London, 2184
Wie eine schwarze, mit Edelsteinen geschmückte Hure lag sie da, glänzend und schimmernd, doch bei genauem Blick sah man, wie alt sie war, verbraucht, billig, sich unter einem Schleier versteckend, der einem etwas weismachen sollte, was nicht da war. Diese Stadt der Dekadenz, in der sich diejenigen, die es sich leisten konnten, der Sünde und der Völlerei hingaben, während die, denen dieses Leben verwehrt geblieben war, in den Straßen um jeden Bissen kämpfen mussten. Diese Stadt der Langeweile, in der die Zerstreuung keine Abwechslung brachte, weil die Vielfalt das war, was ewig gleich blieb. Dieses neue London hatte viel und doch gar nichts zu bieten.
Der Vampir wandte sich von dem Fenster seines Wohnzimmers ab, das sich hoch über die Straßen erhob, in einem Penthouse eines der vielen aus dem Boden gewachsenen Hochhäuser gelegen, die mit stählernen Brücken und schwindelerregenden Gehwegen verbunden waren. Wer es sich leisten konnte, hoch oben zu leben, der war jemand, denn die frische und kostbare Luft, die weit unten in den Straßen nurmehr eine dicke Brühe war, musste man sich teuer, sehr teuer, erkaufen. Der Mann seufzte in den menschenleeren Raum. Der Krieg hatte die Welt verändert. Nicht nur ihre Gesellschaft war erneuert worden, auch die Linien der Landkarten hatten sich verschoben. Ganze Teile von Kontinenten waren den Wassermassen der Ozeane zum Opfer gefallen, Inseln wie Island gehörten schon lange der Vergangenheit an und auch London war in den Fluten der Themse versunken, als die Schleusenanlagen an deren Mündung den steigenden Meeresspiegel nicht mehr hatten abhalten können.
Sehenswürdigkeiten, die der Vampir selbst noch mit eigenen Augen hatte bewundern können, gab es nicht mehr und neue Generationen von jungen Leuten würden diese nur noch aus Geschichtsbüchern kennenlernen. Doch das war der Preis dafür, wenn man selbst zu einem Relikt der Zeit geworden war.
Man sah, wie Dinge entstanden und sie Geschichte wurden. Es war leidvoll gewesen zu sehen, wie die Welt, die er gekannt hatte, zu brennen begann und die Dummheit und das Machtdenken der Sterblichen alles zerstörte, was zuvor jahrhundertelang bestanden hatte. Wie die Menschheit sich selbst auslöschte und Milliarden in den Tod riss, ob durch die direkte Gewalt des Krieges, Hunger, Seuchen oder Verzweiflung.
Der Vampir hatte alles verloren, da war nichts mehr, was ihm Halt geben konnte. Weder seine über Jahrhunderte so sehr geliebte Zuflucht, die ihm Frieden in stürmischen Zeiten gegeben hatte, noch die Personen, die seine Freunde gewesen waren. Das Zuhause war ihm genommen worden, die Menschen und das Leben, das er geliebt hatte. Froh war er nur darüber, dass er es nicht mehr hatte miterleben müssen, wie sich seine Rasse in den Untergang katapultierte.
»Du machst dir viel zu viele Gedanken, Henry!«
Der Unsterbliche schloss die Augen und rammte die Fingernägel in die Handfläche, so fest ballte er die Fäuste zusammen. Die Stimme in seinem Kopf war die eines alten Mannes, doch das Bild vor seinem geistigen Auge zeigte noch immer das Gesicht eines Jugendlichen mit langen schwarzen Haaren und neckischen braunen Augen, die ihn aufzuziehen schienen, wann immer sie ihn anblickten.
Ja, es war gut gewesen, dass die Zeit ihn geholt hatte, bevor die Welt in Flammen aufgegangen war. So hatte er nicht miterleben müssen, wie die Stadt seiner Kindheit in Trümmern lag, die Zuflucht, für die sie beide gekämpft und geblutet hatten und sich am Ende beinahe verloren hätten.
