zu halten.»
«Aber… ich dachte, es gibt keine wirkliche Verdammnis,» sprach Pia
«und dass das göttliche Licht niemanden richtet oder ihn irgendwelchem Leid ausgesetzt sehen will.»
«Das göttliche Licht, kann gar nicht bis hierher vordringen. Die Seelen, die in den innersten Kreisen landen, sind zu verstockt. Sie sind gar nicht durch das Licht zu erreichen, ausser sie entscheiden sich umzukehren und wenn sie das wirklich tun, dann lassen wir sie ziehen. Auch Rache dauert nicht ewig. Nur so lange, wie die verblendeten Seelen an ihrer Uneinsichtigkeit festhalten.»
«Aber ihnen wird hier auch von Dämonen Leid zugefügt. Es gibt Krieg und andere Gräuel da unten. Und es gibt einen dunklen Herrscher, der alle unterjocht.»
«Es können nur jene unterjocht werden, die nicht selbst über ihr Schicksal entscheiden können oder wollen. So lange es Seelen gibt, die den finsteren Pfaden folgen und zu ihren finsteren Herrschen aufschauen, so lange können diese finstern Herrscher auch ihre Macht erhalten. Angenommen alle hier, würde auf einmal einsichtig werden und diesen… Herrschern keine Aufmerksamkeit mehr zukommen lassen… Die Herrscher würden ihre ganze Macht verlieren.
Ihr Kinder aber, seid keine dunklen Geister. Euer Licht leuchtet weit umher, ich habe euch deshalb auch entdeckt.»
«Wirklich?» rief Pia erschrocken, «aber dann haben uns sicher auch schon andere entdeckt.»
«Nein, niemand ausser meinesgleichen, weil sie euch gar nicht sehen können.»
«Sie sehen uns nicht?»
«Richtig, ihr strahlt zu hell, sie können euch nicht sehen.»
«Tatsächlich?» freute sich Benjamin «und niemand wird uns aufhalten oder uns Leid zufügen?»
«So ist es. Allerdings bedenket: Meinesgleichen sehen euch und auch der Herr der Finsternis tut das.»
«Aber ich dachte er ist der höchste der Dämonen? Warum sollte er uns dann sehen?»
«Er ist kein einfacher Dämon, obwohl ihn seine Bosheit bereits bis zur Unkenntlichkeit entstellt hat. Aber einst war er von hohem Blute. Darum kann er euch nach wie vor sehen.» «Das ist aber ziemlich beunruhigend.»
«Ihr werdet es dennoch versuchen, habe ich recht?» fragte die Frau nun auf einmal etwas freundlicher.
«Ja, wir können jetzt nicht aufgeben, jetzt da wir schon bis hierhergekommen sind.»
«Etwas anderes habe ich auch nicht von euch erwartet. Ihr scheint fest entschlossen. Nun, für mich gibt es keinen Grund, euch von eurer Mission abzuhalten.»
«Dann bist du gar nicht so böse, wie wir bisher dachten?»
«Böse bin ich nur zu jenen, die Böses getan haben oder tun. Aber ihr gehört nicht dazu. Wenn ihr wollt, kann ich euch hinunter zum Palast des dunklen Herrschers bringen.»
«Du willst uns helfen? Aber der Herr der Finsternis wird dich bestrafen, wenn er dahinterkommt.»
Die Wächterin lachte nun laut auf. «Ihr verkennt meine Rolle hier, nach wie vor. Ich muss mich nicht vor dem Herrn der Finsternis fürchten, er muss sich vielmehr vor mir und meinesgleichen fürchten, denn auch er kriegt unsere Rache noch immer zu spüren. Er glaubt Herrscher über dieses Reich zu sein, doch ist seine Macht null und nichtig. Er ist selbst ein Gefangener. Ein Gefangener der zwar besondere Begabungen hat und dadurch viele Getreue um sich scharen konnte, doch er bleibt ein Gefangener. Hier gibt es keine wirkliche Freiheit, dessen seid euch stets bewusst!»
Die Geschwister blickten den Rachegeist erstaunt an. Das was sie da erfuhren war so ganz anders, als sie es sich bisher vorgestellt hatten und sie spürten, wie sie immer mehr die Furcht vor dem Bösen hier, verloren. Denn so lange sie sich ihr inneres Licht bewahrten, so lange, konnte ihnen nicht wirklich etwa passieren.
«Dann kannst du uns also da runterbringen?» hakte Ben deshalb nach.
«Ja, das kann ich. Aber mehr kann ich nicht für euch tun.»
«Das reicht schon vollkommen! Vielen Dank!» Die geflügelte Wächterin nickte, dann packte sie die Geschwister ohne jegliche Schwierigkeiten um die Hüften und flog mit ihnen los, hinunter in die infernalischen Tiefen, des innersten Höllenkreises...!