Nun war es nur noch der Vampir selbst, der diesen Umstand beweinen konnte. Und was machte es schon, wenn dies so war. Das ganze Leben des Unsterblichen war ein einziges Trauerspiel gewesen, gefolgt von einer Tragödie, einem Verlust nach dem anderen, dem Blut Unzähliger an seinen Händen und der Last dieser Schuld auf seinen Schultern. Er sollte Gott danken für dieses eine Leben, das er gehabt hatte, an der Seite des einzigen Menschen, für den er jemals den Mut aufgebracht hatte, um bis zum unvermeidbaren Ende bei ihm zu bleiben.
Über einhundert Jahre waren seither vergangen. Die Welt hatte sich verdunkelt, war schlecht geworden, laut und doch leise, stumm und überbordend vor Gerede. Und mittendrin in dieser Ödnis aus Leben und Verzweiflung trieb er wie ein Ertrinkender, der kein Land und keine Erlösung in Sicht hatte.
Wieder wandte sich der dunkelhaarige Vampir zum Fenster hin, riss es auf und trat auf die Terrasse. Es war Nacht geworden und der Wind heulte um das Gebäude. Das typische englische Wetter, das er achthundert Jahre lang gekannt hatte, war etwas Neuem gewichen. Der übliche Regen hatte einem Nebel Platz gemacht, der oft so hoch stieg, dass man weit unten in den Straßen der Stadt, in der sich nur die Ärmsten der Armen aufhielten, kaum noch Luft bekommen konnte.
Die neue City von London ragte aus diesem Schleier aus Dunst heraus wie die abstrakten Fingernägel eines unsichtbaren Monsters tief unter der Oberfläche. Eines, das sich nach und nach auszugraben versuchte, aber daran gehindert wurde, weil die Menschen es gebannt hatten in einem Netz aus stählernen Brücken und Passagen hoch in der Luft, die sich vernetzten mit Treppen, Leitern und Stangen. Die Türme waren alle miteinander verbunden. In ihnen spielte sich nun das Leben ab, wie es vor einhundert Jahren am Boden stattgefunden hatte.
Da der Großteil der alten Stadt versunken war, war das neue London weiter nördlich wieder errichtet worden und grenzte nun im Süden an den neuen Verlauf der Themse, die um ein Vielfaches an Breite zugenommen hatte. Die grünen Lungen, die den Moloch einst mit etwas Luft und Naturgefühl versorgt hatten, wie der Hyde Park, Kensington Gardens oder Hampstead Heath, waren zu undurchdringlichen Sümpfen geworden, in denen heutzutage niemand ohne Schusswaffe einen Fuß setzen würde. Kreaturen, die es früher in Englands Breiten nicht gegeben hatte, fand man inzwischen dort und sie waren eine Gefahr für Mensch und Tier.
Diese City war nun das neue Herz Londons, es war mechanisch, künstlich und kalt und schlug laut und dröhnend, doch es lebte und die Menschen hatten es sich von der zerstörten und rachsüchtigen Natur zurückerobert. Die jungen Leute, die an den Wochenenden zuhauf über die Brücken eilten, um in Clubs oder andere Etablissements zu gehen, lebten so, als würden sie das Morgen nicht mehr erleben, sie saugten alles in sich auf, waren laut, lebhaft, liebten und lachten stürmisch. Sie suchten in der Kälte der Stadt nach einem Funken Wärme. Und warum hätte der Mann auf dem Balkon es ihnen verübeln sollen?
Das Leben hier war hart genug, die Tage für die einfachen Arbeiter und Angestellten lang, die Bezahlung oft schlecht. Er verglich es gern mit der Zeit, in der er noch ein Junge gewesen war.
Damals hatte es noch keinen Glitzer gegeben, man lebte nicht in Häusern, die man im 21. Jahrhundert nur in Sciencefiction-Filmen gesehen hatte und eilte nicht über schwindelerregende Straßen aus Gitterstahl. Doch auch damals hatte es die Menschen gegeben, die hart arbeiteten, um sich am Abend mit ein paar Kameraden einen hinter die Binde zu gießen. Ohne an die Zukunft zu denken oder an den nächsten Tag.
In dieser Stadt, die aufgemacht war wie eine orientalische Dirne und ihre Hässlichkeit hinter Glitter, Schleiern und Täuschung verbarg, konnte das Leben morgen bereits vorbei sein, denn es hatte hier keine Bedeutung.
Gewalt, Verbrechen und die Not vieler waren für jeden sichtbar, der es sehen wollte. Und manchmal sogar, wenn dies nicht gewünscht wurde. Es konnte kaum anders sein, wenn über die Hälfte derer, die London ihr Zuhause nannten, weit unten am Bodensatz der Gesellschaft lebten – von der Hand in den Mund, übersehen, als Nutztiere ausgebeutet, oft schlecht bezahlt und bettelarm. Neid und Missgunst wurden durch jene geschürt, die mehr als genug hatten und dieses verschwenderisch und mit vollen Händen ausgaben. Es war eine Scheinwelt aufgebaut worden, in der es nur Wohlstand, Schönheit und Jugend gab, alles glitzerte und in der das Schlechte etwas war, das man nur auszublenden bräuchte, damit es aufhörte zu existieren.
Der Vampir schüttelte den Kopf. Die Menschheit würde sich niemals ändern. Bereits vor neunhundert Jahren, als sein Leben begonnen hatte, war sie schlecht gewesen. Und sie hatten in fast einem Jahrtausend nicht dazugelernt. Noch immer wurden die wenigen Reichen auf einem Sockel getragen, der von tausenden der Armen gehalten wurde. Und wen die Kraft verließ, der wurde aussortiert und ersetzt. Es gab ja schließlich genug andere.
Der Unsterbliche hasste es. Hasste diese Stadt, dieses Dasein, diese Gesellschaft, diese Zukunft, die auf das wunderbare Leben gefolgt war, das er gehabt hatte. Er hasste sich selbst dafür, dass er keinerlei Interesse hatte, etwas daran zu ändern. Weder an den Menschen noch an seinem oder ihrem Leben. Es war dem Vampir gleich. Sein Dasein hatte den Sinn bereits an dem Tag verloren, als das Liebste, das er auf der Welt gehabt hatte, ihn für immer verlassen und der Vampir den weißgoldenen Ring, der ihm gehörte, zurückerhalten hatte, bevor er unter die Erde gekommen war.
Gedankenverloren strich der dunkelhaarige Mann mit dem Daumen über eben dieses Schmuckstück, das er zusammen mit seinem eigenen am Ringfinger der rechten Hand trug. Überhaupt war der Vampir nur noch hier, weil er damals ein Versprechen gegeben hatte.
»Selbst wenn ich nicht mehr bin, ist mir die Vorstellung einer Welt, in der es dich nicht mehr gibt, unerträglich.«
Er hatte versprochen, am Leben zu bleiben. Für ihn. Der Vampir hatte geglaubt, dass er sich eines Tages daran gewöhnen würde, wieder allein zu sein, vielleicht irgendwann jemand Neues zu finden, den er lieben konnte. Denn so hatte er es sich gewünscht. Doch niemand hatte damit gerechnet, dass eine Welt, in der es nur noch ihn gab, für den Vampir selbst zu einem unerträglichen Ort werden würde.
Wen sollte er lieben können? Einen dieser Groupies, die sich ihm zu Füßen warfen, weil er ein Vampir war? Die ihm billig ihre Gesellschaft anboten, ihr Blut, ihren Körper? Die in der Hoffnung, etwas von seiner Unsterblichkeit zu erhalten, alles tun würden, wonach ihm der Sinn stand?
Er hasste sie allesamt, diese Bagage. Und diese Vampire, die sich in der Bewunderung der Menschen sonnten, sich feiern ließen wie Filmstars der 1940er Jahre und meinten, Wunder wer zu sein, nur weil jemand versäumt hatte, ihnen nach dem Leertrinken den Hals umzudrehen. All diese Blutsauger waren jung und dumm, kannten die Last der Vergangenheit nicht und scherten sich einen Dreck darum. Sie waren entstanden in den Wirren des letzten Krieges, als andere Vampire in ihnen leichte Opfer gesehen hatten, um ihren Hunger zu stillen.
Der Weltenbrand hatte nicht nur bei den Menschen große Wunden in der Bevölkerung hinterlassen. Vampire waren rar geworden. Die Alten, die, die einst die Clans geführt und die Gesetze aufrecht erhalten hatten, hatten sich dem Freitod ergeben, weil sie diese neue Welt nicht erleben wollten, müde waren vom Zank und dem Hass der Menschen. Andere waren im Bombenhagel umgekommen. Geblieben waren nur die jungen, die das Blitzlichtgewitter, die Anbetung und die Faszination der Sterblichen genossen und ihr Blut verkauften, damit die Menschen ihr kümmerliches Leben um einige Jahre verlängern konnten. Die sich zur Ader bitten ließen für Pharmakonzerne und die Kosmetikindustrie, als wären sie Vieh auf einer Weide.
Und geblieben war er selbst, Dionysos, der vermutlich letzte wirklich alte Vampir. Um ihn rissen sich die Menschen. Doch nicht, weil sie ihn so charmant fanden, denn dazu müssten sie zuhören, was er zu sagen hatte. Und was er sagte, war nichts, was seinen Charme steigerte.
Daran hatten die genusssüchtigen Oberschichtler jedoch kein Interesse. Niemand wollte sich von Dingen belasten lassen, die ernsthafter waren als das nächste Dinner. Sie hatten genug von Krieg und Leid, stattdessen wollten sie Laster.
Keiner wollte daran erinnert werden, dass die Menschen vor einhundert Jahren mit ihrer Zerstörungswut die Welt an den Rand des Unterganges gebracht und Atombomben ganze Länder dauerhaft verseucht hatten. Kontinente waren zu Wüsten geworden und Inselstaaten im Meer versunken, weil durch den Krieg und die damit einhergehende Zerstörung der Natur das Klima drastisch umgeschlagen war. Es gab keinen Schnee mehr in Grönland, keine Polkappen und die Antarktis war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Annähernd fünf Milliarden Menschen waren dem Weltenbrand und seinen Spätfolgen zum Opfer gefallen, doch davon wollte die neue Generation nichts hören. Sie hatte sich arrangiert mit der Welt, wie sie nun war und wollte von der Vergangenheit nichts mehr wissen. So war es auch nach den ersten beiden Weltkriegen gewesen. Der dritte hatte einen verheerenden Schlag gemacht, nicht nur gegen die Menschheit, sondern auch gegen die Erde selbst. Einen weiteren würden sie alle mit dem endgültigen Untergang bezahlen.
Der Vampir konnte den Gedankengang der Sterblichen sogar verstehen. Sie hatten die Kämpfe nicht miterlebt, sie waren keine Zeitzeugen, denn es waren einhundert Jahre vergangen.
Sie kannten nur die Welt, wie sie nun war und waren es gewöhnt. Und niemand wollte das Kriegsgeschwafel eines Greises hören, auch wenn er nicht wie ein alter Mann aussah. Sie wollten etwas von seinem Glanz, den er trotz der Tatsache auszustrahlen schien, dass er meist missgelaunt war, als exzentrisch und eigenbrötlerisch galt, grob war und fürchterlich melancholisch.
Dionysos war kein Partyvampir. Die Gesellschaften gab er dennoch, obwohl er an ihnen keinen Spaß finden konnte. Sie erfüllten den einfachen Zweck, dass der Tisch an jungen und gesunden Kehlen immer reich gefüllt war. Der Vampir hatte erst in diesem Jahrhundert wieder angefangen, Menschenblut zu trinken. Es war leichter zu bekommen als das, was er zuvor jahrhundertelang verzehrt hatte, denn es gab in diesem Moloch keine Wälder, die ihn flüsternd einluden, sie zu durchstreifen und in ihnen nach kräftigem Wild zu jagen. So hatte er sich für den Weg des geringsten Widerstandes entschieden und nutzte sie aus, die Gelegenheit, dass diese einfältigen jungen Leute es liebten, sich mit Vampirbisswunden zu zeigen. Diese kleinen Narben oder auch blutsaugende Sexpartner wurden gesammelt wie die Kinder im 21. Jahrhundert Pokemon-Karten gesammelt hatten. Dionysos seufzte erneut, wandte sich ab von dieser schönen neuen Welt und schloss das Fenster hinter sich.